Wenn anders sein normal ist

Illustration: Lisa Linder

12. Dezember 2021

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Ist Inklusion nötig? Gedanken zum Thema im Kontext der Schule.

Der Begriff Inklusion war für mich ein Fremdwort, über dessen Bedeutung ich mir keine Gedanken gemacht hatte, bis dieser eines Abends an unserem Familientisch fiel. Eines unserer Familienmitglieder begann das Studium in Heilpädagogischer Früherziehung, was dazu führte, dass ich ganz nebenbei an den Begriff Inklusion herangeführt wurde. Spätestens als ich für das Herbstquartal eine Stellvertretung als KBF-Lehrperson antrat, war in mir das Interesse für diese Thematik geweckt.

Inklusion ist in der Schweiz verpflichtend. Nachdem die UNO an der Generalversammlung 2006 die Rechte von Menschen mit Behinderungen in New York verabschiedet hat, verpflichtete sich das eidgenössische Departement des Innern am 15. April 2014 mit dem Beitritt zum Übereinkommen dazu, «…die Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, sie gegen Diskriminierungen zu schützen und ihre Inklusion und ihre Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern.»

Illustration: Lisa Linder

Seitdem sind insbesondere auch die Bildungsinstitutionen angehalten, «…die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule mit entsprechenden Schulungsformen zu fördern.» So werden viele Kinder heute nicht mehr in eine KBF-Klasse eingeteilt, sondern von Beginn an in eine Regelklasse integriert. Dies ist für Lehrpersonen trotz Unterstützung von Heilpädagog*innen und Klassenhilfen eine grosse Herausforderung, auf die manch eine*r nicht gerade begeistert reagiert. Dies nicht ohne Berechtigung.

Integration vs. Inklusion

Was bedeutet nun denn Inklusion? Als ich mich damit auseinandersetze, stosse ich auf unterschiedliche Ansichten und hitzige Diskussionen, welche von Utopie bis hin zu «…den schönsten pädagogischen Visionen» reichen. Immerhin teilen sich die Fachkundigen die Ansicht, dass Begriffe wie Partizipation, Teilhabe, Chancengleichheit, um nur ein paar wenige zu nennen, zu Inklusion gehört und sich nicht auf die Schule beschränkt, sondern die gesellschaftlichen Bereiche einschliesst.

Grafik: konsumentenfragen.at

Als Neuling in der Inklusionsdebatte scheint mir, dass wir in der Schweiz, zum Beispiel im Vergleich zu Deutschland, etwas hinten nachhinken. Es wird im Schulkontext oft von Integration und selten von Inklusion gesprochen. Die detaillierte Unterschiedlichkeit zu erfassen und auszubreiten, sprengt den Rahmen dieses Artikels. Was sich hingegen per Internetsuche leicht finden lässt, ist obenstehende Abbildung, um eine kleine visuelle Ahnung davon zu erhalten. Meiner Interpretation zu Folge, sind unsere Schulen vor allem mit Separation und Integration beschäftigt.

Früh lernt sich, was später gilt

Meiner Meinung nach braucht es in unserem aktuellen Schulsystem noch ziemlich viele Veränderungen: Es ist sonnenklar, dass es bei Inklusion in die Regelklasse andere Betreuung braucht als in einer «normalen» Regelklasse. Natürlich kann eine Lehrperson den Bedürfnissen einer inklusiven Regelklasse nicht gerecht werden. Ja, es braucht Anpassung und Unterstützung damit Inklusion umgesetzt werden kann. Sicher benötigt es mehr als eine Lehrperson im Klassenzimmer, mehr als zwei, drei Lektionen mit einer Heilpädagogischen Fachkraft pro Woche. Natürlich braucht es mehr finanzielle Ressourcen und ist schwieriger, als wenn einfach alle Schüler* innen, die anders sind, zusammen in eine KBF-Klasse gesteckt und damit separiert werden. Ja, es ist bei Weitem nicht der einfachste und erst recht nicht der kostengünstigste Weg. Aber stellt euch vor, wie unsere Gesellschaft aussähe, wenn es uns gelingt, Inklusion von der Kita, Spielgruppe, Kindergarten, Unter/Mittelstufe bis zur Sekundarstufe ja sogar darüber hinaus, bis hin zur Universität möglich zu machen!

«Es braucht Anpassung und Unterstützung damit Inklusion umgesetzt werden kann.»

Die Schüler*innen würden von der Wiege an erleben, dass es völlig normal ist, mit und ohne Behinderung am Alltag teil zu haben. Es würden junge Erwachsene werden, welche es als selbstverständlich ansehen würden, dass ein Bankangestellter im Rollstuhl sitzt, eine CEO in Gebärdensprache ihr Geschäft führt, eine Kellnerin mit Trisomie 21 das Essen serviert. Es wäre eine Gesellschaft, in der Anderssein normal ist. In der anders sein keine Behinderung für den Alltag in der Gesellschaft darstellt.

Ist das eine Utopie oder «die schönste pädagogische Vision»?

Schule in der Pflicht

Es liegt an uns Lehrpersonen, mit welcher Haltung wir unsere Schülerinnen und Schüler prägen. Es liegt an der Institution Schule, ob sie bereit ist, und letztlich am Bildungsdepartement, das Nötige zu investieren und den Weg zu gehen, der Inklusion möglich machen kann. Inklusion beginnt bereits heute in Kitas Realität zu werden, obwohl es mehr Aufwand bedeutet.

Es gibt bereits heute ausserschulische Institutionen, die bereit sind, in die Inklusion zu investieren. Es ist an der Zeit, dass die Institution Schule auf diesen Zug aufspringt und beginnt, die Schüler*innen von heute für die Gesellschaft von morgen zu prägen. Einer Gesellschaft, in der anderssein normal ist. Ist Inklusion nötig? Lassen wir doch diese Frage das nächste Mal von einer betroffenen, von der Gesellschaft be_hinderten Person beantworten…

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