«Die Parteien hatten Angst vor dem Volksentscheid»
Nenad Stojanović im Interview (Bild: Sam von Dach)
Der Tessiner SP-Mann und Politologe Nenad Stojanović lancierte ein Referendum gegen die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative – und das obwohl er die jetzige Lösung befürwortet. Im Gespräch mit der bärner studizytig äusserte er sich über Ressourcenprobleme, parteistrategische Denkweisen und Optimierungsmöglichkeiten der direkten Demokratie.
Herr Stojanović, im Interview mit dem Infosperber erwähnten Sie, dass die Nächte während des Referendums kurz sind. Schlafen Sie wieder mehr als fünf Stunden?
Ja, jetzt wieder. Ich konnte mich in den Ferien erholen und sehr lange schlafen, auch heute Morgen. Gegen Ende, war ich aber schon müde.
Haben Sie den ganzen Aufwand, den ein Referendum mit sich zieht, unterschätzt?
Es war zwar das erste Mal, dass ich persönlich ein Referendum lanciert habe, aber ich hatte schon zuvor Erfahrungen mit Unterschriftensammlungen gemacht. Ich wusste, was mich erwarten würde. Erschwerend war sicher, dass ich am Morgen der Lancierung Ende Dezember noch komplett unvorbereitet war.
Was war der Grund für diesen improvisierten Start?
Dafür gab es mehrere Gründe: Am 10. Dezember war ich zum dritten Mal Vater geworden. Ich war im Vaterschaftsurlaub und fand keine Zeit um mich intensiv auf ein mögliches Referendum vorzubereiten. Zusätzlich war bis zum 16. Dezember nicht klar, ob das Gesetz zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative überhaupt kommen würde, und wenn ja, mit welchem Inhalt. Als der Inländervorrang light beschlossene Sache war, stellte sich die Frage wer ein Referendum lancieren würde. Die Rechten verzichteten. Als ich mich dann für das Referendum entschied, musste es schnell gehen.
Weshalb gelang es Ihnen nicht die benötigten 50’000 Unterschriften zu sammeln?
Eine Referendumskampagne zu führen ist teuer und ohne entsprechende Geldmittel schwierig. Das erklärt auch, weshalb im Normalfall ein erfolgreiches Referendum nur von Parteien, Gewerkschaften oder reichen Leuten lanciert werden kann. Für ein Bürgerkomitee, wie wir das waren, ist das fast unmöglich.
«Wenn am Ende nicht einmal 1% des Stimmvolkes das Referendum unterschreiben wollte, dann ist das auch eine implizite Legitimierung des Entscheides.»
Waren die fehlenden Ressourcen der einzige Grund, weshalb es am Ende nicht klappte? Könnte das mangelnde Interesse der Bevölkerung nicht auch als eine breite Akzeptanz der MEI-Umsetzung interpretiert werden?
Der Hauptgrund waren die fehlenden Ressourcen. Mit einer halben Million Franken Budget und 20 Freiwilligen, die sich Teilzeit engagiert hätten, wäre das Referendum zustande gekommen. Ich würde sogar behaupten, dass irgendein Referendum, unabhängig von seinem Inhalt, 50’000 Unterschriften zusammenbringt, sofern die entsprechenden finanziellen und personellen Mittel vorhanden sind. Es gab aber immer wieder auch Personen, die mit der Umsetzung des Artikels zufrieden waren und deshalb nicht unterschreiben wollten. Und wenn am Ende nicht einmal 1% des Stimmvolkes, was die 50’000 Unterschriften ungefähr sind, unterschreiben wollte, dann ist das auch eine implizite Legitimierung des Entscheides.
Die Umsetzung des Masseneinwanderungsartikels war höchst umstritten. Die Grundsatzidee hinter Ihrem Referendum erhielt Zuspruch von VertreterInnen unterschiedlicher politischer Couleur. Trotzdem blieb der Support für das Referendum durch die grossen Parteien aus. Wieso?
Obwohl wir in einer direkten Demokratie leben, hatten die Parteien Angst vor dem Volksentscheid. Für sie war es angenehmer, die Thematik auf parlamentarischer Ebene zu belassen und nicht die Bevölkerung dazu zu befragen.
«Man muss nicht um den heissen Brei reden: Das ist keine Umsetzung.»
Wie kam das?
Weil das Volk, im Sinne einer Summe von Bürgerinnen und Bürger, unberechenbar ist. Die Parteien hatten aus unterschiedlichsten Gründen Angst, weil sie nicht wissen konnten, wie sich das Schweizer Stimmvolk im Rahmen einer Abstimmung entscheiden würde. Die SVP hatte Angst, dass eine Mehrheit das Gesetz annehmen würde. Denn damit wäre die ganze Konstruktion, welche die SVP zu bewirtschaften versucht, zusammengebrochen.
Was ja auch Ihre Absicht war.
Ja, das war meine Absicht. Ich habe das aber auch von Beginn weg klar gesagt. Für die SVP und die Lega im Tessin ist es nun viel günstiger zu beklagen, dass die politischen Eliten Volksverrat begangen haben, ein Verfassungsbruch vorliege und dass die MEI nicht umgesetzt wurde, wobei der letzte Punkt ja auch stimmt. Das ist keine Umsetzung. Es gibt gute Gründe, wieso es nicht umgesetzt wurde, aber man muss nicht um den heissen Brei reden: Das ist keine Umsetzung.
Wieso haben Sie keine Unterstützung durch die linken Parteien erhalten?
Hinter den Kulissen erhielt ich die Rückmeldung, dass sie sich vor einem Nein in einer allfälligen Abstimmung gefürchtet haben. «Spiel nicht mit dem Feuer» trifft die Einstellung der Linken bei dieser Frage wohl am besten. Das wurde aber kaum so offen kommuniziert, weil dann klargeworden wäre, dass sie in dieser Sache Angst vor dem Volk haben. Und das wollten sie natürlich nicht. Deshalb hat die SP-Spitze das Referendum auch als illegitim bezeichnet. Dies war aber nur ein Vorwand. Man kann zwar sagen, dass mein Referendum nicht im ursprünglichen Sinne des Referendumsrechtes war, aber aus juristischer Sicht ist dies kein Problem. Ich war mir bewusst, dass es unüblich ist, das Referendum für und nicht gegen ein Gesetz zu ergreifen, aber ich wollte eine Klärung dieser langen Debatte.
Ihr Forschungsschwerpunkt als Politikwissenschaftler ist die direkte Demokratie. Wie lässt sich diese in Zukunft verbessern?
Man sollte grundsätzlich hinterfragen, ob es für Entscheidungen auf Verfassungsebene nicht eine breitere Unterstützung in der Stimmbevölkerung brauchen würde. Heute reicht es, eine Mehrheit der gültigen Stimmen zu erlangen. Auch wenn das eine Lager nur eine Stimme mehr hat als das andere – unabhängig davon, wie viele Personen abgestimmt haben. Eine Möglichkeit um den Rückhalt in der Bevölkerung zu steigern wären Quoren, wie Italien sie besitzt. 50% des Stimmvolkes müssen abstimmen gehen, damit die Abstimmung gültig ist. Dies ist in meinen Augen eine zu hohe Zahl, aber ähnliche Regeln gibt es auch in den Niederlanden. Zusätzlich bin ich dafür, dass die leeren Stimmzettel dem Nein-Lager zugerechnet werden. Die Beweislast für einen neuen Bundesverfassungsartikel wäre so bei jenen, welche etwas Neues etablieren wollen. Für sie müsste es schwieriger sein eine Abstimmung zu gewinnen. Wäre diese Regel bei der Abstimmung zur Masseneinwanderungsinitiative so angewendet worden, dann hätte diese nur eine Zustimmung von 49,8% gehabt und wäre nicht angenommen worden.
«Ich betrachte mich in dem Sinne als einen Radikaldemokraten.»
Gibt es noch weitere Optimierungsmöglichkeiten?
Die Transparenz bei der Kampagnenfinanzierung muss dringendst verbessert werden. Wer finanziert die Unterschriftensammlungen oder den Abstimmungskampf? Und mit welchen Summen? Das wissen wir heute nicht. Die Transparenzinitiative könnte da Klarheit schaffen.
In der antiken Athener Polis wurden Volksvertreter per Los gewählt. Wäre ein ähnliches Modell auch in der heutigen Zeit denkbar?
Wir benötigen mehr partizipative Demokratie. Die tiefe Stimmbeteiligung an Volksabstimmungen ist klares Indiz dafür. Es sollten möglichst viele StimmbürgerInnen an den politischen Entscheidungen des Schweizer Staates teilnehmen. Das ist meine Grundhaltung. Ich betrachte mich in dem Sinne als einen Radikaldemokraten. Das heisst jetzt nicht, dass ich die etablierten Institutionen der repräsentativen Demokratie abschaffen möchte, aber es bräuchte eine Mischung von verschiedenen Demokratieformen. Eine Möglichkeit wäre ein Zweikammersystem, bei dem die eine Kammer per Los gewählt wird. Man könnte sich überlegen, ob dies auf nationaler Ebene sein muss oder eher in den Rahmen der Lokalpolitik passen würde. Ein guter Zusatz wäre auch das Oregon-Modell.
Was ist das Oregon-Modell?
In US-Amerikanischen Bundesstaat Oregon treffen sich vor Abstimmungen BürgerInnen, welche per Los ausgewählt wurden, um über den Inhalt der Vorlage zu diskutieren. Die Versammlung beschliesst jeweils eine Empfehlung an das Stimmvolk, ähnlich derjenigen des Bundesrates in der Schweizer Abstimmungsbroschüre, diese wird dann auch mit dem offiziellen Stimmmaterial versendet. Der Vorschlag ist nicht bindend, dient den Stimmbürgern aber als Anhaltspunkt bei der Entscheidungsfindung.
«Ich bin immer wieder erstaunt, wie einfach VertreterInnen der anderen Parteien in diese Falle treten. Die SVP-Spitze agiert da viel geschickter.»
Mit Ihrem Referendum haben Sie die Debatte über das Verhältnis Schweiz-EU mitgeprägt. Nun hat die AUNS angekündigt eine Initiative zur Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens zu lancieren und eine mögliche Abstimmung zur RASA-Initiative rückt näher. Welche Entwicklung ist in dieser Thematik zu erwarten?
Timing war ein Grund, wieso ich das Referendum ergriffen habe. Ich wollte eine klärende Abstimmung, da sich bereits im Dezember abzeichnete, dass es keinen Gegenvorschlag zu RASA geben würde. Denn auch hier hat eine Mehrheit im Parlament Angst vor dem Entscheid des Stimmvolkes. Lieber lässt man RASA gegen die Wand fahren. Das wird dann der SVP die Möglichkeit geben, um zu sagen, dass das Volk den MEI-Artikel nicht streichen will. Aus diesem Grund machen die Gegner der SVP jetzt Druck auf die RASA-Initianten, damit diese die Initiative zurückziehen. Mit dem Referendum hat man eine Chance verpasst, um sich dieser Entwicklung entgegenzustellen.
Wie steht es um das Projekt der Gegenseite?
Die SVP/AUNS brachte die Idee einer Volksabstimmung zur Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens geschickt ins Spiel. Damit verfolgte sie zwei Ziele: einerseits um der eigenen Basis zu erklären, wieso von ihrer Seite kein Referendum ergriffen wurde, andererseits um die ParlamentarierInnen zu überzeugen, dass ein RASA-Gegenvorschlag sinnlos wäre und man doch besser auf diese «echte» klärende Abstimmung warten soll.
Rechnen Sie der Initiative, sofern diese zustande kommt, eine Chance zu?
Das ist nur eine politstrategische Initiative der SVP/AUNS, um Zeit zu gewinnen. Selbst wenn sie sich an ihrem Treffen im Mai über den Inhalt einig werden, erwarte ich keinen Sammelstart vor dem Herbst 2017. Ab diesem Moment haben sie dann 18 Monate Zeit um die Unterschriften zusammenzutragen. Dieses Timing ist perfekt, denn so kann die SVP bis ins Wahljahr 2019 mit ihrem Vorstoss die politische Agenda diktieren. Ich bin immer wieder erstaunt, wie einfach VertreterInnen der anderen Parteien in diese Falle treten. Sie setzen ihre Hoffnungen ganz auf einen Sieg in einer eventuellen Abstimmung und wagen sich nicht die Pläne der grössten Partei zu durchkreuzen. Die SVP-Spitze agiert da viel geschickter. Sie weiss, dass ein so radikaler Vorschlag vor dem Stimmvolk kaum Chancen hätte. Die angekündigte Initiative sehe ich als ein politisches Druckinstrument und weniger als eine echte Absicht das Volk darüber abstimmen zu lassen. Am Ende würde mich deshalb auch nicht überraschen, wenn die SVP/AUNS die Initiative zurückziehen, wenn sie denken, dass sie damit ihre Ziele erreicht haben. Oder sie gehen, ähnlich wie bei der Masseneinwanderungsinitiative, in die Abstimmung und hoffen auf eine Überraschung.