Sommermoment #6
Illustration: Lisa Linder
Ein halbnackter Schwager und ein im Dunkeln tappender Autor: Ein Besuch der nicht ganz alltäglichen Sorte.
Nervös stehen wir vor der Eingangstür. Endlich ist es soweit. Am liebsten wäre ich schon vor zwei Tagen gekommen, musste stattdessen aber arbeiten. Soll ich läuten oder doch besser eine Nachricht schreiben? Ich entscheide mich für Letzteres. Kurz darauf summt der Türöffner und wir steigen die Treppe hoch. Im ersten Stock steht meine Schwester lächelnd im Türrahmen. Ich umarme sie. Während ich ungeduldig meine Schuhe ausziehe, begrüsst sie meine Freundin.
Als wir den Eingangsbereich der Wohnung betreten, höre ich gerade noch, wie eine Tür geschlossen wird. Ihr Freund müsse noch kurz eine Hose anziehen, sagt meine Schwester. Ich schmunzle. Kurz darauf taucht er wieder auf und wir begrüssen uns. Dann folgen wir ihm ins abgedunkelte Schlafzimmer. Mein Blick fällt zuerst auf die karierte Wolldecke auf dem Bett. Auf ihr liegt ein senfgelbes Tuch.
Weil ich nichts erkennen kann, drehe ich den Kopf und schaue zur kleinen Holzkonstruktion neben dem Bett: Auch nichts. Der Freund meiner Schwester geht um das Bett herum und setzt sich auf die Kante. Also gehe auch ich etwas weiter ins Zimmer und schaue nochmals aufs Bett. Erst dann sehe ich den kleinen Kopf, der unter dem senfgelben Tuch hervorragt. Die feinen, dunklen Härchen scheinen an ihrem Kopf zu kleben. Sie ist so winzig. Und doch ist alles da: Beine, Arme, Hände, Fingernägel, einfach alles in Miniatur. Nur die Füsse sind im Verhältnis schon gross.
Entspannt döst sie vor sich hin. Wir setzen uns ans Bettende. Leise heissen wir sie willkommen.