«Die Politik ist handlungsfähig, wenn sie will.»

Thomas Stocker ist Präsident des Oeschger Zentrums für Klimaforschung an der Uni Bern. Seit 1998 wirkt er an den Berichten des UNO Klimarats (IPCC) mit, von 2008 bis 2015 als Vorsitzender der Arbeitsgruppe I – Wissenschaftliche Grundlagen. (Bild: Adrian Moser)

19. Oktober 2020

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Corona beginnt oft mit einem trockenen Husten, gefolgt von Atemnot oder Fieber. Auch die Erde leidet an zunehmend kritischen Temperaturen. Ein Grund für parteiübergreifendes Handeln, sagt Klimaforscher Thomas Stocker.

Florian Rudolph: Die Erde hat Fieber. Wie lange steht diese Diagnose schon?
Thomas Stocker: Die ersten Diagnosen fanden spannenderweise schon Ende der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts statt. Es war die erste Studie, die einen Zusammenhang zwischen den Konzentrationen des Treibhausgases CO2 und den Temperaturen fand. Heute wissen wir, dass die global gemittelte Temperatur allein in den letzten 120 Jahren um 1°C gestiegen ist. In der Schweiz ist es sogar 2 °C wärmer geworden.

Welche gesundheitlichen Folgen hat die Klimakrise für uns in Europa?
Bis jetzt zeigen sich die gesundheitlichen Konsequenzen noch nicht im grossen Stil, aber sie kommen zum Beispiel bei extremen Hitze-Ereignissen zutage. Während der Hitzewelle 2003 sind schätzungsweise 70’000 Menschen gestorben, die besonders verletzlich gegenüber Hitze waren.

Gemäss der European Environment Agency sterben jährlich 400’000 Menschen in Europa aufgrund von Luftverschmutzung. Was hat das mit der Klimakrise zu tun?
Sieht man in einer Megastadt vor lauter Smog keinen Himmel, ist das Luftverschmutzung. Die Luftverschmutzung ist eine direkte Folge des Verkehrs und der Industrietätigkeiten. Die Klimakrise hingegen ist etwas anderes. Die Klimakrise betrifft die ganze Welt. Es sind nicht 400’000 Klimatote – Fakt ist aber, dass die Verwendung von fossilen Brennstoffen sehr gravierende Konsequenzen hat.

Mehr als 34 Millionen Menschen haben sich bis anhin mit Corona infiziert. Wie viele Menschen leiden unter den Symptomen der Klimakrise?
Bei Business-as-usual-Projektionen wird der Meeresspiegel in den nächsten 80 Jahren um etwa einen Meter ansteigen. Allein vom Meeresspiegelanstieg wären mehrere hundert Millionen Menschen betroffen. Menschen in Küstengebieten müssen Dämme bauen. Mittel- bis langfristig werden häufigere und stärkere Überschwemmungen zu einer Inlandbewegung führen.

Menschen flüchten vor Überschwemmungen. Flüchten sie vor der Klimakrise?
Ich verwende das Wort «Klimaflüchtling» sehr zurückhaltend, denn es ist eine Kombination von Faktoren, die jemanden zu einer so strapaziösen Reise bewegt. Klimaerhitzung spielt aber eine zunehmend wichtige Rolle und es gibt Hinweise, dass das auch in Syrien so war. Es gab drei aufeinanderfolgende Dürreperioden der Jahre 2007 bis 2009, welche die syrischen Weizenvorräte massiv beeinträchtigt haben – überlagert mit einem instabilen politischen und gesellschaftlichen System hat das zum Ausbruch des Krieges geführt, der noch immer andauert.

Gibt es weitere Langzeitfolgen, die alle Menschen betreffen?
Vielen Menschen ist nicht klar, dass die Klimakrise auch zu einer Ressourcenkrise führen wird. Wenn Ressourcen wie Wasser knapper werden, dann beginnt man zu diskutieren. Wem gehört was? Wer hat wo Zugriff? Das kann effektiv zu Konflikten führen.

Was können wir aus der Coronakrise für die Klimakrise lernen?
Dass die Politik tatsächlich handlungsfähig ist – wenn sie will –, vor allem wenn die Klimakrise von allen Parteien gleichermassen anerkannt wird. In der Schweiz hat keine Partei gesagt, die Coronakrise gäbe es nicht. Dieses Argument war schnell weg vom Tisch. Genauso muss sich auch die Klimakrise endlich emanzipieren und aus dem links-rechts-Schema ausbrechen. Es muss eine parteiübergreifende Priorität werden, die Ressourcenkrise abzuwenden. Und es braucht koordinierte Massnahmen, Regeln und auch gewisse Verbote, um die Krise zu überwinden.

Die Klimastreik-Bewegung fordert netto Null Treibhaus­gasemissionen bis 2030. Wie dringlich ist das?
Es geht hier um Dekarbonisierung – die vierte industrielle Revolution. Da haben wir schon viel Zeit verloren und es ist extrem dringlich, darum ist diese Forderung richtig. Ich persönlich denke aber, die Umsetzung wird länger dauern. Es ist eine Herkulesaufgabe.

Haben wir diese Zeit?
Leider nein. Es gibt Dinge, die wir unweigerlich verlieren werden: Ich denke zum Beispiel an die Schönheit der alpinen Gletscher. Die Schweiz wird anders aussehen und das ist ein irreversibler Prozess. Aber die Ressourcenkrise und andere Katastrophen sind abwendbar. Diese Chance bleibt bestehen und ich denke, das ist enorm kostbar. Jetzt, mehr denn je, ist Engagement angesagt.

text: florian rudolph

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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #21 Oktober 2020

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