Wenn Leidenschaft leiden bedeutet
Immer wieder gelangen Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch an die Öffentlichkeit, die grosse Betroffenheit auslösen. So zuverlässig wie der Volkszorn bei solchen Berichten hochkocht, taucht auch immer wieder die Frage «Wer tut denn so etwas?» auf. Eine Frage, die mit einem simplen «Pädophile machen das!» nicht beantwortet werden kann.
Seit der Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen», die mit 63.5 Prozent Ja-Stimmen vom Schweizer Stimmvolk angenommen wurde, sind mehr als drei Jahre vergangen. Nun hat der Ständerat über die Umsetzung der «Pädophilen-Initiative» diskutiert. Eine Initiative, die mit ihrem Titel Menschen, die von einer psychischen Störung betroffen sind, stigmatisiert?
«Die «Pädophilen-Initiative» befasste sich aus meiner Sicht zu indifferent mit der Thematik. Verbietet man einfach allen «Pädophilen» lebenslänglich mit Minderjährigen zu arbeiten, so wird die Mehrheit der Täterschaft, die sexuelle Delikte an Kindern begeht, gar nicht erfasst.», erklärt Monika Egli-Alge, Geschäftsführerin des Forensischen Instituts Ostschweiz (Forio). Oftmals seien Missbrauchende nämlich nicht pädophil, sondern würden Kinder aus anderen Gründen missbrauchen. Zudem habe über die Hälfte aller von Pädophilie Betroffenen ihr sexuelles Verhalten unter Kontrolle und verübe keine Delikte. Egli-Alge weiss, wovon sie spricht – das Forio ist eine der wenigen Fachstellen in der Schweiz, die Beratung und Therapie für Personen mit pädophilen Neigungen anbietet.
Pädophilie als sexuelle Orientierung
Pädophilie bezeichnet ein konstantes sexuelles Interesse an Kindern vor der Pubertät. Dabei werden zwei Haupttypen unterschieden: Von Kernpädophilie oder primärem Typus wird gesprochen, wenn das sexuelle Interesse sich ausschliesslich auf Kinder beschränkt, den sekundären Typus charakterisiert, dass neben dem sexuellen Interesse an Kindern auch eine sexuelle Ansprechbarkeit durch Erwachsene besteht. Gemäss der WHO ist Pädophilie eine psychische Störung, welche unter den sogenannten «Sexualpräferenzstörungen» verortet ist, wie zum Beispiel auch Nekrophilie, Zoophilie oder Sadomasochismus.
Ein beachtlicher Teil der Betroffenen bleibt also ein Leben lang straffrei – eine Tatsache, die kaum in die gesellschaftlichen Vorstellungen von Pädophilen passt.
Pädophile Neigungen führen nicht automatisch dazu, dass sich jemand an einem Kind vergeht: «Aus Studien ist bekannt, dass zwischen 25 und 40 Prozent der von Pädophilie Betroffenen sexuelle Straftaten begehen», so Egli-Alge. Ein beachtlicher Teil der Betroffenen bleibt also ein Leben lang straffrei – eine Tatsache, die kaum in die gesellschaftlichen Vorstellungen von Pädophilen passt. Menschen mit pädophilen Neigungen verfügen auch nicht über einen grösseren Sexualtrieb als Menschen ohne pädophile Vorlieben. Wie Menschen ohne sexuelle Präferenzstörung erleben sie nur bestimmte Personen als attraktiv. Sehr oft geht es auch nicht einzig um die sexuelle Befriedigung – das Gefühl der emotionalen Verbundenheit zu einem Kind, etwa durch Verliebtheit, ist keine Seltenheit.
In der Schweiz gibt es schätzungsweise 20’000 Männer mit pädophilen Neigungen, was einem Prozent der Männer zwischen 18 und 75 Jahren entspricht. Breite Forschungen zu Frauen, die sexuellen Missbrauch an Kindern begehen, fehlen zwar bislang, aber entgegen der weitverbreitete Annahme ist Pädophilie kein Männerphänomen: «Es gibt aus unserer Sicht keine plausiblen Argumente, weshalb Frauen nicht auch pädophile Vorlieben entwickeln können sollten», bestätigt Egli-Alge – bisher hätten sich jedoch erst zwei betroffene Frauen bei ihnen gemeldet.
Wenn Missbrauchende nicht pädophil sind
«Von allen sexuellen Straftaten an Kindern werden weniger als die Hälfte von pädophilen Missbrauchenden begangen – die sexuelle Neigung ist demzufolge in über 50 Prozent der Fälle nicht Ursache für den Übergriff», erklärt Egli-Alge. Bei Personen, die nicht pädophil sind, fungiert ein sexueller Kindesmissbrauch einzig als eine Ersatzhandlung. Diese Täterinnen oder Täter wären grundsätzlich gar nicht sexuell an Kindern interessiert, der Missbrauch dient der Befriedigung anderer unerfüllter Bedürfnisse. Manchmal geht es den Missbrauchenden in erster Linie darum, das Verlangen nach Nähe oder Sexualität zu befriedigen, was sie aus verschiedenen Gründen, sei es etwa extreme Unsicherheit oder soziale Desintegration, nicht mit Erwachsenen ausleben können. Manche wiederum haben andere Motive, sie wollen beispielsweise Macht ausüben und das Opfer erniedrigen. Mit Pädophilie hat dies wenig zu tun – ein kaum bekannter Fakt, der jedoch Folgen hat: So werden etwa bei der «Pädophilen-Initiative» Menschen mit pädophilen Neigungen unter Generalverdacht gestellt, während nicht-pädophile Missbrauchende ausser Acht gelassen werden – obwohl diese genauso Kinder sexuell missbrauchen können. Wichtig scheint also die Unterscheidung von pädosexuellen Handlungen, also sexuellen Handlungen mit Kindern, und Pädophilie. Da nicht jede pädosexuelle Handlung pädophil motiviert ist, unterscheiden sich, je nach Handlungsmotiven, auch die therapeutischen Interventionen.
Ein ungelöstes Rätsel
Die Ursachen für Pädophilie sind bis zum jetzigen Zeitpunkt weitgehend unklar. In der Forschungsliteratur wird vermutet, dass sie das Resultat eines Zusammenspiels von psychischen, sozialen und biologischen Faktoren ist.
Verschiedene Strömungen der Psychologie schlagen unterschiedliche Erklärungsmodelle vor. Der frühe psychoanalytische Ansatz geht etwa davon aus, dass pädophile Ausrichtungen einen Versuch darstellen, ungelöste psychische Konflikte aus dem Kindesalter zu reparieren. Lerntheoretische Überlegungen nehmen wiederum an, dass die Ursachen der Pädophile darin liegen, dass erste sexuelle Erfahrungen schon im Kindesalter gemacht werden – so wird sexuelle Befriedigung an ein kindliches Körperschema gekoppelt. Diese frühere Verbindung kann unter gewissen Umständen auch später noch aktiv werden, was erklären würde, warum Kinder sexuell attraktiv erscheinen. Auch das Fehlen von sexuellen Erfahrungen in der Pubertät oder die Koppelung derer mit negativen Gefühlen, beispielweise durch das Erleben einer Kränkung, könnte pädophile Neigungen begünstigen. In der Neurobiologie und der Genetik wird diesbezüglich ebenfalls geforscht. Hirnscans liefern Hinweise, dass gewisse Prozesse bei Personen mit pädophilen Neigungen anders ablaufen als bei nicht pädophilen Probanden. Forschende vermuten ebenfalls, dass Pädophilie zu einem gewissen Prozentsatz genetisch bedingt ist.
«Von allen sexuellen Straftaten an Kindern werden weniger als die Hälfte von pädophilen Missbrauchenden begangen – die sexuelle Neigung ist demzufolge in über 50 Prozent der Fälle nicht Ursache für den Übergriff»
So diffus die Antworten auf die Frage nach den Ursachen von Pädophilie ausfallen: Klar ist, dass pädophile Neigungen auch durch therapeutische Interventionen nicht verschwinden. «Man geht davon aus, dass sexuelle Neigungen unveränderbar sind», so Egli-Alge. Doch auch wenn die Vorlieben sich nicht umpolen lassen – was sich steuern lässt, ist das Verhalten der Betroffenen. Dort setzt die therapeutische Behandlung von Personen mit pädophilen Neigungen an. Egli-Alge erklärt: «In der ersten Phase wird mit den Betroffenen ihre Lebensgeschichte genau analysiert, ein wichtiger Aspekt dabei ist das Aufarbeiten der eigenen sexuellen Vergangenheit. In der zweiten Phase erfolgt die Behandlung, meist geschieht dies in Einzeltherapie. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Deliktfreiheit, der Akzeptanz der Neigung und auf Bewältigungsstrategien, welche die Betroffenen im Alltag unterstützen können.» Diese therapeutischen Interventionen können aufwendige Lernprozesse sein und über Jahre hinweg andauern.
Qualifizierte, fachpsychotherapeutische Behandlung zeigt gute Wirkung, davon ist nicht nur Egli-Alge überzeugt. Doch die Hürden, die dafür von Betroffenen überwunden werden müssen, sind gross. Ein Aspekt des Problems ist der Mangel an spezialisierten Fachstellen in der Schweiz: «Betroffene wenden sich mit ihrer Thematik auch wegen der erheblichen gesellschaftlichen Stigmatisierung kaum an niedergelassene Therapeutinnen und Therapeuten. Sie brauchen eine Anlaufstelle, die mit ihrer Thematik vertraut ist. Das senkt für Betroffene die Hemmschwelle, sich jemandem anzuvertrauen. Es braucht meist eine gehörige Portion Mut, uns anzurufen oder eine E-Mail zu schreiben, um eine Beratung oder Behandlung zu ersuchen», so Egli-Alge. Vorhandene Unterstützungsangebote sind gemäss Egli-Alge auch noch zu wenig bekannt: «Es wäre dringend eine Kampagne nötig, um die Betroffenen zu informieren, dass sie Unterstützung erhalten können.»
Immenser Leidensdruck
Von den Betroffenen, die sich beim Forio melden, haben etwa 80 Prozent Delikte begangen, der Rest ist bisher nicht straffällig geworden. Der Grossteil aller Angemeldeten hat sich freiwillig dafür entschieden, eine Therapie zu machen. Wobei der Begriff «Freiwilligkeit» wenig passend erscheint, wenn es um von Pädophilie Betroffene geht. Denn der Leidensdruck, der diese sexuelle Präferenzstörung mit sich bringt, ist riesig: «Die Bewältigung des gesamten Lebens ist für Betroffene eine grosse Herausforderung. Sie können in der Regel mit niemandem über ihre Situation reden, verleugnen sich selbst und ihre sexuelle Neigung. Die Akzeptanz der sexuellen Ausrichtung ist ein beschwerlicher Weg, schliesslich haben sie sich diese Vorliebe nicht ausgesucht. Sie müssen jedoch lernen, diese zu akzeptieren», erzählt Egli-Alge. Viele leiden auch sehr darunter, dass sie mit ihren engsten Angehörigen nicht offen und ehrlich sprechen können. Manche Betroffenen ertragen ihr Schicksal kaum, verspüren grossen Ekel gegenüber sich selbst – Depression und Suizidalität sind keine Seltenheit. Die Tatsache, dass Personen mit kernpädophilen Neigungen nie eine Beziehung zu einem Menschen führen können, für den sie romantische Gefühle entwickelt haben oder den sie anziehend finden, ist für viele Betroffene niederschmetternd: Die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche ist auf legale Weise unmöglich. Auch das Konsumieren von Kinderpornografie ist verboten, die Produktion von kinderpornografischem Material stellt für die betroffenen Kinder einen massiven Missbrauch dar.
Manche Betroffenen ertragen ihr Schicksal kaum, verspüren grossen Ekel gegenüber sich selbst – Depression und Suizidalität sind keine Seltenheit.
Neben der Schädigung der Opfer und den möglichen strafrechtlichen Folgen eines Kindesmissbrauchs leidet auch das soziale Ansehen der Missbrauchenden durch einen bekanntgewordenen Missbrauch sehr stark – kaum eine Straftat wird gesellschaftlich so geächtet wie der sexuelle Missbrauch an Kindern. Der gravierenden Folgen, die ein sexueller Kindesmissbrauch auf mehreren Ebenen mit sich bringt, sind sich die Betroffenen grösstenteils bewusst: «90 Prozent unserer Patienten wollen nie oder nie mehr straffällig werden. Sie bereuen zutiefst, wenn sie übergriffig geworden sind und sind hochmotiviert, ein deliktfreies Leben zu führen. Das Risikomanagement ist eine Herausforderung, aber verglichen mit den vorher genannten Aspekten der Isolation und der Selbstverleugnung ist das vergleichsweise einfach zu bewältigen», ist Egli-Alge überzeugt. «Es gibt nur eine kleine Gruppe Betroffener, die unter erheblichen kognitiven Verzerrungen leidet, sich als Opfer – von wem auch immer – fühlt, andere für ihr Verhalten verantwortlich macht und ihre Situation bagatellisiert», berichtet Egli-Alge weiter.
Stigmatisierung schadet allen
Egli-Alge wünscht sich, dass die Thematik der Pädophilie und der Pädosexualität im öffentlichen Raum offener, differenzierter und unaufgeregter diskutiert würde. «Pauschale Verurteilungen, Vorurteile und Stigmatisierung sind nicht hilfreich – sie tragen nicht dazu bei, sexuellen Missbrauch an Kindern zu verhindern.» Das zusätzliche Schamgefühl, das eine gesellschaftliche Stigmatisierung der von Pädophilie Betroffenen nach sich zieht, wirkt sich kontraproduktiv auf den Kindesschutz aus: So braucht es noch mehr Mut, sich als Person mit pädophilen Neigungen professionelle Unterstützung zu suchen. Egli-Alge möchte Betroffene ermutigen, frühzeitig fachgerechte Hilfe zu holen: «Darüber reden, sich mit seiner persönlichen Situation auseinandersetzen, hilft.»
Für den Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen ist unbedingt mit vereinten Kräften und harten Bandagen zu kämpfen. Eine generalisierende Vorverurteilung von Menschen mit pädophilen Neigungen ist dabei aber weder nötig noch förderlich. «Prävention muss meiner Ansicht nach differenzierter dort ansetzen, wo Risiken bestehen», meint Egli-Alge. Also bei Personen, die pädosexuelle Handlungen begehen oder Gefahr laufen, in Zukunft übergriffig zu werden – egal, ob sie nun pädophil sind oder nicht.
Einmal mehr erschreckend, wie wenig Wissen vorhanden ist, auch wenn diese Thematik immer wieder durch die Medien geht: Das hier ist wirkliche Aufklärungsarbeit, vielen Dank!