Sommermoment #17
Illustration: Lisa Linder
Unsere Autorin fährt Zug und fragt sich, wo der Sommer geblieben ist.
Es gibt diesen Mann mit den Karten und dem Papier. Er sitzt ein Abteil weiter vorne im Zug. Das Papier schreibt er voll, führt mit Bleistift eine Liste. Vor dem Blatt Papier die Karten. Ein ganzer Stapel alter Karten ist es, an den Rändern gewellt. Mindestens zehn Zentimeter hoch ist der Stapel und so ordentlich aufeinandergeschichtet, dass er einer kleinen Box gleicht. Ich esse mein letztes Käsesandwich und beobachte ihn. Frage mich, ob er Sammler ist, die Karten gekauft hat und jetzt alle nach Sujet, Alter und Adressat katalogisiert. Oder ob er weder Mail noch Telefon besitzt und die Karten an seine Freunde und Verwandte verschickt.
Aber wer hat schon Verwandte und Freunde, die für einen zehn Zentimeter hohen Stapel Karten ausreichen? An ihm vorbei sehe ich draussen Berge und See und Sonne. Die Scheibe ist schmutzig, das macht den Bergen nichts, aber ich sehe die Sonnenstrahlen auf dem See nicht richtig, weil da braune Schlieren dazwischen sind. So war dieser Sommer, denke ich mir. Ich hab’ ihn nur ganz entfernt durch eine Fensterscheibe gesehen, und auch da nur mit Schlieren und Staub – ganz unwirklich, so weit weg war er. Und hinter der Fensterscheibe, also da, wo ich sitze, da regnete es und die Lüftung zieht, sodass ich einen Pullover anziehen muss. Ich möchte lieber auf der anderen Seite der Fensterscheibe sein.
In Zürich packe ich Buch und Kopfhörer in den Rucksack und dränge mich durch den Gang zur Tür. Einen Moment muss ich warten. Jemand blockiert die Tür, es sind noch andere vor mir. Da spüre ich, wie etwas meinen Rucksack streift. Ich drehe mich um, sehe aber nichts Ungewöhnliches. Nur der Mann mit den Karten und dem Papier, der sitzen bleibt, obwohl Zürich Endstation ist. Ich steige aus und wieder ein, in den Zug nach Bern. Als ich den Rucksack auf den Nebensitz fallen lasse, sehe ich etwas aus der Seitentasche herausragen. Ich ziehe daran. Es ist eine Karte mit gewelltem Rand.