Sommermoment #15
Illustration: Lisa Linder
Wie wäre es, wenn alles gleich wäre, nur umgekehrt? Gedanken zu Genderstereotypen auf dem Schwarzen Meer.
Ich bin gerade auf einer Fähre von Bulgarien nach Georgien. Drei Tage dauert die Überfahrt, einmal ostwärts quer durchs Schwarze Meer. Es geht hier so sexistisch zu und her, dass ich nicht anders kann, als mir vorzustellen, wie alles gleich wäre – nur eben andersherum:
Die Fähre ist eher Fracht- als Passagierschiff, und an Bord befindet sich ein Gemisch aus Lastwagenfahrerinnen und Reisenden. Die Truckerinnen, ausnahmslos Frauen, sind eher in Überzahl. Unter den Reisenden sind jüngere und ältere Paare, die meisten auf längeren Velo-, Motorrad-, Camper- oder Backpacking-Reisen. Auch zwei junge Männer aus Deutschland sind dabei. Sie fallen den Truckerinnen von Beginn weg auf, denn sie sprechen etwas georgisch und, vor allem, sind ohne weibliche Begleitung unterwegs. Jung und schön sind sie, die beiden, auf dem Weg zu einer Community in Ostgeorgien, wo sie beide vor einiger Zeit ein Jahr Freiwilligendienst gemacht haben.
Nach dem Frühstück beginnen die Lastwagenfahrerinnen – die meisten von ihnen vom Leben in einsamen Führerinnenkabinen und zu vielen Kneipen gezeichnete Frauen über fünfzig – mit dem Trinken. Zuerst Bier, dazu viele Zigaretten. Beim Mittagessen dann Vodka auf dem Tisch, dazu Bier und Pouletschenkeli. Es ist bereits so laut im Speisesaal, dass die restlichen Passagiere sich kaum unterhalten können beim Essen. Die Frauen sprechen laut, lachen noch lauter und starren ausnahmslos jedem Mann, der aufsteht, auf die Beine. Bald ist der Tisch überstellt mit Dosen, Flaschen und Knochen, aus dem Lachen wird Grölen und aus dem Starren werden Bemerkungen.
Die meisten männlichen Passagiere machen fortan einen Bogen um den Speisesaal oder huschen, wenn sie müssen, möglichst unauffällig vorbei. Viele verbringen den Nachmittag auf Deck. Der eine junge Mann aus Deutschland hat sich eine Hängematte zwischen zwei Metallstützen gehängt und liest. Bald stossen zwei Truckerinnen dazu. Sie gehören zu den Jüngeren an Bord, haben aber auch Mitte dreissig schon ansehnliche Bierbäuche. Ihre Wangen sind gerötet vom Alkohol, ihre nackten Bäuche von der Sonne. Es scheint sich niemand daran zu stören, dass sie ihre T-Shirts ausgezogen haben. Sie sprechen laut auf den jungen Mann ein und stehen angesichts der Gesprächslautstärke viel zu nahe bei ihm, während sie ihn fragen, weshalb er georgisch könne und ob er verheiratet sei.
Bald liegt die grössere der beiden barbäuchigen Frauen in der Hängematte und raucht, der junge Mann sitzt daneben auf dem Boden. Die Frauen sprechen so laut und viel, dass er schliesslich gar nichts mehr sagt und versucht, sie freundlich zu ignorieren. Das nimmt die grössere Truckerin, die sich wohl etwas zurückgewiesen fühlt, zum Anlass, grösseres Geschütz aufzufahren, um die männliche Aufmerksamkeit doch noch auf sich zu lenken: Sie torkelt übertrieben wackelig zur Reling und lehnt sich schreiend darüber, bis ihr Schwerpunkt nur noch wenige Millimeter vor dem tödlichen Sturz steht. Die Kleinere hält ihre Kameradin am Hosenbund fest und grölt.
Indessen haben sich den ganzen Nachmittag über im Speisesaal immer mehr Dosen, Becher und Flaschen auf den Tischen angesammelt. Die Lautstärke ist nur schwer auszuhalten und saubere Tische gibt es beim Abendessen zu wenige. Die Frauen trinken unentwegt weiter, viele schwanken, manche treffen den Becher nicht mehr beim Einschenken und andere die Töne nicht bei den Liedern, die sie anstimmen.
Nach dem Essen halten sich alle draussen auf. Tourist*innen wollen sich den Sonnenuntergang ansehen. Eine Gruppe lallender Frauen hält sie davon ab, indem sie sie zu einem Spiel überreden wollen: Zwei Stühle, alle Menschen rundherum, bei Stopp muss man sich setzen, und wer nicht sitzt, bekommt Wasser über den Kopf geleert. Als die Gruppe junger Leute nicht so recht mitmachen will, werden sie von den älteren Frauen buhend Langweiler genannt. Dann packt sich eine grosse, sehr betrunkene Frau mit grauen Haaren und kalten, hellen Augen den leichtesten Mann in der Gruppe, hebt ihn hoch und trägt ihn zu dem Stuhl. Die Kolleginnen lachen, sodass sich die Frau ermutigt fühlt und auch den zweitkleinsten Mann der Gruppe gleich umplatziert. Diesem ist es sichtlich unangenehm, sein Gesicht läuft rot an.
Die Stimmung unter den Truckerinnen wird ausgelassener und schlussendlich das Spiel gespielt, das niemand ausser ihnen spielen wollte. «Aber ohne Wasser!», sagt der Mann, der vorher als erster hochgehoben wurde. Die erste Runde wird ohne Wasser gespielt, bei der zweiten ist diese Vorgabe längst vergessen und eine dicke Frau mit Zigarette im Mundwinkel und einer Pet-Flasche in der Hand spritzt alle anderen nass. Die Grosse mit den kalten Augen will daraufhin den kleinen Mann noch einmal hochheben. Eine Touristin sagt ihr, sie solle aufhören. Sofort zieht sich ein aggressiver Schleier über das Gesicht der Truckerin. Sie fühlt sich offensichtlich provoziert. Die Stimmung schwankt innert einer Sekunde von ausgelassen zu angriffslustig – alle spüren es. «Kommt, wir schauen doch jetzt den Sonnenuntergang», sagt ein Tourist, um einer Eskalation vorzubeugen.
Die Grosse mit den kalten Augen setzt sich daraufhin zwischen die beiden jungen deutschen Männer, die kurze Hosen tragen und ohne Frauen unterwegs sind. Sie hat je eine Hand auf die nackten Oberschenkel der beiden Männer gelegt. Beide wischen die Hand regelmässig weg, um sie wenig später wieder auf ihren Oberschenkeln zu spüren.
Die dicke Frau mit der Pet-Flasche nähert sich ihnen von hinten. Sie verspritzt eine grosse Menge Wasser über den Nacken der Kaltäugigen. Diese jault auf und stirbt kniend, schreiend und mit ausgebreiteten Armen einen Filmtod.
Später reden zwei Frauen gleichzeitig auf den einen jungen Deutschen ein. Als dieser aufsteht und weggeht, sagen sie ihm, er solle Essen machen gehen. Beide Frauen lachen, rauchen und streicheln ihre Bierbäuche. Ihnen wird bald langweilig, weshalb sie zur Pet-Flasche greifen und eine Gruppe junger Männer, die sich etwas abseits auf den Boden gesetzt hat, noch einmal nassspritzen.
Warum, frage ich mich, sind diese Szenen genau so wahrscheinlich noch gar nie, nirgendwo auf der ganzen Welt, geschehen? Während sie umgekehrt nichts wirklich Besonderes sind, weil «unter Truckern halt noch ein rauer Umgang herrscht» oder weil «die nun mal selten eine Frau sehen und meistens auch nicht trinken dürfen und sich dann halt wieder einmal austoben müssen»?
Wie würde die Welt reagieren, wenn Frauen* mit dieser Selbstverständlichkeit so viel Raum einnähmen, der ihnen nicht zusteht, sich nackt zeigten, wo sie niemand nackt sehen will, und unentwegt Grenzen überschritten, während sie sich öffentlich betränken? Wieso erscheint uns diese Vorstellung absurd, ja grotesk? Und warum nerven wir uns zwar, wenn Männer all das tun, aber finden es halt doch irgendwie normal? Und, verdammt nochmal, wieso gibt es Leute, die mir weismachen wollen, das Patriarchat gäbe es nicht mehr?
Ich will mich nicht öffentlich betrinken und dabei unentwegt die Grenzen anderer überschreiten. Und ich weiss, dass auch die meisten Männer, die ich kenne, das nicht wollen. Aber ich will eine Welt, in der alle Geschlechter gemeinsam einen über den Durst trinken können. In der wir alle auch mal laut sein, Witze reissen und flirten können – und dabei den Respekt füreinander und für unsere Grenzen trotzdem nicht verlieren. Ich will eine Welt, in der der Vollrausch des einen nicht auf die Kosten des anderen Geschlechts geht.