Sommermoment #5
Illustration: Lisa Linder
Viele Berner*innen fahren im Sommer Velo. Unsere Autorin macht das aber so beständig, dass ihr sogar der Himmel applaudiert.
Wind kommt auf. Böenartig bläst er vertrocknete Blätter von den unförmigen Buchen in der Monbijoustrasse herunter, der ich mit meinem klapprigen Velo in Richtung Gurten entlangfahre. Von rechts weht er über die Wiese des Monbjiouparks, streift den Holzzaun und die niedrigen Büsche, welche die Wiese von der Hauptstrasse trennen, und schubst mich dann unsanft über den gelben Velostreifen zur Strassenmitte hin. Ich versuche das Gleichgewicht zu halten und trete noch mehr in die Pedale, aufzustehen getraue ich mich aufgrund des beträchtlichen Alters meines Gefährtes allerdings nicht.
Bei der Tramhaltestelle Sulgenau werfe ich einen kurzen Blick in den Himmel über mir. Er ist so bläulich-schwarz, dass ich genau weiss, was jetzt kommt. Die Ampel zum Linksabbiegen schaltet ausnahmsweise sofort auf grün, aber dadurch gewinne ich nur wenige Sekunden. Schon auf der Höhe des kleinen Coops in der Ecke der Eigerstrasse fallen die ersten Tropfen langsam und schwer nieder. Sie werden restlos vom aufgeheizten Asphalt unter mir verschluckt, und ein tüppig-warmer, feuchter Geruch steigt auf.
Ich ignoriere das Offensichtliche und fahre weiter. Kurz darauf beginnen die Tropfen in immer kürzeren Abständen zu fallen. Der Geräuschpegel steigt konstant an. Es ist wie eine gewaltige Welle, die von allen Seiten her langsam bricht und näher rollt. Ich fahre nochmals rund hundert Meter weiter.
Dann dreht der Himmel plötzlich alle Wasserhähne auf. Der Regen fällt bald so dicht, dass es aussieht wie ein riesiger Fliegenvorhang aus weissen Fäden, die auseinander reissen, sobald ich durch sie hindurchfahre. Um in diesem kompakten Schleier noch etwas zu erkennen, muss ich auf der Höhe des Schöneggweges unweigerlich abbremsen.
Beim Abbiegen in die schmale Quartierstrasse sehe ich die Umrisse einer Frau und zwei Kindern, die sich unter einen überhängenden Heckenzaun ducken. In kurzen Hosen, T-Shirt und Sandalen kauern sie auf einem kleinen trockenen Flecken Asphalt und schauen in den Regen hinaus. In dem Moment, in dem ich an ihnen vorbeifahre, ruft das grössere der beiden Kinder freudig zu den anderen: «Schaut mal wie das Wasser aufhüpft!»
Ich sehe es auch. Und ich spüre es. Die Tropfen prasseln jetzt laut und klopfend auf den blauen Stoff meiner Regenjacke. Diejenigen, die auf meinem Kopf landen, brauchen nur einen kurzen Moment, um den Weg zwischen den Ritzen des Helms hindurch zu meinen plattgedrückten Haaren zu finden. Ich fahre eilig weiter.
Bei der Abzweigung zum Schönausteg kommen mir gemächlich und lachend drei Erwachsene entgegen, bekleidet mit Badeanzügen, die Wertsachen sicher verstaut in farbigen Aareschwimmsäcken. Wir werfen uns einen knappen Blick zu. Im gleichen Moment ertönt über uns ein Krachen als würden mehrere riesige Baumstämme gleichzeitig umknicken. Ich zucke zusammen. Einen kurzen Augenblick lang überlege ich, anzuhalten und unter den Bäumen Schutz zu suchen. Doch stattdessen biege ich in den Veloweg in Richtung Wabern ab. Konstant steigt er an, ich fahre so schnell wie ich kann. Jetzt fühlt es sich genau so an, als würde ich unter der Dusche stehen.
Ich blinzle gegen die Bächlein an, die mir von der Stirn in die Augen laufen, als wäre ich gerade aus einem Schwimmbecken aufgetaucht. Wasser läuft auch in kleinen Wasserfällen von meinen Knien die Waden runter. Sie fühlen sich kalt an auf der nackten Haut. Langsam spüre ich, wie mir der Regen durch den Kragen der Jacke den Rücken hinunterläuft und sich irgendwo im T-Shirt verliert.
Der Geruch ist überwältigend. Wo vorher noch gerade Nichts war, erfüllt er jetzt die gesamte Luft um mich herum. Die Schwere der Feuchtigkeit raubt mir den Atem. Keuchend kämpfe ich mich den Weg hoch, Meter um Meter. Ausser mir ist niemand unterwegs. Den Blick stur auf die Fahrbahn gerichtet, erreiche ich schliesslich das Ende des Veloweges und biege rechts ab in Richtung Hauptstrasse.
Der Weg steigt jetzt noch steiler an. Aus den Augenwinkeln nehme ich ein Flackern wahr, so kurz als hätte ich es mir nur eingebildet. Doch fast zeitgleich erschüttert ein neues Krachen den Himmel über mir. Ich hoffe inständig darauf, dass der Blitz den Kirchturm der St. Michael Pfarrei trifft, und nicht mich. Beim dritten Donner erreiche ich die Seftigenstrasse. Dort überlässt mir das herannahende Auto mit einem Aufblitzen der Scheinwerfer mitleidig den Vortritt, sodass ich nicht abbremsen muss.
Ich überquere die Tramschienen, vor mir erhebt sich dunkel der Gurten. Vor dem Dorfschulhaus fliesst ein kleiner Bach um die Verkehrsberuhigung herum die Strasse hinunter. Ich stelle mir vor, wie winzige Gummiboote darauf schaukeln und mit kräftigen Paddelschlägen die Kurve zu erwischen versuchen, um nicht an den Randstein gespült zu werden. Wasser spritzt in alle Richtungen, als ich durch die meterbreite Wasserrinne am Strassenrand fahre. Währenddessen regnet es ungebremst weiter auf mich herunter.
Plötzlich kommt mir der Spruch in den Sinn, den ich vor ein paar Wochen auf einer Postkarte im DracheNäscht gesehen habe: «Wenn man die Augen schliesst, klingt der Regen wie Applaus.» Ich tue es und höre ihn. Tausende von Händen klatschen mir euphorisch zu. Zu meiner Rechten erklingt es von den Gärten und von den Ziegeldächern der schmucken Reihenhäuser hinunter.
Und auch zu meiner Linken wird applaudiert, etwas gedämpft durch die Kastanienbäume klopft der Regen auf das farbige Blech der parkierten Autos. Mit meinen völlig durchnässten Schuhen trete ich fest in die Pedalen und fahre wie auf der Zielgeraden eines Wettkampfes durch den donnernden Applaus, während über mir das Grollen in immer kürzeren Abständen den Takt vorgibt.