Alles was wir brauchen, haben wir schon
Ezatullah Rezai studiert VWL an der Uni Fribourg. Bild: zvg
Für viele geflüchtete Menschen sind die Hürden für ein Studium an einer Schweizer Hochschule zu hoch. Dabei wären die Chancen einer Integration durch Bildung gross.
«Was möchtest du später im Leben werden?» Im Kindergarten, in der Schule und auch noch an der Uni – in der Schweiz werden wir das ständig gefragt. Bei Menschen, die nicht schon im Kindergarten mit uns gebastelt haben, ist das anders. «Woher kommst du?», «Wie lange bist du schon hier?» und «Was machst du?», während sich die Welt von jungen Schweizer*innen um die Zukunft, Karriere und Visionen dreht, geht es im Alltag von Geflüchteten darum, die Gegenwart zu bewältigen, in einem anderen Land Fuss zu fassen und Träume klein zu halten.
Sieben Jahre nach ihrer Ankunft sind noch immer knapp die Hälfte der anerkannten Flüchtlinge arbeitlos.
Das eigene Rennen wählen
Aber Moment mal! Wir schreiben doch keinem geflüchteten Menschen eine Karriere vor!? Theoretisch nein. Faktisch aber erhalten Geflüchtete ab einem Alter von 25 Jahren vermehrt den Stempel «arbeitsfähig» statt «studiumsfähig», sagt Marina Bressan, Mitarbeiterin bei dem vom VSS-UNES, dem Verband der Schweizer Studierendenschaften, ins Leben gerufene Projekt Perspektiven-Studium: «Ausbildungen und Arbeitserfahrungen werden oft nicht anerkannt.» Menschen mit vielen Jahren Berufserfahrung sind gezwungen, ganz von vorne anzufangen. Dies trifft besonders Geflüchtete mit akademischem Hintergrund. Marina erzählt, dass ein türkischer Arzt trotz zehnjähriger Berufserfahrung hier weder arbeiten noch weiterstudieren konnte.
Dass arbeitswillige Geflüchtete keine Arbeit finden, ist kein Einzelfall. Eine Langzeitstudie aus dem Jahr 2014 zeigt, dass sieben Jahre nach der Ankunft in der Schweiz immer noch knapp die Hälfte der anerkannten Geflüchteten und vorläufig Aufgenommenen arbeitslos sind. Was sieben Jahre Arbeitslosigkeit mit einem Menschen machen, lässt sich nicht nur anhand entstandener Sozialkosten messen. Deshalb hat sich der Bund in der «Integrationsagenda Schweiz» ein neues Ziel gesteckt: Jede zweite (vorläufig) aufgenommene Person soll nach sieben Jahren in den Arbeitsmarkt integriert sein. Ein löbliches Ziel. Oder nicht?
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Zumindest in akademischer Zeitrechnung sind sieben Jahre ein knapp berechnetes Unterfangen – vor allem mit dem Ziel, in dieser Zeit zusätzlich Deutsch zu lernen, die Immatrikulationsbedingungen zu erfüllen und dabei finanziell auf eigenen Beinen zu stehen.
Es scheint, als hätte der Bund bei seiner sieben-Jahres-Rechnung nicht an das Höhenprofil der akademischen Route gedacht? Tatsächlich. In der Integrationsagenda ist «Hochschulbildung» in keiner Silbe erwähnt und entsprechend steinig ist der Weg für Geflüchtete, deren Lebensziel mit einem Studium verknüpft ist. Sind sie erfolgreich durch den Informationssumpf gewatet, verheddern sie sich schnell im Dschungel der Bürokratie. Plötzlich sind sie von einem Schwarm von Paradoxen umgeben: Beispielsweise werden Sprachniveaus gefordert, aber nicht gefördert.
Für ein Bachelorstudium verlangt die Uni Bern zum Beispiel Deutschkenntnisse auf Level C1. Kostenlose Deutschkurse sind an der Uni Bern zwar bis zum Niveau C2 verfügbar, der Zugang dazu erfolgt jedoch erst nach der Immatrikulation. Diese muss aber erstmal möglich sein, denn viele ausländische Zeugnisse erfüllen die Immatrikulationsbedingungen nicht. Teil davon ist zum Beispiel der einjährige Vorbereitungskurs für die ECUS-Prüfung, eine Voraussetzung für hochschulinteressierte Ausländer*innen, deren Schulabschluss nicht dem schweizerischen Vorbildungsausweis entspricht.
Die Vorbereitung zur ECUS-Prüfung ist ein finanzielles Monument für sich. Bei Examprep kostet der Jahreskurs für die Vorbereitung 15’850 Franken – das 60-fache eines syrischen Monatslohns. Die gute Nachricht: Wer bereits über einen anerkannten Bachelor verfügt, muss die ECUS-Prüfung nicht ablegen. Die schlechte Nachricht: Ein Bachelor gilt als Erstausbildung und nullifiziert mögliche Ansprüche auf kantonale Ausbildungsbeträge.
Hürdenlauf Immatrikulation
Wie viele Studienträume bereits an finanziellen Hürden zerbrochen sind, ist unklar. Von Seiten des Bundes werden diesbezüglich zumindest keine Daten erhoben. Perspektiven-Studium hat gerechnet: «Seit 2016 haben über 600 Geflüchtete an Gasthörer*innen-Projekten diverser Hochschulen teilgenommen», sagt Marina, «weniger als ein Viertel von ihnen konnte sich regulär immatrikulieren.»
Jede Universität und jede Fachhochschule hat ihre eigenen Kriterien zur Immatrikulation von Menschen mit ausländischen Zeugnissen.
Die dadurch entstehenden Graubereiche können manchmal positiv genutzt werden. Beispielsweise ist eine Immatrikulation, die an den formalen Zulassungsbedingungen der einen Hochschule scheitert, an einer anderen Uni unter anderen Voraussetzungen womöglich erfolgreich. So kann im künstlerischen Bereich eine Aufnahme Sur Dossier erfolgen. Bei Ezatullah Rezai, der in der Schweiz seinen Master abschliessen möchte, war jedoch das Gegenteil der Fall. Obwohl er bereits vier Jahre in Afghanistan studiert hatte, haben ihm die Universitäten das Weiterstudieren nicht leicht gemacht. Die Abklärung, ob seine Diplome anerkannt würden, zog sich: «Der Prozess, meine Leistungen überall abzuklären, dauerte für mich ungefähr vier Monate.» Danach bekam er völlig unterschiedliche Antworten. Während die Uni Bern keines seiner Diplome anerkannte, beglaubigten die Uni Fribourg und die Berner Fachhochschule fast alle seiner Leistungen.
«Der Prozess meine Leistungen überall abzuklären, dauert für mich ungefähr vier Monate.» – Ezatullah Rezai
Kein Marathon, sondern Iron Man
Vier Jahre nach seiner Ankunft in der Schweiz konnte sich Ezatullah schliesslich als regulärer VWL-Student an der Uni Fribourg immatrikulieren. Seine Bilanz bis dahin: Deutsch auf Niveau B2 erlernt, eine Lehre zum Milchpraktiker abgeschlossen, zwei Semester als Gaststudent an der Uni Bern studiert und eine Handvoll Prüfverfahren seiner Diplome durchlebt. Die Ungewissheit ist dabei sein treuer Begleiter: «Damals war ich unsicher, ob ich überhaupt bleiben darf», sagt Ezatullah, «Ich habe heute immer noch die F-Bewilligung und das heisst für mich konkret: Wenn mein Heimatland eine bessere Situation aufweist, muss ich die Schweiz verlassen.» Es bedarf keines Psychologiemasters um zu erkennen, dass eine solche Lebenssituation belastend ist.
Während ein Master für Vollzeitstudierende in vier bis sechs Semestern gegessen ist, rechnet Ezatullah mit fast doppelt so vielen Jahren Studienzeit. Mit einem Nebenjob finanziert er seinen Lebensunterhalt und die Semestergebühren. Nicht gerade förderlich sind da die noch zusätzlichen Auslandsgebühren (an der UniBe zum Beispiel 200 Franken), die Geflüchtete auf die regulären Semestergebühren draufblättern müssen.
Forderungen vor Augen seit 2016
Dass geflüchtete Menschen im Schweizer Hochschulsystem nicht
inkludiert werden, bereitet auch Schweizer Studierenden einen sauren Magen. Bereits 2016 stellte der Verein der Schweizer Studierendenschaften (VSS) acht Forderungen zum Hochschulzugang für studentische Geflüchtete. Trotzdem: «Bis heute konnten viele systemische Hürden nicht angegangen werden», sagt Marina.
Die Arbeitsgruppe «Integration durch Bildung» versucht das zu ändern. Sie besteht aus studentischen Geflüchteten und weiteren Interessierten und überarbeitet seit vergangenem Oktober die Forderungen von 2016. Daraus sollen letztendlich lokale Hochschulkampagnen und Vorstösse für Politiker*innen entstehen. Auch Ezatullah ist Teil der Arbeitsgruppe. Während die überarbeiteten Forderungen der AG noch nicht final sind, ist für Ezatullah persönlich klar: «Ich würde mehr zentralisieren. Bisher entscheiden Unis ihre Richtlinien zur Anerkennung ausländischer Zeugnisse selber.» Diese Ungleichheiten kosten Kraft und Zeit.
Ezatullah wünscht sich, dass die Unis mehr darauf achten, wie lange es für die Betroffenen dauert, ein Studium zu wiederholen. Es gäbe schliesslich auch international ähnliche Studiengänge wie IT-, Wirtschafts- oder Ingenieurswissenschaften. Eine mögliche Lösung sieht er in einer Institution, die schweizweit geltende Bedingungen für eine Anerkennung ausländischer Zeugnisse formuliert. Ein weiteres Anliegen ist Ezatullah die Abschaffung der zusätzlichen Auslandsgebühren: «Ich wohne, arbeite und zahle Steuern in der Schweiz, wie Schweizer*innen auch. Aber trotzdem muss ich pro Semester 150.- mehr zahlen.»
«Das zentrale Problem ist, dass das Studium nicht als Integrationsweg anerkannt wird.» – Marina Bressan
Ebenfalls im Oktober startete die von verschiedenen Organisationen getragene Kampagne «Bildung für alle – Jetzt!». Die Petition zur Kampagne fordert einen erleichterten Bildungszugang auf allen Stufen. Ausserdem müsse die «Integrationsagenda Schweiz» das Recht und den Anspruch auf Bildung für alle gewährleisten, unabhängig vom Aufenthaltsstatus und entsprechend des jeweiligen Potenzials.
Balanceakt Inklusion
Auch für Marina verfehlt die «Integrationsagenda Schweiz» eine ganzheitliche Integrationsstrategie: «Das zentrale Problem ist, dass das Studium nicht als Integrationsweg anerkannt wird.» Stattdessen möchte der Bund möglichst viele Menschen schnell in den Arbeitsmarkt integrieren. Diese Strategie bringt Vorteile: Geringere Sozialkosten als während eines Studiums, Fachkräftemängel wie beispielsweise in der Pflege können gefüllt werden und Mitarbeitende fungieren als kostenlose «Kultur-» und Sprachschule für die Geflüchteten.
Marina sieht aber auch Schattenseiten: Kurzfristig könnten Menschen unerfüllende Tätigkeiten verrichten. Wer jedoch auf lange Sicht Arbeiten verrichten muss, die nicht den eigenen Ansprüchen entsprechen, wird schlimmstenfalls selber wieder Sozialhilfeempfänger*in. «Durch den Fokus auf Integration durch Arbeit», so Marina, «geht vergessen, dass Personen ganz unterschiedliche Potenziale mitbringen.» Diese Potenziale sollten wir nutzen statt sie nur in Statistiken darzustellen. Es sei wichtig, so Marina, die Diversität unserer Gesellschaft auch in die Universitäten und Forschungsteams zu tragen. Ein solch inklusives Bildungssystem würde bestehende Erfahrungskontexte, vorhandenes Wissen und hiesige Perspektiven erweitern. «Im Hinblick auf die Globalisierung», sagt Marina, «kann das für unsere Forschung und Unternehmen eine grosse Bereicherung sein.»
Es ist an der Zeit, das globale Potenzial zu nutzen, das direkt vor unserer Haustür schlummert. Das heisst Beteiligung zulassen, sich auf neues Wissen einlassen und die Vorrangstellung loslassen.
text: julia beck, florian rudolph
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Du findest auch, dass Hürden zum Hochschulzugang für geflüchtete Menschen abgebaut werden sollten? Unterschreibe die Petition unter: bildung-jetzt.ch/petition
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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig No22 Dezember 2020
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