Auf den Spuren studentischer Einsamkeit

Einsamkeitsgefühle sind die subjektiv erlebte Diskrepanz zwischen den gewünschten und den wahrgenommenen Beziehungen. Bild: JD Design (Unsplash)

19. Mai 2020

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Corona stellte so manchen Kopf auf den Kopf. So erlebten viele Menschen ein Gefühl, das in der Gesellschaft oft verschwiegen wird, aber schon lange da ist: Einsamkeit. «Habe ich im Thema Freundschaft versagt?», frage ich einen Psychologen und einen Forscher der Uni Bern und finde heraus: Einsamkeit ist persönlich und gesellschaftlich zugleich.

19 Tage vor dem Eingeständnis: Die Uni Bern schliesst die Bibliothek, legt das Sportangebot auf Eis und verlegt alle Seminare in die digitale Welt. Es ist Tag 1 des Ausnahmezustandes, Freitag, der 13. März, und ich gehe unwissentlich an meine letzte, prä-apokalyptische Party. Eine Abschiedsparty, sozusagen.

18 Tage vor dem Eingeständnis: Wie geplant, fahre ich heute für einen Tag zu meinem Freund in Luzern. Nicht geplant habe ich, dass ich auch am nächsten Tag bleibe. Egal. Wir trinken Sojamilch mit Blick auf den Pilatus.

12 Tage vor dem Eingeständnis: Schon der siebte Tag beim Freund. War die ganze Woche geistig in der Uni, physisch aber auf dem Balkon. Warte wie Rapunzel, dass er von der Arbeit kommt.

9 Tage: Habe mich überwunden, eine Freundin anzurufen. Bei mir hat sich niemand gemeldet, nebst dem Mädchen von der Abschiedsparty. Muss ihr noch zurückschreiben.

6 Tage: Freundin ist krank, Social-Distancing-Joggen fällt aus. Wir könnten skypen, tun wir aber nicht. Auf der anderen Seite der Wand telefoniert wieder jemand stundenlang. Toll.

2 Tage: Ist meine Welt geschrumpft? Brauche unbedingt bekannte Gesichter. Geh jetzt rennen…

1 Tag: Fühle mich wie in einer Blase. Warum meldet sich niemand bei mir? Warum melde ich mich nicht?

Heute: Auch wenn es niemand (inklusive ich) von mir gedacht hätte: Ich glaube, ich bin einsam. Ein schmerzhaftes Eingeständnis. «Habe ich im Thema Freundschaft versagt?», frage ich mich. Eigentlich frage ich mich das schon lange. Das Thema ist mir aber so unangenehm, wie über mein Sexleben oder Toiletteninhalte zu reden. Anstatt es anzugehen, vertiefe ich mich lieber in die Geschichten von Batman und Robin oder Robin Hood und Little John – Partnerschaften, wie ich sie mir nur erträumen kann.

So. Aber jetzt werde ich diesen Schleimbrocken, der auf meiner Humordrüse sitzt, endlich angehen: Ich werde einen Artikel über Einsamkeit schreiben.

Am Nachmittag: Die Spurensuche beginnt bei der Beratungsstelle der Berner Hochschulen. Nächste Woche rufe ich den dort arbeitenden Psychologen Philipp Schmutz an, um herauszufinden, ob auch andere Studierende Einsamkeitsgefühle kennen und wie man sie loswird.

Ring-Ring beim Psychologen
Ein typischer Fall studentischer Einsamkeit: Du ziehst aus einer anderen Stadt nach Bern. In deiner WG esst Ihr ab und zu zusammen, aber nicht oft. Du hast eine Clique gefunden. Dort hast du die Rolle der Zuhörerin angenommen. Etwas Schlaues zu sagen, hast du ja eh nicht. Aber mal gefragt zu werden, gehört zu werden, und dein Inneres zu zeigen, das wünschst du dir ziemlich fest. Solche Schilderungen kennt Philipp Schmutz nur zu gut. Ich ja irgendwie auch und so fühlt sich unser Gespräch wie ein Outing an, bei dem ich halbwegs als Journalist getarnt bin. Ganz wichtig, erklärt der Psychologe, sei der Unterschied zwischen sozialer Isolation und Einsamkeit: Sozial isoliert ist man, wenn man wenige oder gar keine Menschen um sich hat, Einsamkeit ist hingegen eine subjektive Empfindung, teilweise unabhängig von der augenscheinlichen Realität. Verbunden sind die Phänomene aber trotzdem, sodass man sich eben doch oft einsam fühlt, wenn man allein ist. Tobias Krieger, der an der Universität Bern internetbasierte Selbsthilfe-Programme bei Einsamkeit und das Gefühl selbst erforscht, bringt das folgendermassen auf den Punkt: «Wann und wie jemand Einsamkeit empfindet, ist von Person zu Person sehr unterschiedlich.» Damit meint er nicht nur, dass Einsamkeitsgefühle zur Hälfte in den Genen stecken, sondern vor allem, dass jede Person sich in einem anderen sozialen Gefüge wohl fühlt. «Manchen Menschen reicht eine tiefe Beziehung, andere brauchen zwanzig und andere wiederum brauchen gar keine tiefe Beziehung.» Ihm nach sind Einsamkeitsgefühle die subjektiv erlebte Diskrepanz zwischen den gewünschten und den wahrgenommenen Beziehungen.

«Sich einsam zu fühlen, ist weit verbreitet.»

«Sich einsam zu fühlen, ist weit verbreitet», sagt Philipp Schmutz. So seien Einsamkeitsthematiken bei mehr als der Hälfte seiner Klient*innen und insbesondere Zugezogenen vorhanden. Auf die Frage, was sie für mehr Zufriedenheit bräuchten, sei einer der erst genannten Punkte: «Ich müsste hier einen Freundeskreis aufbauen», oder «Ich will einen Partner oder Partnerin.» Entgegen der allgemeinen Meinung ist Einsamkeit keinesfalls ein Thema, das sich auf die ältere Generation beschränkt: «Auch mitten im Leben gibt es verschiedene Abschnitte, in denen sich Menschen gehäuft einsam fühlen», sagt Tobias Krieger. Dies sei besonders der Fall bei grossen Veränderungen oder Übergangsphasen im Leben, wie zum Beispiel einem Schulwechsel.

Und trotzdem kann es sein, dass man sich auch ein, oder zwei Jahre nach dem Umzug oder der Trennung noch einsam fühlt. Oder man tut sich generell schwer mit Freundschaften. Warum?  «Das ist sehr individuell und es geht oft um die Biographie der Betroffenen», sagt Philipp Schmutz. «Wenn ich zum Beispiel als Kind geweint habe und dafür von meinen Eltern getadelt oder aufs Zimmer geschickt wurde, sage ich mir später: Ich darf keine Gefühle zeigen, ich darf keine Probleme haben, und ich werde abgelehnt, wenn ich mich mit Schwächen zeige.» «Prägung» ist deshalb ein wichtiges Stichwort auf der Spurensuche nach der eigenen Einsamkeit und ein Grund, warum sich das Gefühl selbst verstärken kann: Man schätzt sich negativer ein und zieht sich mehr und mehr zurück, je länger es anhält.

Ein anhaltendes Einsamkeitsgefühl kann somit ein Risikofaktor für Depression, soziale Phobie und Demenz sein, korreliert mit Immunsystem-Dysfunktionen, Essstörungen, sowie weniger erholsamen Schlaf und misst sich bezüglich Mortalitätszunahmen mit 15 gerauchten Zigaretten pro Tag, sagen verschiedene Studien. Wenn Einsamkeit unangenehm viel Platz im Leben einnimmt, darf und sollte man sich deshalb Hilfe holen. «Studierende können mit fast jedem Thema zu uns kommen», sagt Philipp Schmutz, «und meistens reichen schon ein paar Impulse, damit sie selbst weitergehen können. Wo nötig, entwickeln wir gemeinsam weiterführende Massnahmen.»

Leben wir in einer Ära der Einsamkeit?
2018 ernennt Grossbritannien die erste Einsamkeitsministerin der Welt, in Deutschland läuft seit zwei Jahren Silbernetz, eine Einsamkeits-Hotline für ältere Menschen, und gegenüber SRF gibt eine Filialleiterin zu: «Ich habe keine einzige Freundin». Auch in der Forschung rückt das Thema zunehmend in den Fokus. So gaben in einer Schweizer Studie rund ein Drittel aller Befragten an, sich manchmal einsam zu fühlen und fünf Prozent der Befragten fühlten sich «oft» oder «ziemlich oft» einsam.

Ob Einsamkeit im Vergleich zu früher zugenommen hat, sei jedoch schwierig zu sagen, meint Krieger. Eine Befragung von 8 Millionen Jugendlichen zeigt aber immerhin, dass gemeinsam verbrachte Zeit nach 30 Jahren um eine Stunde gesunken ist. Einsamkeitsgefühle nahmen nach 2011 stark zu, während sich die Zeit im Internet zwischen 2006 und 2016 verdoppelte. Da man im Netz aber sowohl aktiv kommunizieren als auch passiv konsumieren kann, meint Krieger: «Ob Internet einsam macht, hängt fest davon ab, wie man es nutzt.» Trotz allem vermutet er, dass eine gute Freundschaft heute wie früher das gleiche bedeutet.

«Ob Internet einsam macht, hängt fest davon ab, wie man es nutzt.»

Unabhängig von der Technik ist aber das Stigma um Einsamkeit deren eigener Motor. Studien zeigen, dass einsame Menschen von anderen Personen als negativer eingeschätzt werden als weniger einsame. Evolutionsbiologisch mache das Sinn, sagt Krieger, weil man in der Gruppe stärker war. Heute aber führt es zu einem Teufelskreis: «the rich get richer» und die Einsamen werden einsamer. Doch was ist komisch daran, allein ins Kino zu gehen? Warum zieht es mich zu den coolen Surferdudes und nicht zum stillen Jungen in der vierten Reihe? Was könnte er bieten, was die anderen nicht können? Da wir zur Prägung anderer beitragen, ist es wichtig, sich solche Fragen immer wieder zu stellen und die eigenen Vorurteile auf Diät zu setzen.

3 Wochen später
«Warum meldet sich niemand bei mir? Habe ich etwas falsch gemacht in der Freundschaft?», frage ich Tobias Krieger zum Schluss. «Einsamkeitsgefühle können auch eine wichtige Funktion haben», sagt er. «Sie können einem den nötigen Impuls geben, um neue Beziehungen zu knüpfen oder bestehende weiter zu vertiefen.» Dass es hierfür keine Allrounder-Lösung gibt, ist klar. Sich im richtigen Mass verletzlich zeigen zu können, sei aber essenziell, meint Philipp Schmutz. Ausserdem sei es viel einfacher, alte Kontakte zu intensivieren, als neue zu knüpfen. Ich will diese Vorschläge umsetzen und habe drei meiner Freund*innen geschrieben, mit denen ich seit Längerem keinen Kontakt mehr hatte. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass Einsamkeit ein Thema ist, dass tief in mir drinsitzt. Um mein Mass an Verletzlichkeit zu finden, habe ich deshalb einen Termin bei der Beratungsstelle abgemacht.

Einsamkeit ist nicht mehr das bedrohliche Phantom, für das ich es am Anfang hielt. Auf der einen Seite sehe ich Einsamkeit als Spätfolge von einschneidenden Erlebnissen und als schleichendes Problem, das zu lange unter den Teppich gekehrt wurde. Trotz des Zusammenhangs mit Diskriminierung oder Mobbing zeigt sich keine klare, äussere Ungerechtigkeit, die es zu bekämpfen gilt. Tatsächlich ist es das Ausbleiben jeglicher äusserer Reize, das der inneren Leere erst Platz gibt, sich auszubreiten. Ein heimtückisches Problem, sozusagen.

Auf der anderen Seite sehe ich Einsamkeit als etwas sehr Menschliches. Ich habe mich gefragt, was das Gegenteil von «einsam» ist, wenn sie auch immer wieder einen Platz in «zweisam» und «gemeinsam» findet. Ist nicht gerade die endlose Suche nach Verständnis, Verbindung und Annahme, was das Mensch-Sein ausmacht? Ist es nicht genau dieses Sehnen nach Seelenvertrauten, das tiefe Verbindungen wie Liebe ermöglicht?

Natürlich ist jetzt nicht alles rosig. Aber ich glaube, dass der langsame Rückgang zum kontaktfreundlicheren Leben ein guter Moment ist, um mir einen sozialen Winterspeck anzuessen. Jetzt weiss ich, dass Einsamkeit etwas ist, wovon viele Menschen ein Lied singen können. Und das stärkt.

text & bild: florian rudolph

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Die Beratungsstelle der Berner Hochschule bietet professionelle Coachings, Beratungen und Workshops an. www.beratungsstelle.bernerhochschulen.ch

+41 (0)31 635 24 35

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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #20 Mai 2020

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Matthias Neff
7. November 2022 2:00

Klasse Artikel: einfühlsam, selbstkritisch und informativ.