Sinkende Stipendienzahl: Das Parlament sieht keinen Handlungsbedarf
«Die Lage der Studierenden hat sich verschlechtert.» Der VSS-Vorstand Lionel Burri am Tag der Parlamentsdebatte auf dem Bundesplatz. bild: lia zehnder
Obwohl immer weniger Studierende Stipendien erhalten, soll der Bundesrat keinen Bericht über das Stipendienwesen verfassen. Der Nationalrat hat einen entsprechenden Vorstoss abgelehnt. Beim Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) kritisiert man den Entscheid.
Wie entwickeln sich die Stipendien in der Schweiz? Kann die Chancengleichheit gewährleistet werden? Oder braucht es zusätzliche Massnahmen? Ende September forderte die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur mit einem Postulat eine Antwort auf diese Fragen vom Bundesrat. Doch der Nationalrat lehnte den Antrag ab: Der Bundesrat wird bis auf weiteres keinen Bericht über die Stipendiensituation verfassen. Im Parlament wurde argumentiert, dass es noch zu früh sei, Bilanz zu ziehen. Ausserdem würde vieles bereits heute vom Bundesamt für Statistik dokumentiert.
Hintergrund der Debatte sind die hohen kantonalen Unterschiede im Stipendienwesen. Ein Beispiel: Wer im Kanton Solothurn wohnt und an der Uni Bern studiert, hat fast doppelt so gute Aussichten auf ein Stipendium wie ein_e im Kanton Bern wohnhafte_r Student_in. Während 2017 im Kanton Solothurn 9 Prozent der Studierenden ein Stipendium erhielten, waren es im Kanton Bern gerade mal 5 Prozent. Trotz mehrjähriger Harmonisierungsbemühungen der Kantone im sogenannten Stipendienkonkordat sind die Unterschiede nicht nur bei der Stipendienzahl, sondern auch bei der Stipendienhöhe nach wie vor enorm: Im Kanton Waadt, dem grosszügigsten Kanton, ist die durchschnittliche Stipendienhöhe mit 10’000 Franken doppelt so hoch wie im Wallis.
Innerhalb der letzten zwölf Jahre ist die Zahl der Stipendienbezüger_innen schweizweit um elf Prozent gesunken und die Zahl der Studierenden um 26 Prozent angestiegen
Mit der Ablehnung des Postulats bekräftigt der Nationalrat seine zögerliche Haltung gegenüber dem Harmonisierungsprozess. «Der Bericht des Bundesrats wäre der erste Schritt gewesen, um Schlussfolgerungen aus dem Konkordat zu ziehen, weitergehende Massnahmen zu treffen und das Stipendiensystem zu stärken», meint Lionel Burri vom Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS). Er hat bei den Parlamentarier_innen aktiv für das Postulat lobbyiert. Am Tag der Debatte stand er mit einer Delegation des VSS vor dem Bundeshaus und verteilte den vorbeihuschenden Parlamentarier_innen Informationsblätter. «Innerhalb der letzten zwölf Jahre ist die Zahl der Stipendienbezüger_innen schweizweit um elf Prozent gesunken und die Zahl der Studierenden um 26 Prozent angestiegen, gleichzeitig haben sich die studentischen Einkommen nicht wesentlich verändert», sagt Burri. «Die Lage der Studierenden hat sich verschlechtert.»
Ähnlich argumentiert Jochen Tempelmann von der SUB. Er spricht von einem «löchrigen System». Dem Vorstand seien Fälle von Studierenden bekannt, die nach einem Wohnortswechsel ihr Anrecht auf ein Stipendium verloren haben, weil die Vergabekriterien kantonal variieren. Der Sozialfonds der SUB müsse jährlich rund 50 Studierende unterstützen, die in finanzielle Not geraten sind. Es komme immer wieder vor, dass Studierende bei der SUB anklopfen, weil sie aufgrund eines Wohnortswechsels oder wegen der langen Bearbeitungszeiten durch kantonale Ämter Probleme mit ihrem Stipendium haben. «In jedem System fallen vereinzelt Personen durch die Maschen», sagt Tempelmann. «Doch bei 50 Personen, die jährlich vom Sozialfonds unterstützt werden müssen, kann man nicht mehr von Einzelfällen sprechen.»
Bis heute sind Studierende, deren Eltern in einem akademischen Beruf oder im oberen Kader arbeiten, an der Uni deutlich übervertreten: Gegenüber dem Durchschnitt der Bevölkerung ist es mehr als doppelt so wahrscheinlich, dass ein Kind studiert, wenn eines oder beide seiner Elternteile dieser Berufsgruppe entstammen. Stipendien sind ein wichtiges Instrument, um diese Ungleichheit zu bekämpfen. Gemäss Angaben der interkantonalen Stipendienkonferenz ermöglichten erst Förderquoten von 15 bis 20 Prozent allen Gesellschaftsschichten Zugang zur nachobligatorischen Bildung. Heute liegt diese Quote bei 7,3 Prozent. Für mehr Chancengerechtigkeit müsste das Stipendienwesen also massiv ausgebaut werden. Der jüngste Entscheid des Nationalrats weist in eine andere Richtung.
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Dieser Text erschien in der bärner studizytig #13 Oktober 2018
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