Bildungs- (un)gerechtigkeit – Ein Flug über die Stipendienland- schaft
Dass die Schweiz im Fussball oft die letzten Plätze belegt, ist allgemein bekannt. Doch wer hätte gedacht, dass sie es auch im Stipendienwesen tut?
Wo sollen wir beginnen? Schliesse die Augen und wähle eine Grafik aus dem VSS -Positionspapier «Studienfinanzierung & Schweizer Stipendienwesen». Die Schweiz ist auf dem letzten Platz? Wähle erneut. Schon wieder letzter Platz? Augen zu… Schon wieder?! Es ist kein schlechter Kartentrick. Abgesehen von der Tschechischen Republik (und evt. Ländern, in denen keine Daten erhoben wurden) vergibt kein anderes Land in Europa weniger Bildungsbeiträge pro Studi-Kopf als die Schweiz. Und nach Griechenland sind wir auf dem zweitletzten Platz, wenn es um den Anteil der Ausbildungsbeiträge an den gesamten Bildungsausgaben geht.
Hoch die Höhe
Studierende, die nicht von ihren Eltern unterstützt werden und die Studienkosten nicht selbst tragen können, dürfen sich im Wohnkanton der Eltern auf ein staatliches Stipendium bewerben. «Stipendien sollen die Chancengerechtigkeit verbessern und die soziale Ungleichheit im Bildungswesen verringern», so Sylvia Spring, Leiterin der Abteilung Ausbildungsbeiträge im Kanton Bern. Doch werden sie ihrem Ruf gerecht?
Dass Stipendien nicht die vollen Studienkosten decken, zeigt eine kleine Rechnung (bezogen auf den Kanton Bern): Gemäss Spring erhielt ein*e hiesige Stipendiat*in während des letzten Jahres durchschnittlich 9’168 Franken. Funfact: Seit 2004 lag der Kanton jedes Jahr zwischen 600 und 2350 Franken über dem Schweizer Durchschnitt. Auf das Jahr verteilt sind das 764 Franken pro Monat.
In Anbetracht der Tatsache, dass Studierende an der Uni Bern pro Monat für ungefähr 1’625 – 2’460 Franken aufkommen müssen (siehe Tabelle), wird klar, dass das nicht viel ist.
Dennoch: «Die gewährten Ausbildungsbeiträge sind in der Regel existenzsichernd, da der Ausbildungsbeitrag des Kantons Bern immer den vollen Fehlbetrag der Person in Ausbildung abdeckt», sagt Sylvia Spring. Eine gesetzliche Obergrenze bezüglich der Höhe der gesprochenen Gelder habe der Kanton nicht festgelegt und decke die Lücke, welche beispielsweise die Eltern zur Finanzierung des Studiums nicht aufbringen können.
Es scheint gut… und dennoch: Dadurch, dass Stipendien einen kleinen Teil der Kosten von Schweizer Studierenden decken, muss ein grosser Teil ihrer Kosten durch eigene Arbeit oder durch die Eltern abgedeckt werden. Dramatisch gesagt: Es bedeutet die Opferung von:
a) einem arbeitsfreien, voll-fokussierten Studium oder
b) der Unabhängigkeit (oder gar der Emanzipation) vom Elternhaus
«Das Stipendienwesen ist sehr knapp berechnet», so Julia Wess, die im SUB-Vorstand das Ressort «Soziales“ innehat. «Da kantonal unterschiedliche Regeln gelten, gibt es viel Verwirrung und unterschiedliche Bedingungen, das betrifft zum Beispiel variierende Zulassungsberechtigungen und Differenzen in den gesprochenen Maximalbeträgen.»
Stipendien go prime
In den letzten Jahrzehnten verlief die Entwicklung der Stipendienlandschaft umgekehrt proportional. Immer höhere Stipendienbeträge pro Kopf, jedoch immer weniger Studierende mit Zugang zu einem Stipendium. Im Verhältnis zur Gesamtanzahl Studierender in der Schweiz hat sich der prozentuale Anteil Studierender, die von einem Stipendium profitieren, zwischen 2004 und 2020 halbiert (BFS).
«Überraschend ist, dass die Bildungsausgaben sich kaum entsprechend der wachsenden Studierendenzahl entwickelt haben», schreibt der VSS im aktuellen Positionspapier. Während die Anzahl Studierenden zwischen 2004 und 2016 um mehr als ein Viertel gewachsen sei, war das Wachstum der Bildungsausgaben nur halb so gross. «Die Ausgaben für Stipendien sind also weniger gewachsen als die gesamten Bildungsausgaben, welche wiederum nicht mit dem Wachstum der Studierendenzahlen mitgehalten haben.» Kurz und bündig: Die Bildungsausgaben hinken hinter dem Studierendenwachstum hinterher und anteilmässig profitieren zunehmend weniger Studierende von Stipendien.
Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass sich vor allem Personen aus finanziell gut gestellten Familien für ein Hochschulstudium entscheiden. Doch ob die soziale Ungerechtigkeit in der Schweiz steigt, lässt sich hier nicht sagen. Es muss geklärt werden, ob sich das Bedürfnis an Ausbildungszulagen verringert hat, oder ob die Hürden für finanzielle Unterstützung zu hoch sind.
Höhere Hürden, höhere Schulden
Wenn sich Menschen aus weniger wohlhabenden Familien bewusst gegen ein Studium entscheiden, warum tun sie es? Auch mit Gazmendi Noli aus dem SUB-Vorstand haben wir uns ausgetauscht. Er ist verantwortlich für das Ressort „universitäre und kantonale Hochschulpolitik“ und mit ihm haben wir über Ursachen und Folgen der sich verschlechternden Stipendienlage gesprochen.
Laut Gazmendi sind die Hauptprobleme im Stipendienwesen die restriktiven und komplizierten Zulassungsverfahren und das Stigma, das den Stipendien anhaftet. Dementsprechend brauche es einen besseren Informationszugang und einen besseren Ruf. «Viele denken, dass sie den Staat ausbeuten, wenn sie Stipendien beziehen. Ich sehe das anders. Ich bin überzeugt, dass ein grosser Anteil der Studierenden durch die Maschen fällt.» Es gäbe viele Studierende, so Gazmendi, deren Eltern zu viel verdienen, um ein Stipendium zu erhalten, aber viel zu wenig, um ein Studium tatsächlich finanzieren zu können. Betroffene Studis müssten deshalb nebenbei arbeiten, ihr Studium abbrechen oder sie verschulden sich. Insgesamt könne man sagen: Die Lage der Ausbildungsbeträge habe sich verschlechtert.
Auf die Frage, ob Studierende ein Recht darauf haben sollten, ohne Lohnarbeit studieren zu können, antworten Julia Wess und Gazmendi Noli beide mit einem klaren «Ja». Nach Julia sollten sich Studis in der Erstausbildung voll auf das Studium konzentrieren können: «Das Studium ist bereits eine Vollzeitbeschäftigung. Ausserdem stellt wenig finanzieller Rückhalt auch eine psychische Belastung dar, was wiederum Einfluss auf die Studienleistung hat.»
Ein lohnarbeitfreies Studium ist aber für die Mehrheit der Studierenden Utopie. Drei Viertel aller Studis arbeiten hierzulande «nebenbei» (davon fast jede*r Dritte in einem Beschäftigungsgrad über 40%). Und hier stellt sich die Frage der Chancengleichheit erneut: Gehen sie der Arbeit freiwillig nach, oder haben sie ein existenzielles Problem, wenn Ende des Monats das Geld nicht auf dem Konto eingeht? Dazu ein Vergleich: Bei Studierenden, deren Vater oder Mutter (oder mindestens ein Elternteil) über einen Hochschulabschluss verfügt, macht die familiäre Unterstützung fast zwei Drittel ihrer «Einkünfte» aus. Bei Studierenden, deren Eltern keinen akademischen Hintergrund aufweisen, ist es hingegen weniger als die Hälfte.
Schlussendlich sind fehlende Ausbildungsbeiträge ein gesellschaftliches Problem. Wenn Kinder finanziell von ihren Eltern abhängig sind, wird die (Unter)scheidung zwischen «Arbeiter*innen- und Akademiker*innen-Familien» stärker. Stipendien können das verhindern, indem sie sozioökonomische Differenzen abfedern und Menschen mit fehlenden finanziellen Mitteln ihr Anrecht auf Bildung gewähren. Menschen, die nicht in Haute-Cauture-Pampers geboren wurden, aber vor allem Menschen, deren Eltern ihren Kindern ein Studium ermöglichen wollen, aber nicht können.
Hier noch zwei weitere Fragen, auf die wir keine Antwort geben werden: Was sollen wir vom Status Quo des Nebenjobs halten – von der erstarkenden Erwartung, neben dem Studium zu arbeiten? Und was macht es mit uns als Individuum, wenn wir zu den wenigen gehören, die «auf den Taschen der Eltern rumsitzen»?
text: florian rudolph und julia beck, illustration: yema salzmann
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Der Sozialfonds der SUB, eine akute, notfallmässige Geldspritze von bis zu 5000.-, ist für Studierende in unerwarteten finanziellen Notlagen vorgesehen. Er deckt Summen, welche die Betroffenen nicht stemmen können, bis sie wieder eine andere Anlaufstelle oder Institution finden können, die für das Studium aufkommen kann. Hier geht’s zur Seite des Sozialfonds der SUB.
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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #29 Mai 2023
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