Sommermoment #11
Illustration: Lisa Linder
Das kurze Verweilen auf einem grünen Fleck vor dem Historischen Museum bringt unserer Autorin eine Lektion über die Praktikabilität von Jute-Beuteln, eine Narbe und einen absurden Sommermoment.
Es ist ein milder Sommerabend und ich habe soeben mit meiner Arbeit abgeschlossen. Noch 1.5 Stunden bis zum Abendessen. Mein Bruder hat eingeladen. Und nur noch 15 Minuten bis mich meine Freundin anrufen will. Wohin also? Ich radle mental den Weg nach Wittigkofen ab. Kurz darauf schwinge ich mich auf mein Fahrrad. Wohin also? Ausserhalb des PH- Medienzentrums könnte ich auf das gute alte Uni-Wifi zugreifen. Als ich die sonnenüberflutete Wiese im Vorgarten des Historischen Museums erblicke, fasse ich einen Entscheid und setze mich auf eine Bank im Schatten der alten Bäume.
Noch 5 Minuten. Ich lese noch ein paar Zeilen meiner Sommerlektüre, als endlich mein Telefon klingelt. Das Gespräch ist intensiv und persönlich. Ich nehme am Rande wahr, wie das Pärchen mit der Picknickdecke den kleinen Park verlässt. Beim Tor sehe ich einen jungen Mann verweilen. Nach dem Telefonat will ich noch einmal ein paar Zeilen lesen. Es ist still geworden. Ein unwohles Gefühl bewegt mich dazu, meinen Schattenplatz trotzdem bereits zu verlassen. Das Buch weggesteckt, laufe ich auf das Tor zu – es ist 17:40 Uhr. Ich drücke die Klinke aus altem Gusseisen nach unten – nichts tut sich. Noch ein Versuch. Das Tor öffnet sich nicht.
Leise Panik macht sich in mir breit. Ich versuche, entspannt zu bleiben. Ich wende mich dem zweiten Tor zu, mit ähnlich wenig Erfolg. Meine bösen Vorahnungen bestätigen sich: Ich bin gefangen – im Innenhof des Historischen Museums. Wie konnte man mich inmitten des Vorgartens übersehen? Und wieso um alles in der Welt schliesst ein öffentliches Gebäude um 17:30 Uhr? Ich fasse neuen Mut: Seit ich den jungen Mann an den Toren gesehen habe, sind keine zehn Minuten vergangen. Es wird also wohl noch irgendwo jemand sein. Ich überquere bestimmten Schrittes den grossen Kiesweg. Ich linse hinüber zum Bistro. Dieses sieht leider verlassener aus als die Universität während des Lockdowns. Ich wende mich stattdessen dem Museumseingang zu. Wer hat hier wohl zuletzt die Klingel betätigt? Mit wenig Hoffnung drücke ich trotzdem mehrmals auf den Knopf – ein weiteres Mal: nichts.
Zum Glück gibt es das Smartphone: Schnell ist die Museums-Nummer gewählt, die mir Google Maps nach kurzer Recherche ausspuckt. Es klingelt drei Mal – Telefonbeantworter: «Das historische Museum ist zurzeit geschlossen. Sie erreichen uns zu unseren Öffnungszeiten wieder.». Stimmt ja, geschlossen – das ist mir auch schon aufgefallen. Kann man eigentlich für unfreiwilligen Hausfriedensbruch angeklagt werden? Mein Unbehagen wächst von Minute zu Minute. Andererseits ist die Situation auch zu komisch. Ich freue mich bereits darauf diese Geschichte zum Besten zu geben – das setzt allerdings voraus, dass ich zuerst hier rauskomme.
Mein Bruder fragt inzwischen, ob wir uns bei der Migros treffen wollen – ich schreibe lässig zurück: «Ja klar. Bin nur gerade im Historischen Museum eingesperrt – irgendeinen Rat?» Humor hat wohl schon immer zu meinen Coping-Mechanismen gehört. «Klettern», lautet seine trockene Antwort «Im Internet sieht die Front nicht sehr hoch aus.» Ein nett gemeinter Tipp, aber ich verzichte dann doch lieber darauf, meine Kleider von den Gitterstäben mit Eisenspitzen zerreissen zu lassen.
Noch 10 Minuten bis zum vereinbarten Zeitpunkt. Mein Pflichtgefühl für Pünktlichkeit drängt mich zu einer weiteren Runde um die Mauern. Endlich finde ich neben dem kleinen Steintürmchen eine Regenrinne – exakt auf Tritthöhe gebogen. Meine Gebete wurden erhört. Ich erklimme die Zinnen, lasse meine Füsse auf der anderen Seite baumeln und verfluche leise den «Jute-Beutel-Trend», welcher mir gerade massive Schlagseite nach rechts verursacht.
Nach 1.5m Fall erreiche ich den harten Bürgersteig der Freiheit. Ich blicke auf und stelle leicht verlegen fest, dass ich soeben zehn Leuten im Restaurant Ambassador sozusagen mitten ins Abendessen geplatzt bin. Egal – das Hochgefühl über meine gelungene Flucht aus dieser Bredouille überwiegt. So stark, dass ich das brennende Gefühl einer frischen Schürfung erst wahrnehme als ich pünktlich die Jupiterstrasse erreiche. Ein kleines Andenken, welches mich seitdem in Form einer Narbe immer noch begleitet.