Durchatmen, Kraft tanken

Der Raum der Stille lädt zum Durchatmen und Runterfahren ein. Bild: zvg
Ein Rückzugsort, um Kraft zu tanken. Gemeinsam oder allein, mit sich selber oder einer höheren Instanz im Dialog – ein Träumchen? An der Unitobler ist der «Raum der Stille» dieses Herbstsemester Realität geworden. Er bietet allen religiös und säkular ausgerichteten Menschen rund um die UniBe einen Ruheort.
Erste Eindrücke
Meine aufgeregte Hand drückt die Türklinke runter. Die Tür öffnet sich leise und ohne grosse Mühe. Der Raum ist menschenleer. Ich blicke auf eine Farbpalette aus Holztönen und erdendem Beige. Die Lüftung rauscht kontinuierlich.
Ich stehe in einem länglichen Raum, etwas weiter links der Mitte. In dieser Raumhälfte fallen gleich die zwei Baststühle auf, die sich einladend gegenüberstehen. Zwei leere Regale an den Wänden links im Raum geben der weissen Fläche etwas Inhalt und zeitgleich den Eindruck, dass hier Platz ist. In der Mitte des Raums zwischen den Fenstern baut ein langes Regal eine Trennwand zur rechten Seite auf. In dieser Raumhälfte liegen beige und crèmefarbene Teppiche auf dem Boden. Hätte ich meine Schuhe nicht schon vor der Tür ausgezogen, wäre ich dem Impuls spätestens jetzt nachgegangen. Die flauschige Insel lädt ein, auf ihr Platz zu nehmen.
Mein Blick wandert zu den Vorhängen, die gedämpftes weiss getünchtes aber dennoch genug Licht in den Raum lassen. Vorbeigehende Passant*innen malen Schatten an die Wände.
Ich setze mich auf die Teppichinsel. Insgesamt säumen vier Lampen die weiche Fläche, alle verbreiten leicht gelbliches, warmes Licht. Der Raum lädt zum Verweilen und Sein ein.
Das anfänglich laute Rauschen der Lüftung hat auf mich eine mittlerweile mehr meditativ beruhigende Wirkung. Ich schliesse die Augen und atme tief durch.
Weshalb braucht es Rückzugsorte der Stille?
Mir persönlich hilft Meditation. Seit wann Menschen meditieren ist unklar. Auch in welcher Kultur damit begonnen wurde, lässt sich schwer sagen, da es verschiedenste Meditationsströmungen gibt. Innerhalb von etwa hundert Jahren von ca. 500 vor bis 500 nach Christus, entstehen in Indien, China, Griechenland und Japan eigene Meditationsrichtungen.
Unabhängig von der Strömung werden positive Effekte von Meditation vermutet, so etwa bei der Emotionsregulation und dem Körpergespür. Durch regelmässiges Meditieren verbessert sich möglicherweise nicht nur das Bauchgefühl gegenüber eigenen Einstellungen und Körperempfindungen, sondern durch mehr Achtsamkeit im Alltag auch die Intuition für ein Gegenüber. Im Gespräch ist eine systematische Desensibilisierung gegenüber negativen Affekten festzustellen, was so viel bedeutet wie sich weniger von negativen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Dieser Zustand führt hin zu einer Zunahme von Mitgefühl, Offenheit und der typischerweise mit Meditation assoziierten Gelassenheit.
Für Gebete werden ebenfalls positive Effekte vermutet. So lässt sich ein Gebet als eine innere Haltung verstehen, in der sich ein Mensch sammelt und vom restlichen Alltag abgrenzt. Diese Praxis kann zu einem Gefühl führen, anstehende Dinge bewältigen zu können. Ausserdem wird neben der genannten Ressourcenaktivierung von Beten als «Coping-Strategie», also Problemlösefertigkeit, gesprochen. Hier kann welch immer höhere Instanz für die betende Person eine Bindungsfigur repräsentieren. Dieser Bezugsperson kann ich mich anvertrauen und in der allmächtigen und immer verfügbaren Präsenz Kraft finden.
Welcher Weltanschauung auch immer angehörig: Es liegt auf der Hand, dass die UniBe mit dem Raum der Stille an Wohlfühlfaktor gewinnt. Der Raum der Stille ermöglicht spontanes Meditieren und Beten oder blosses Stille geniessen. Diese Chance auf Ruhe verbessert die Lebensqualität der Uniangehörigen. Studierende und Mitarbeitende haben unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit oder eben auch Nicht-Zugehörigkeit nun die Möglichkeit, neben gemütlichen Getränkepausen in den Cafeterien auch einen Rückzugsort zu besuchen, der weit ab von der üblichen Schnitzeljagd von einem Unigebäude ins Nächste liegt.
«Es ist eine Herausforderung der heutigen Gesellschaft, dieser Pluralität Rechnung zu tragen.» Jil Kiener, Koordinatorin Raum der Stille
Im Dialog
Der Raum der Stille ist auf Initiative verschiedener religiöser und säkularer Hochschulgruppierungen entstanden. Jil Kiener koordiniert das Projekt «Raum der Stille». Die Notwendigkeit für so einen Raum sieht sie in der zunehmend religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft: «Deshalb ist eine Herausforderung der heutigen Gesellschaft, dieser Pluralität Rechnung zu tragen. Dazu gehören auch physische Räume.» Viele Schweizer Universitäten hätten bereits so einen Raum, nun gehöre auch die UniBe dazu. «Viele Studierende möchten ihre Religiosität oder Spiritualität mit dem Studium vereinen oder suchen generell einen Ort der Stille zur Einkehr und zur Ruhe». Dies geschehe auch trotz Säkularisierungstendenzen und dem zunehmenden Bedeutungsverlust von Religion für eine Vielzahl von Menschen in unserer Gesellschaft.
«Weiter bietet der Raum den Studierenden und Mitarbeitenden einen sicheren Ort, um Menschen anderer Glaubensrichtungen und weltanschaulicher Überzeugungen zu begegnen», so Kiener. Dies spiegelt sich in der vielfältig aufgestellten Träger*innenschaft des Raumes wider: Neben der SUB sind die Christliche Hochschulgruppe (VBG), die Muslim Students and Alumni Association (MSAB), der Verein Jüdischer Studierender (VJSB), die Kathologische Hochschulseelsorge (aki), das Reformierte Forum (forum3) und die Fachschaft Theologie und Interreligiöse Studien Teil des Projekts. Kiener betont: «Der Raum soll zudem allen Studierenden und Mitarbeitenden zeigen, dass sie in ihrer Vielfalt willkommener Teil der Universität als Ganzes sind.»
Weltanschauung meets Admin
Das Projekt wurde ursprünglich von der Muslim Students and Alumni Association Bern ins Rollen gebracht. Ziemlich schnell waren dann andere Hochschulgruppierungen an Bord. Realisiert wurde das Projekt in Zusammenarbeit mit der Träger*innenschaft, der Abteilung für Bau und Raum, dem Hausdienst Unitobler sowie der Unileitung. Dass diese Mischung garantiert pluralistische Ansichten hervorbringt, ist abzusehen: «Für mich persönlich war eine Herausforderung als Koordinatorin des Projekts, dass mensch mit der Realisierung dieses Raumes ganz unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen begegnen musste», berichtet Kiener. Das betrifft neben Kompromissen innerhalb der Träger*innenschaft auch grundsätzliche Fragen, beispielsweise bezüglich der Rolle von religiöser oder spiritueller Praxis an einer säkularen Institution wie der Uni Bern. Auch stelle sich die Frage nach Mehrheits- und Minderheitsperspektiven: Wer wird wie repräsentiert in unserem nach wie vor christlich sozialisierten Umfeld?
«Ich glaube, dass Projekte, bei denen alle ein gemeinsames Ziel vor Augen haben, toll sind für den Dialog.» Jil Kiener, Koordinatorin Raum der Stille
Kiener betont, dass Herausforderungen und Höhepunkte in der Projektgestaltung nahe beieinander liegen: «Ganz unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Erfahrungen, Vor-
wissen und Meinungen wurden an einen Tisch gebracht und traten miteinander ins Gespräch», erzählt Kiener. «Ich glaube, dass Projekte, bei denen alle ein gemeinsames Ziel vor Augen haben, toll sind für den Dialog.» Dieser würde dann nicht nur auf der intellektuellen Ebene geführt, sondern könne sich im Alltäglichen, wie zum Beispiel zwischenmenschlichem Kontakt und Austausch, entfalten.
Integrative Zukunftsperspektiven
Der schlicht gehaltene Raum bietet dezent in Schubladen aufbewahrt diverse Gebets- und Meditationsutensilien. Die Nutzung ist vorwiegend auf Einzelpersonen ausgerichtet, dennoch möchte die Träger*innenschaft einmal pro Jahr eine öffentliche Veranstaltung organisieren. Diese sollen weitere Impulse zur Nutzung des Raumes geben, damit sich dieser entfalten kann: «Religion, Spiritualität, Kultur – das sind alles Dinge, die sich entwickeln», so Kiener. «Der Raum der Stille soll ein Ort sein für alle, die ihn brauchen und sich deshalb dynamisch an die Bedürfnisse der Nutzer*innen anpassen können.»
Momentan stehen Planungen für eine Art Gäst*innenbuch sowie eine digitale Umfrage, um Meinungen und Anregungen der Nutzer*innen einzuholen, im Raum. «Die Nutzer*innen sind zudem herzlich dazu eingeladen, sich direkt bei uns via Mail zu melden», appelliert die Koordinatorin des Projekts.
Alles in Allem soll der Raum der Stille Individuen sowie Gruppen Platz schaffen für Meditation, Gebet und Stille. Für Jil Kiener spendet der Raum vor allem Kraft, weil er für sie ein safe spacer ist. «Es ist für mich sowohl ein Rückzugsort als auch ein Ort, der mir persönlich am Herzen liegt, wo alle willkommen sind und wo wir respektvoll und offen miteinander umgehen.»
text: julia beck
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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #26 Dezember 2021
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