Mein Schattenplatz #8
Illustration: Moritz Koller
Wo sonst nur Hektik und Jähzorn herrschen, atme ich tief durch.
Dort wo Gleise quietschen, Lokomotiven dröhnen und Bünzlis sich enervieren, finden mein Haupt und Geist den ersehnten Schatten. Das mag nun überraschen, sind die Bahnhöfe dieser Welt doch wenig geruhsame Flecken. Sie sind keine Orte des Verweilens, sondern immer nur Station auf der Durchreise zu einem anderen Ziel. Leute drängeln ungestüm zu den Zugeingängen, nachdem sie sich gehörig über die scheinbar alltäglichen einhundertunddreiundsechzig Sekunden Verspätung empört haben. Und wenn es einmal knüppeldick kommt, dann beklagen sie sich über den wegen eines, wie die SBB gutschweizerisch euphemistisch auszudrücken pflegt, „Personenunfalls“ ausbleibenden Zug – viel zu sehr mit ihrer Zeiteinbusse beschäftigt, um zu erkennen, dass der Tod in seiner fürchterlichen Wucht gerade ungleich einschneidender über andere Existenzen hereingebrochen ist. Wie man unschwer zu erkennen vermag, gelingt es dem Bahnhof, hin und wieder auch den Choleriker in mir heraufzubeschwören. Auch an den schummrigsten Schattenplatz dringen durch Reflexion gelegentlich ein paar Sonnenstrahlen.
Warum zieht es mich aber immer wieder dahin? Es mag daran liegen, dass der Bahnhof das Tor zur Welt ist. Wer etwas sehen will und, vor allem, wer jemanden sehen will, wird ihn kaum meiden können. Er ist darum in unserer ausdifferenzierten Welt einer der letzten gesellschaftsübergreifenden Begegnungsorte und ein Hort der Inklusion. Denn auf dem Gleis sind wir alle gleich. Erst wenn der Zug einfährt, teilt sich die Masse in die Erstklassigen und den Rest. Die soziale Bedeutung der Bahnhöfe ist also kaum zu überschätzen, mehr noch: Lenins Rückkehr nach Russland, die sich im April zum hunderten Mal jährte, zeigt: auch eine Revolution beginnt am Bahnhof.
Wer kennt nicht die Sehnsucht, die der Nachtzug auf dem Gleis vis-à-vis auslösen kann, nach Berlin oder Venedig oder Prag? Wer hat nicht schon mit dem Gedanken gerungen einfach einzusteigen, ohne zu überlegen und in einer anderen, hoffentlich fremden Stadt aufzuwachen? Und wer hat sich dann doch beherrscht und ist brav in seine S-Bahn gestiegen? Der Bahnhof lässt all jene träumen, die nicht ankommen wollen – ein Zufluchtsort für die Heimatlosen. Gleichzeitig ist er ein Schutzraum der Menschen, die zu einem Leben im Schatten verdammt sind. Der Bahnhof ist ihr Refugium, aber ebenso ein Abstellgleis.
Und ich kann endlich durchatmen an diesen Orten der ständigen Bewegung. Sie schenken meiner Rastlosigkeit eine Bestimmung, meinem Fernweh eine Heimat.