1968 an der Uni Bern
Holz-Affäre: Öffentliches Hearing vor über tausend Zuschauer*innen in der Aula. bild: Staatsarchiv Bern.
Als die SUB mit dem Megafon durch Berns Gassen zog und das soziologische Institut besetzt wurde: Ein Rückblick auf bewegte Jahre.
Bern, Mai 1974: Rund 60 Studierende besetzen das Institut für Soziologie im Bollwerk 21, um gegen die „rechtslastigen“ Anstellungsentscheide der Fakultät zu protestieren. Es kommt zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Assistierenden des Instituts und den Studierenden, worauf Institutsdirektor Rüegg die Polizei ruft. Diese rückt mit einem Grossaufgebot an, das Institut wird gewaltsam geräumt. Gegen Abend reagiert das Rektorat und richtet sich mit einem Communiqué an die Medien. Es bezeichnet die Besetzung als „ein Element der schon lange andauernden Agitation eines bestimmten Kreises von Soziologiestudierenden und Sympathisanten, die bezwecken, unter anderem das Fach Soziologie an unserer Universität in eine ihnen genehme politische Richtung zu zwingen.“
Einige Monate später werden vier Protestierende zu bedingten und unbedingten Gefängnisstrafen von 14 bis 30 Tagen verurteilt, einer erhält zusätzlich drei Jahre Landesverweis. Nun demonstrieren 400 Studierende „Gegen Repression an der Uni“. Mit dem Megafon führt der Präsident der SUB, Peter Weber, die Demonstrierenden durch die vorweihnachtliche Innenstadt. Dann versammeln sie sich in der Eingangshalle des Hauptgebäudes, wo sie die Verhandlungen im Soziologieprozess als Theater aufführen. Der Rektor meint, die Kundgebung würde „die laufenden Prüfungen mit dem Megafon stören“ und fordert sie auf, das Gebäude zu verlassen. Die Studierenden antworten mit Sprechchören. Als sich das Gerücht verbreitet, dass die Polizei unterwegs zum Hauptgebäude sei, verlassen die Demonstrierenden schliesslich das Haus.
Vier Studierende wurden zu bedingten und unbedingten Gefängnisstrafen von 14 bis 30 Tagen verurteilt, einer erhielt zusätzlich drei Jahre Landesverweis.
Am nächsten Tag bestellt Rektor Weidmann den SUB-Präsidenten Weber um 8 Uhr in sein Büro. Dieser gibt zur Antwort, dass er als Präsident der SUB nur halbtags arbeite und somit erst am Nachmittag verfügbar sei. Diese „respektlose und provozierende Haltung“ (Senatsausschuss-Protokoll vom 19.12.1974) hat Folgen: Er wird für ein Jahr vom Studium ausgeschlossen.
Das Vorgehen des Rektorats stösst auch intern auf Kritik. In einem offenen Brief distanzieren sich 35 Dozierende vom „unverhältnismässigen“ Vorgehen der Universitätsleitung. Weidmann hielt entgegen: „Meinungsverschiedenheiten zwischen Dozenten sollten innerhalb der Mauern der Universität ausgetragen werden“.
Die Studierenden politisieren sich
Die Ereignisse des Jahres 1974 sind Ausdruck einer Auseinandersetzung, welche unter der Chiffre „1968“ Eingang in die Geschichtsbücher fand. Auf universitärer Ebene forderte die 1968er-Generation mehr studentische Mitbestimmung, eine kritisch ausgerichtete, engagierte Wissenschaft und Platz für politische Initiativen in den Räumen der Uni.
Die 68er Studierendenbewegung erreichte die Schweiz vergleichsweise spät. Sie baute auf bereits bestehenden bildungspolitischen Organisationen auf. Noch bevor sich der Protest in der Schweiz auf den Strassen entzündete, begann es an den Universitäten und Mittelschulen in der Schweiz zu rumoren.
Wird die studentische Mitbestimmung geköpft? Studierende der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften demonstrieren im Juli 1969 mit einer Guillotine für das Mitbestimmungsrecht. bild: Staatsarchiv Bern
Am 8. März 1968 besetzten 200 Schüler*innen des Lehrerseminars in Locarno ihre Aula und forderten eine Reform der Unterrichtsmethoden und Studienpläne. Aufgeschreckt von den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Ausland, lenkten die Behörden ein und ernannten einen neuen Schuldirektor, der eine Reform durchführen sollte. Einen Monat später boykottierten die Studierenden der Universität Freiburg die Semestereinschreibung, nachdem die Gebühren erhöht worden waren. In Lausanne wurde die Demokratisierung des Studiums gefordert. Daraufhin bewilligte das Rektorat einen Studientag, an dem die Studierenden, anstatt Vorlesungen zu besuchen, mit den Professoren über Verbesserungen in der Lehre diskutierten. In Genf gipfelten die Proteste im Februar 1969 in einer viertägigen Besetzung des Rektorats durch 200 Studierende. Auslöser war eine Anordnung des Rektorats, welche das Ziel hatte, die Dienstleisungsrechte der Association générale des étudiants (AGE) zu beschneiden. Die AGE sei aufgrund interner Streitereien nicht mehr funktionsfähig, lautete die Begründung. Die Anordnung sollte eine „Radikalisierung“ der Studierendenschaft verhindern.
In der Deutschschweiz setzten die Studierenden vorerst auf Austausch und Information. In Zürich plante die Fortschrittliche Studentenschaft im Frühling 1968 Rudi Dutschke, Wortführer der Westdeutschen Studentenbewegung, zu einem Seminar einzuladen. Ein Attentat auf Dutschke verhinderte jedoch dessen Besuch. An seiner Stelle kamen drei Vertreter des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes nach Zürich. Da die Erziehungsdirektion die Veranstaltung verbot, erzwangen über tausend Studierende mit einem Go-in die Abhaltung des Seminars im Lichthof der Universität. Auch in Basel interessierten sich die Studierenden für die Bewegungen im Ausland. Ende Juni 1968 organisierten die frisch gegründeten Progressiven Studenten Basel auf dem Petersplatz eine öffentliche Diskussion, an der etwa 3000 Personen teilnahmen.
Und in Bern? Hier ging es in der Nachkriegszeit unaufgeregt zu. Selbst er damalige Rektor, Alfred Amonn, meinte, dass die Universität Bern eine „konservative und eigentümlich Art eines Wissenschaftsbetriebes“ darstelle. Alljährlich wurde der Dies academicus mit glanzvoller Pracht im Casino inszeniert. Zu Ehren der Verstorbenen gab es einen Fackelzug durch die Altstadt und im Schweizerhof fand ein Familienabend für Dozierende statt. Die SUB organisierte Film- und Theaterabende und pflegte beste Beziehungen zum Rektorat. Die äussere Repräsentation der Universität entsprach weitgehend den Normen des 19. Jahrhunderts.
Dagegen war die Universität der 1960er Jahre eine Hochschule im Umbruch. Die Studierendenzahlen wuchsen in ganz Europa stark an. Die kleinen, beschaulichen Universitäten, welche zuvor massgeblich der Sicherung von bildungsbürgerlichen Privilegien dienten, wandelten sich zu Massenuniversitäten. Es fand eine „Demokratisierung“ der Hochschulbildung statt, da nun breitere soziale Schichten Zugang zur Hochschulbildung erhielten. Dieser Prozess wurde vom Staat aktiv gefördert, vor allem weil sich in der boomenden Privatwirtschaft ein Mangel an qualifizierten Nachwuchskräften abzeichnete. Die Folgen dieser Entwicklung waren überfüllte Hörsäle und Studierendenheime. Es entstanden neue Wohnformen wie die WG, die traditionellen Studierendenverbindungen verloren an Bedeutung, die Studierenden politisierten sich.
Studierende verhindern Vortrag über den « staatsbürgerlichen und erzieherischen Wert der Armee» mit Pfiffen, Eiern und Stinkbomben. bild: Staatsarchiv Bern
In Bern wurde im Zuge dieser Entwicklung im Jahre 1966 der Studierendenrat eingeführt und der Vorstand verkleinert. Die SUB war nicht weiter „politisch und konfessionell neutral“, sondern „politisch und konfessionell unabhängig“ und konnte, gemäss Statuten „zu aktuellen Fragen Stellung nehmen“. Die Ratsmitglieder spalteten sich in ein rechtes und ein linkes Lager. Die Wahlen, zuerst nach Majorz- und später nach Proporzverfahren, brachten 1972 erstmals einen mehrheitlich linken SUB-Vorstand hervor. Mit den neuen Mehrheitsverhältnissen bildete die SUB innerhalb der eher konservativ ausgerichteten Universität eine Opposition. Ausdruck davon waren Streiks, Institutsbesetzungen, die Bildung diverser Arbeitsgruppen und eine gewaltige Flugblattpublizistik.
„Heuchelei“ in der Habilitationskommission
Zu den heftigsten Kontroversen führten in Bern die Einstellungsentscheide der Universität. Von Seiten der Studierenden wurde den Entscheidungsträgern vorgeworfen, dass linke, kritische Dozierende bei Personalentscheiden und in Berufungsverfahren aktiv verhindert würden. Die Studierenden skandierten „Marxisten statt Militaristen“ und forderten mehr Mitsprache in Berufungsverfahren.
Ende 1970 führte die Nicht-Habilitation des marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz zur Eskalation. Im Habilitationsverfahren wiesen Mitglieder der Habilitationskommission einerseits auf inhaltliche Mängel der vorgelegten Schrift hin, andererseits wurde über seine politische Gesinnung diskutiert. So stellte beispielsweise Prof. Olof Gigon klar, dass er keinen marxistischen Dozierenden an der Universität Bern wünsche, der seine politische Einstellung öffentlich bekanntmachte und womöglich propagierte. In einem Brief an den Dekan bezeichnete er die linksfreundlichen Mitglieder der Habilitationskommission als „Superliberale“ und warnte vor einer Habilitierung von Holz, da sich dieser bei einem Verbleib an der Uni Bern auf die Seite studentischer Gruppierungen schlagen könnte. Wenige Tage später schrieb auch Holz einen Brief ans Dekanat, in dem er sich verteidigte und betonte, dass er sich in die Selbstgestaltung des politischen Lebens eines Gastlandes nicht einmische, sich jeder politischen Tätigkeit oder Stellungnahme strikt enthalte und den Rechtsstaat, sowie die demokratische Ordnung der Gesellschaft als unbedingt verteidigungswürdig betrachte.
In der Habilitationskommission konnte man sich nicht einigen und so wurde der Entscheid verschoben und Holz wurde zu drei Vorträgen eingeladen. In der Folge startete die Studierendenschaft eine Petition und begann Unterschriften für die Habilitation von Holz zu sammeln, da man den Eindruck hatte, dass das Verfahren aus politischen Gründen verschleppt wurde.
Nach den Semesterferien hielt Holz seinen ersten Vortrag zum Thema „Das ästhetische Werturteil und die Konstitution des Gegenstandsbereiches der Kunst“. Nach 45 Minuten fragte Holz ins Publikum, ob er noch etwas länger sprechen könne. Gigon gab seine Einwilligung in herablassender Art. Und auch ein weiteres Mitglied der Kommission äusserte sich gegenüber Holz in einem unhöflichen, schulmeisterlichen Tonfall. Der Betreuer der Habilitation war schockiert: Er fühlte sich hintergangen, da er den Eindruck hatte, es bestünden vorgefertigte Meinungen. Zu seinen Studierenden sagte er, dass die Habilitation aus politischen Gründen verhindert werde, er sprach von „Heuchelei“. In der Kommission herrschte eine offene Vertrauenskrise. Und bald darauf verteilten Studierende Flugblätter mit dem Titel „Die Arroganz der Dummheit“, worin die „Professorenclique“ auf polemische Weise beschimpft wurde. Es folgten zwei weitere Vorträge und ein öffentliches Hearing in der Aula, vor über tausend Zuschauer*innen und versammelter Presse. Schliesslich beschloss die Fakultät, die Habilitation abzulehnen. Die Studierenden bestreikten die Vorlesungen der linksfeindlichen Professoren der Kommission. Und Holz erhielt ein Jahr später eine Professur für Philosophie an der Universität Marburg.
Protest für Jean Ziegler
Die Nicht-Habilitation von Holz gilt als ein Beispiel für die Ablehnung linksorientierter Professoren an der Universität Bern und stand zu Beginn einer Reihe ähnlicher Fälle. Die Nicht-Anstellungen oder Nicht-Beförderungen der Sozialwissenschaftler Peter Atteslander, Urs Jäggi und Jean Ziegler und des Philosophen Hans Saner sowie des Theologen und Dichters Kurt Marti wurden von linken Studierenden als „politisch-undemokratische Machenschaften“ kritisiert.
Am aufgeregtesten war die Stimmung am Soziologischen Institut. Nach mehreren umstrittenen Einstellungsentscheiden und einer Verschlechterung der Studienbedingungen besetzten die Soziologiestudierenden 1971 ihr Institut. Sie forderten die Berufung von Prof. Urs Jäggi zum Ordinarius und die Beförderung zum Ausserordentlichen Professor von PD Jean Ziegler. Zudem engagierten sie sich für die Aufwertung ihres Faches vom Neben- zum Hauptfach. Doch die Besetzung endete erfolglos. Am Ende setzte sich gar der rechte Fakultätsflügel durch und berief den Altphilologen und Soziologen Walter Rüegg, dem der Ruf eines Hardliners vorauseilte. Rüegg war in der Schweizer Öffentlichkeit bereits bekannt, vor allem wegen der durch ihn angeordneten polizeilichen Räumungen des besetzten Campus der Uni Frankfurt. Als dieser dann noch den ehemaligen Wehrmachts-Offizier Viggo Graf von Blücher nach Bern holte und den alten Mittelbau weitgehend durch gleichgesinnte Assistierende ersetzte, verhärteten sich die Fronten zusehends und es kam 1974 zur zweiten Besetzung des Instituts. Sie wurde polizeilich geräumt.
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Dieser Text basiert auf der Masterarbeit von Melanie Spori: Die 68er an der Universität Bern. Die Professorenschaft und ihre Herausforderungen während den studentischen Unruhen von 1968-1975. Der Text erschien in der bärner studizytig #11 März 2018
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