Vom Hörsaal auf die Strasse
«Bildung statt Bonzen»: Ende März protestierten rund 1300 Personen aus der ganzen Schweiz in Bern. bild: manu friedrich
«Bildungsaufstand» in der Schweiz, besetzte Unis in Frankreich, Studierendenstreik in Rumänien: Gleich in mehreren Ländern protestieren Studierende gegen Bildungsabbau und Selektion. Weshalb?
Die französische Regierung hatte ihre Reform bereits durchs Parlament gebracht, als die Proteste einsetzten. Es begann Mitte Februar, zuerst in Nantes, später in Toulouse, Bordeaux, Rennes, Paris. Studierende bestreikten Vorlesungen, gingen auf die Strasse. Dann versammelten sie sich an der Uni, diskutierten, kochten, übernachteten in Hörsälen. Zeitweise waren in ganz Frankreich knapp 20 Universitäten «blockiert»: Statt dem regulären Unterricht finden in einzelnen Universitätsräumen Vollversammlungen mit teilweise über tausend Studierenden statt. Daneben gibt’s selbstorganisierte Seminare, Diskussionsrunden und gemeinsame Abendessen.
Der Protest richtet sich gegen eine umstrittene Hochschulreform (genannt «ORE»), die ein neues Zulassungsverfahren zum Studium vorsieht. Mit der Reform soll der Zugang zur Universität zum ersten Mal Bedingungen unterworfen werden. Zwar gibt es in Frankreich einen harten Wettbewerb um die Plätze an Elitehochschulen, für andere Unis genügte bisher die Matura. Bei zu grossem Andrang entschied das Los darüber, wer wo studiert.
Zu befürchten sei eine «doppelte Schliessung» der französischen Hochschulbildung.
Nun sollen alle ein Bewerbungsdossier einreichen, das einzeln geprüft wird. Gegner*innen kritisieren, dass das Gesetz die Chancengleichheit untergrabe und soziale Ungleichheiten verstärke. Zu befürchten sei eine «doppelte Schliessung» der Hochschulbildung, meinte beispielsweise die Soziologin Sophie Orange in der französischen Zeitschrift «Politis». Einerseits erhöhe das Gesetz die Zugangshürden, was zu einer weiteren Homogenisierung der Studierendenschaft führen könne. Andererseits führe das Gesetz zu einer verstärkten Orientierung der Studienwahl an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts. Und schliesslich sei die Prüfung der Dossiers mit einer kaum zu bewältigenden Arbeitslast für Dozierende verbunden – oder mit Willkür.
Die Regierung sieht das anders. Sie argumentiert, dass das Gesetz den einzelnen Universitäten erlaube, eine «bessere» Zuteilung vorzunehmen: «Das Ziel ist es, die Quote von 60% der Schüler zu senken, die bereits im ersten Studienjahr ihr Studium abbrechen», meinte etwa die Bildungsministerin Frédérique Vidal in einem Interview mit «Ouest France». Das Gesetz führe nicht zu mehr Selektion, sondern zu einer «angemesseneren» Verteilung der Studierenden auf die verfügbaren Studienplätze.
Breite Allianzen in der Schweiz
Nicht nur in Frankreich, auch in der Schweiz kam es diesen Frühling zu Protesten. Unter dem Motto «Bildungsaufstand» demonstrierten im März schweizweit Studierende, Schüler*innen und Lernende gegen Bildungsabbau und für unabhängige Bildungsinstitutionen. Geboren wurde die Bewegung vergangenen November an der «Langen Nacht der Kritik» in Basel, an einem Vernetzungstreffen gegen Studiengebührenerhöhungen. Insbesondere Leute aus Bern, Basel, Zürich und Freiburg nahmen daran teil, aus den Städten also, in denen Gebührenerhöhungen angekündigt waren.
Später schlossen sich weitere Gruppen dem Protest an, auch aus dem Tessin und der Romandie. Damit verbreiterte sich der politische Fokus zusehends von den Studiengebühren hin zu Bildungsabbau und Ökonomisierung im Allgemeinen. Entstanden ist das dreisprachige Bündnis Aktion_Bildung, das sich aus elf bildungspolitischen Organisationen zusammensetzt und auch nach den Protesten diesen Frühling fortbestehen will.
Am Montagmorgen stellten sie goldene Tore vor den Eingängen ihrer Schulhäuser auf.
In Bern begann die Aktionswoche im März unter dem Motto «Bildung ist kostbar». Schüler*innen der Gymnasien Neufeld und Kirchenfeld führten eine «fiktive Sparübung» durch. Am Montagmorgen stellten sie goldene Tore vor den Eingängen ihrer Schulhäuser auf. Sie trugen Anzug und Krawatte – und verlangten von ihren Mitschüler*innen Semestergebühren. Mit der Aktion wiesen sie darauf hin, dass finanzielle Zugangshürden in Zukunft auch sie treffen könnten. Sie schrieben: «Wir haben selber miterlebt, wie unsere Freifächer verschwanden, Klassengrössen sich fast verdoppelt haben und musische Fächer abgebaut wurden.» Diesmal seien sie verschont geblieben – umso wichtiger sei es, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren. Wenig begeistert zeigte sich dagegen der Rektor des Gymnasiums Kirchenfeld. Trotz Medienpräsenz verbot er die Aktion nach kurzer Zeit. Denn die Schüler*innen hatten keine Bewilligung eingeholt.
Auch in anderen Städten tat sich was. In Basel und Zürich gab es ein Protest-Zmittag, in Luzern eine Aktion vor dem Regierungsgebäude. In Lausanne wurden die Rektorate von Uni und EPFL kurzzeitig besetzt. Im Verlaufe der Woche folgten Podiumsdiskussionen, Kundgebungen und Aktionen in Freiburg, Genf, Bellinzona, Liestal und Basel.
Am Samstag traf man sich schliesslich in Bern zur gemeinsamen Demonstration. Sichtbar wurde an diesem Nachmittag die Vielfalt der Menschen, die von den gegenwärtigen Umstrukturierungen im Bildungsbereich betroffen sind. Da waren beispielsweise die Neuenburger*innen, die sich für den Erhalt ihrer Musikhochschule einsetzen. Da waren die Tessiner*innen, die gegen die Kürzung ihrer Stipendien protestierten. Und da war eine Gruppe von Geflüchteten, deren Vertreter seine Situation eindrucksvoll schilderte: «Wenn eine asylsuchende Person auf ihren Entscheid wartet, dann kann das ein Jahr oder zwei Jahre oder mehr dauern und die Möglichkeiten für Bildung sind gleich null.» Nicht alle Asylsuchenden hätten das Glück, eine Schule zu besuchen. Ob im Asylzentrum Deutschkurse angeboten werden, sei weitgehend von Freiwilligen abhängig.
Die unternehmerische Universität
Es scheint fast, als bringe dieser Frühling einen Hauch von 1968 zurück an die Hochschulen Europas. Denn nicht nur in Frankreich und der Schweiz, auch in Rumänien gehen Studierende gegenwärtig auf die Strasse, um gegen Stipendienkürzungen zu protestieren. In Grossbritannien streikten im März Dozierende während mehreren Tagen, weil ihnen Rentenkürzungen drohen. Ob dies Zufall ist, darüber lässt sich streiten. Sicher ist, dass die Proteste von einem europäischen Hochschulraum zeugen, der sich zurzeit stark verändert.
«Universitäten verstehen sich zunehmend als Unternehmen, die zueinander in Konkurrenz um ‹gute› Studierende, Drittmittel oder Rankingplätze stehen»
Er beobachte gegenwärtig eine marktwirtschaftliche Neuausrichtung der europäischen Hochschulbildung, meint der Basler Soziologe Peter Streckeisen auf Anfrage. «Universitäten verstehen sich zunehmend als Unternehmen, die zueinander in Konkurrenz um ‹gute› Studierende, Drittmittel oder Rankingplätze stehen», sagt der Soziologe. Er beschreibt diesen Prozess als «Managerialisierung» oder «Ökonomisierung» der Bildung. Momentan gehe es eigentlich nicht darum, die Studierendenzahlen zu senken und damit die Bildungsexpansion rückgängig zu machen – obwohl Zugangshürden wie Studiengebühren diesen Effekt haben könnten: «Die EU-Kommission sagt: Wir brauchen mehr Studierende. Aber wir brauchen die richtigen, diejenigen mit den nützlichen Kompetenzen.» Gut ausgebildete Fachkräfte seien für europäische Volkswirtschaften ein zentraler Wettbewerbsfaktor. Deshalb würde auch weiterhin staatlich in Bildung investiert. Eine eigentliche Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens, wie er dies in den 90er-Jahren befürchtet habe, sei nur in einem sehr geringen Masse geschehen, beispielsweise mit der Zunahme von gesponserten Lehrstühlen.
Weitaus gravierender als Privatisierungen im engeren Sinne ist für Peter Streckeisen also die Ökonomisierung der öffentlichen Bildungseinrichtungen – und die ist auch für Studierende spürbar. Massenstudiengänge, die auf Effizienz getrimmt werden, Dozierende, die vor lauter Drittmittelerwerb und Projekt-Management kaum mehr Zeit für die Lehre haben, aber auch die stückweise Ausrichtung von Lehrinhalten nach den Wünschen der Privatwirtschaft: Das sind Dinge, die uns auch in Zukunft beschäftigen werden. Wie genau, darauf darf man gespannt sein. Spätestens seit diesem Frühling ist die Politik allerdings gewarnt: Ohne Nebengeräusche werden solche Veränderungen vermutlich nicht gelingen.
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Dieser Text erschien in der bärner studizytig #12 Mai 2018
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