Sommermoment #16

Illustration: Lisa Linder

23. August 2021

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Im Autozug gen Norden entdeckt der Autor eine ganz neue Möglichkeit, seinen Uni-Abschluss auf die lange Bank zu schieben.

Ich muss kurz umrechnen: 60 Minuten sind eine Stunde; dann sind 260 Minuten rund viereinhalb Stunden. «Deutsche Privatzüge sind also noch unzuverlässiger als die Deutsche Bahn», denke ich mir, während ich in den wolkenverhangenen Himmel ob Göttingen schaue. Ich liege in einem Schlafabteil des Bahn Touristik Express. Der Autozug gen Norden ist in die Jahre gekommen: Abgewetzte blaue Sitzpolster, dunkle Kratzer an der Decke und blickdichte gelbe Gardinen, in deren Klettverschluss sich Überreste aus Jahrzehnten deutscher Bahngeschichte sammeln.

Dass die nächtliche Überfahrt keine Luxusreise wird, zeichnete sich bereits beim Autoverlad in Lörrach ab: Der Güterbahnhof ennet der Grenze war so unscheinbar wie verlottert. Im heruntergekommenen Wartesaal standen ein paar Stühle zusammengeschoben in einer Ecke, zum Händewaschen im WC fehlte das Wasser. Stattdessen gabs draussen am Imbisstand Currywurst und Pommes für das Bahnpersonal und die Reisenden, die sich auf Plastikstühlen zwischen zwei Schienensträngen auf die anstehende Fahrt vorbereiteten.

Nun also die Verspätung. «Grund dafür sind diverse Vorkommnisse», tönt es aus dem Lautsprecher. Mehr kommt nicht. Ob dieser Nicht-Information muss ich kurz schmunzeln. «Das nächste Mal, wenn ich eine Fristverlängerung für eine Seminararbeit benötige, gebe ich als Grund auch einfach ‘diverse Vorkommnisse’ an», denke ich mir.

Inzwischen steht der Autozug kurz nach Hannover auf einem Nebengleis. Zum x-ten Mal werden wir so von einem Schnellzug überholt. Im Nachbarabteil wird derweil sinniert, ob sie aufgrund der Verspätung ihre Fähre nach Skandinavien verpassen werden oder ob es vielleicht doch noch reicht.

Ich habe zum Glück keine Eile und lege den Laptop beiseite, um nochmals zu schlafen. Dafür bleibt bis Hamburg genügend Zeit: 178 Minuten – mindestens.

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