Wildnis, ein Spaziergang?
Moräne am Bächligletscher, Schweiz Fotografie von Niklas Eschenmoser
Was ist Wildnis und wo erlebt man sie heute noch? Der Versuch, in der urbanen Wohnumgebung der Berner Agglo einen Überrest davon zu finden.
Wildnis. Finde mal Wildnis, mitten in einem grossen Dorf, das der Einwohner*innenzahl nach eigentlich schon eine Stadt ist! Was gibt es denn noch Wildes, wenn der Mensch bereits überall seine Häuser und Blöcke, Strassen und Leitungen hingebaut hat?
Nun selbst in der Grossstadt findet sich hie und da noch etwas Wildnis. Und auch in diesem grossen Dorf wurde ich fündig. Am Dorfrand sieht man in den Dämmerstunden ab und zu ein Reh mit seinen Jungen. Und selbst im Dorfkern lässt sich etwas Wildnis entdecken: Blumen, die nicht in Reih und Glied, sondern wild verstreut, auf den sauberen Rasen wachsen. Singvögel, die ihre Nester zum Trotz in den brav gepflegten Bäumen bauen. Enten, die vom Verkehr ungestört auf ihrem Stein mitten im Flüsschen sitzen. Sowieso sind Vögel wahrscheinlich die eine Tierart, die auch in der grössten Grossstadt noch wild bleibt. Mal abgesehen von den Ratten, Mäusen und Käfern. Denn die Vögel besitzen etwas, dass der Inbegriff von Freiheit impliziert: Flügel, um zu fliegen. Mit ihnen können sie sich unbehelligt von den menschgemachten Häusern, Strassen, Staumauern, Zuggleisen und Betonflächen fortbewegen. Vögel sind nicht an den Boden gebunden. Selbst wenn der Fluss, indem die Ente schwimmt, vom Menschen gezähmt und eingezwängt wird, kann sie doch einfach davonfliegen.
Vögel fliegen fort und enden nicht als überfahrene Rehe auf der Autobahn.
Klar, der Mensch beeinflusst auch die Lebensweise der Vögel; die Bäume und Wiesen für Nahrung und Verstecke werden rarer. Die Scheiben der glänzenden Hochhäuser verwirren und töten manchen und auch die Lichtverschmutzung stört den fein-abgestimmten Rhythmus der Natur. Doch können sich Vögel dem etwas widersetzen; sie können fortfliegen, enden nicht als überfahrene Rehe auf der Autobahn.
Allerdings, die Wildnis hat auch ihren Preis. Dadurch, dass die Amsel wild und frei von einem Baum zum nächste fliegen kann, nicht eingesperrt oder angekettet ist, ist sie eben auch den, manchmal brutalen, Gesetzmässigkeiten der Natur ausgesetzt. Solch ein Ereignis spielte sich kürzlich in meinem Garten ab. Jeden Tag beobachtete ich ein Amselweibchen und ein Amselmännchen, die eifrig Nahrung sammelten und sie wohl ihren Jungen brachten. Eines Tages sass ich draussen auf der Terrasse und arbeitete, als plötzlich eben dieses Amselweibchen direkt neben meinen Tisch flatterte.
Erstaunt blickte ich auf, doch dann erfasste ich die Situation sofort. Das Amselweibchen war verletzt, und wenige Meter entfernt kam siegesgewiss eine Katze angeschlichen, die sich gerade ein zweites Mal über ihre Beute hermachen wollte. Mit Klatschen und Fauchen verjagte ich die Katze. Das Amselweibchen, durch meine Laute erschrocken, hatte sich mühsam auf einen tiefliegenden Ast des nächsten Baumes gerettet. Es zitterte am ganzen Körper. Nachdenklich beobachtete ich das arme Geschöpf. Was konnte ich denn tun? Fliegen konnte es nicht mehr, nur noch mühsam flatternd hüpfen. Aber einfangen machte auch keinen Sinn. Schweren Herzens überliess ich die Amsel ihrem Schicksal.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie überlebt? Und was wird aus ihren Jungen? Später an diesem Tag sah ich das Amselmännchen, das im selben Baum sitzt und, so scheint es mir, verzweifelt nach seiner Partnerin ruft. Sie ist verschwunden. Die Natur ist brutal. Das ist eben Teil dieser Wildnis, die oft vergessen geht. Natur heisst auch, den Dingen ihren Lauf zu lassen, fressen und gefressen zu werden.
Allerdings fällt die Brutalität der Natur nur noch dem aufmerksamen Beobachter auf, oder der Katzenbesitzerin, deren Katze regelmässig Mäuse und Vögel nachhause bringt.
Die Wildnis ist ohne Frage zurückgewichen, ja weggedrängt worden. Die Natur ist gezähmt, niemand fürchtet sie mehr. Auch die Landschaft hat ihre «Wildheit» verloren. Überall sieht man Häuser und Strassen, kaum eine grüne Fläche ist mehr da. Abgesehen von den obligatorischen Rasenstreifen, welche die Betonblöcke säumen, und vereinzelt ein Feld, Überrest einer Landwirtschaftsgesellschaft, die schon lange dem Dienstleistungssektor gewichen ist. Auch das Feld ist keine Wildnis. Es ist gezähmte Natur. Allerdings lebt sie dort noch etwas und ist nicht verschwunden, wie dies beim Bau von Häusern, Sportplätzen und Einkaufszentren der Fall ist. Der Bauer lebt immerhin noch ein bisschen mehr im Einklang mit der Natur, im Gegensatz zum durchschnittlichen Arbeitsmenschen.
Wildnis hat ihren Preis.
Ein Hinweis darauf, dass der Mensch seinen Bezug zur wilden Natur verloren hat, ist schon der Titel dieses Textes. Wildnis und Spaziergang im gleichen Atemzug zu nennen ist an sich schon paradox. Wildnis ist gefährlich, Wildnis ist rau, Wildnis ist ungeplant, chaotisch, überraschend, lauernd, auch wunderschön, atemberaubend, überwältigend und aufregend. Keines dieser Adjektive würde ich mit einem Spaziergang in Verbindung bringen. Um echte Natur zu erleben, kann man nicht spazieren gehen, dafür muss man wandern, oder fahren, ein Abenteuer unternehmen. Auf die Gipfel der Alpen wandern, die Flüsse und Seen ertauchen, tief in die Wälder hinein, mit einem Auto, zu Pferd oder zu Kamel durch Wüsten, Steppen, Wälder gehen. Vielleicht mit der Transsibirischen Eisenbahn durch die rauen Weiten Russlands fahren. Spazieren in der Wildnis, in der unberührten Natur ist gefährlich. Man könnte gefressen werden wie der Vogel. Oder sich verirren, sich verletzen, verhungern, und vieles mehr. Echte, tiefe, weite, unberührte Wildnis, ist kein Ort zum Spazieren.
Und doch findet sich eben ein schwacher Abglanz dieser Wildnis selbst in der grössten Grossstadt wieder. Weil die Natur doch nicht vollumfänglich zurückzudrängen ist. Man hört von den verschiedensten Tieren, die sich an ein Leben mit dem Mensch gewöhnen; Grossstadttiere, die sich dem Rhythmus der Stadt anpassen und doch ihre Wildheit behalten. Tauben, die auf den Hausdächern ihre Nester bauen. Füchse, die sich vom Abfall der Menschen ernähren
Echte, tiefe, weite, unberührte Wildnis, ist kein Ort zum Spazieren.
Auch in der Schweiz gibt es ab und zu grössere Tiere, die sich ihren Lebensraum zurückholen: Der Wolf, der sich von den Schafen der Bauern ernährt oder der Marder, der die Autokabel durchknabbert. Dies erinnert mich an den Roman von Franz Hohler «Die Rückeroberung». Er sagt in einem Interview zu diesem Buch «Wir blenden die Natur zu stark aus und leben in einer künstlichen Welt.» Ist das so? Und werden wir bald erleben, wie sich der Spiess umdreht und nicht mehr wir dir Natur verdrängen, sondern sie uns? Wohl eher unwahrscheinlich. Heute und morgen jedenfalls werde ich mich an dem Stück Wildnis in meinem Garten erfreuen – und manchmal erschrocken feststellen, dass das verklärte Bild von unberührter Natur und Wildnis auch seinen Preis hat.