Die Königin von Bern
Achim alias Clausete La Trine bereitet sich auf einen Auftritt vor. Die Verwandlung braucht ihre Zeit: etwa eine Stunde sitzt Achim vor dem Spiegel. (Bild: Sam von Dach)
Dragqueens sind Männer, die sich als Frauen verkleiden und dabei mit den gängigen Geschlechter-stereotypen spielen. Die bärner studizytig hat die Dragqueen Clausette La Trine getroffen und festgestellt, dass nicht nur ihre Auftritte, sondern auch ihre Ideen pikant und subversiv sind.
Achim empfängt uns mit einem Glas Prosecco. Er sitzt auf einem weissen Lederstuhl, links von ihm ein metallener Koffer, der so hoch ist wie der massive Holztisch, auf dem er seinen Schminkspiegel stehen hat. Der Koffer ist voll mit Stiften, Pudern und Dosen. Vor Achim liegt, auf einer Unterlage aus Zeitungspapier, eine Art Malkasten, in dem sich Farben reihen, bunt wie Konfetti.
Achim wird nur noch für etwa eine Stunde Achim sein, dann ist seine Verwandlung zu Clausette La Trine abgeschlossen.
Von draussen wirft der Wind dünne Regenfäden gegen die Scheibe. Immer wieder tupft Achim seinen Pinsel in den Malkasten, führt ihn zum Gesicht und pudert sich damit mal die Wangenknochen, mal das Kinn, mal die Lider. Achim Steffen ist 38 Jahre alt und arbeitet als Raumverantwortlicher bei der Erziehungsdirektion des Kantons Bern. Doch das ist nicht der Grund, weshalb wir ihn an diesem Samstagabend besuchen. Achim wird nur noch für etwa eine Stunde Achim sein, dann ist seine Verwandlung zu Clausette La Trine, die gemäss verschiedener Zeitungen als die berühmteste Dragqueen von Bern gilt, abgeschlossen.
Dragqueens sind Männer, die sich mithilfe verschiedener Mittel dem weiblichen Stereotyp annähern. So gehören in der Regel ein geschminktes Gesicht, Frauenkleider und Perücken zu einer Dragqueen dazu. Doch auch die typischen Körpertechniken des anderen Geschlechts werden adaptiert, wie z.B. die Sprache oder die Bewegungen. Das alles, vereint in einer Gesamtperformance, ergibt das, was man eine Dragqueen nennt. Das Gegenstück dazu, also Frauen, die sich performativ dem männlichen Stereotyp annähern, nennt sich Dragking.
Ihn zog es in die Stadt, wo er seine Homosexualität und seine Vorliebe für Drag ausleben konnte.
Die Königin der Nacht
Achims Geschichte als Dragqueen beginnt mit 16, als der gebürtige Walliser mit dem Videorecorder seiner Eltern heimlich den Film «Priscilla, Queen of the Desert» aufnimmt. Der Film erzählt von drei Dragqueens, die in einem ausgemusterten Schulbus eine Reise quer durch das australische Outback antreten. «Mir gefiel das Lebensgefühl, das dieser Film vermittelte, das wollte ich auch haben», erinnert sich Achim. Doch erst als es Achim 1999 nach Bern verschlägt, beginnt er als Dragqueen aufzutreten. Im Wallis sei man dafür zu konservativ, jede Bewegung werde dort kontrolliert, sagt Achim. Für ihn war klar, dass er am falschen Ort geboren worden sei, deshalb zog es ihn in die Stadt, wo er seine Homosexualität und seine Vorliebe für Drag ausleben konnte.
Heute wohnt Achim zusammen mit seinem Freund Terry in einer Wohnung in der Berner Altstadt. Die Decken sind hoch, die Räume weitläufig. In einer solchen Wohnung können sich auch sperrige Persönlichkeiten ausbreiten. Achim hat sogar einen separaten Raum, wo er seine unzähligen Kostüme und Perücken aufbewahrt, die er für die Verwandlung in Clausette braucht. Meist geschieht diese Verwandlung am Abend, wenn sich Achim auf einen Auftritt vorbereitet. Zusammen mit Terry tritt er regelmässig als Clausette La Trine & His Master’s Voice auf. Die Shows sind ausdrucksstark. In einem Youtubevideo ist Clausette zu sehen, wie sie in einem ausladenden violetten Rock, schwarzen hohen Handschuhen und mit einem bodenlangen Schaal um die schmalen Schultern playback eine Oper inszeniert, die mit einem wummernden Electro-Beat unterlegt ist. Clausette bewegt ihren Mund total übertrieben, beinahe animiert, die Körperbewegungen sind exzentrisch. Weniger überladen sind Clausettes Auftritte als DJ. Regelmässig trifft man sie z.B. im Frauenraum in der Reitschule an.
Die Königin mit dem Schnauz
Eine Dragqueen zu sein heisst für Clausette aber auch politische Forderungen zu stellen: «Die Gesellschaft muss vom Mann-Frau-Denken wegkommen und aufhören die Geschlechter gegeneinander aufzuhetzen. Diskriminierung hat oft mit äusserlichen Merkmalen zu tun, die man aneinander sucht und anhand derer man sich dann ausgrenzt.» Clausette will Geschlechterrollen aufweichen. Durch Irritation soll am vorherrschenden binären Geschlechterdenken gerüttelt werden, das betont Achim oft. Die Vermischung typisch weiblicher und typisch männlicher Attribute soll Menschen vor den Kopf stossen und ihnen vorführen, wie verwundbar ihr enges Verständnis von Mann und Frau ist. Und da muss man Achim recht geben: Drag irritiert. Man stelle sich vor, es stünde plötzlich eine schlanke, langhaarige Frau mit Vollbart vor einem. Wie sähe eine angebrachte Reaktion aus? Wäre dieser Mensch ein Er oder eine Sie? Klar ist, dass eine solche Begegnung ein kleines Erdbeben für das gängige Geschlechterverständnis bedeutete und bald fragte man sich, wie ein Konzept, das so labil ist, dass es bereits durch eine geschickte Kombination von Kleidung und Körperbehaarung aus den Fugen gehoben werden kann, Jahrtausende überdauern konnte.
Für Achim ist klar, dass die Subversivität trotz dem regen Bedienen von Stereotypen ungebrochen bleibt.
Doch werden durch Dragqueens Geschlechterklischees nicht gerade auch zementiert? Dragqueens wie Clausette spielen mit Stereotypen und das nicht zu knapp. Für unsere Fotos posiert Clausette gepudert und mit lackierten Nägeln, dazu einen militärgrünen Overall und Lederstiefel mit hohen Absätzen, später im enganliegenden Abendkleid und mit Silberschmuck. Warum nicht einmal mit einer Kurzhaarperücke, Jeans und T-Shirt, warum nicht Sneakers und Hoodie? Das Spielen mit weiblichen Stereotypen ist bei Dragqueens ein zentrales Motiv, das fällt auf. Es fragt sich, wie subversiv eine solche Performance ist. Für Achim ist klar, dass die Subversivität trotz dem regen Bedienen von Stereotypen ungebrochen bleibt. «Ich bin ein Clown, niemand kann ernsthaft glauben, dass ich eine Frau sei», sagt Achim und lacht. Früher habe er sich noch weiblicher geschminkt, heute liebt er es, zu überzeichnen. «Neulich ging ich als Lederschwester an eine Party, mit Polizeikappe, Lederweste, Lederhosen. Ich schminkte mich aber darunter als Clausette und habe dann den weiblichen Stereotyp mit einem total übertriebenen Pornoschnauz gebrochen.»
Die Königin mit den vielen Kostümen
Mit jedem Strich, den Achim an seinem weichen Gesicht vornimmt, wird seine Stimme ein wenig femininer, mit jedem Pinseltupfer die Bewegungen und das Lachen ausschweifender. Noch die Stiefel geschnürt und die Perücke am Haarschopf befestigt, dann ist Achim verschwunden und vor uns steht Clausette La Trine, eine Dragqueen, die mit ihrer stattlichen Grösse von über zwei Metern den Raum trotz ihrer schmächtigen Statur ausfüllt und sofort im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Mit Clausette ist eine soziale Rolle geschaffen, eine andere, Achim, hat sie verdrängt. Dragqueens sind seltene Masken auf der Bühne des Alltags. Sie führen uns vor Augen, wie soziale Rollen aussehen könnten, wenn wir uns stärker an unseren persönlichen Wünschen anstelle von gesellschaftlichen Konventionen orientierten. «Es ist unglaublich befreiend, wenn einem egal ist, was die anderen von einem denken», sagt Clausette und grinst, wohlwissend wie kitschig und zugleich selbstbewusst ihre Worte klingen. Indem man in verschiedene Rollen schlüpfe, merke man, welche Elemente einer Rolle man möge und welche nicht. Clausette ist das Ergebnis dieses ständigen Prozesses und wird sich vermutlich noch oft verändern.
«Die Menschen glauben, man könne sein wahres Ich finden. Dabei ist es ein ständiges Suchen.»
An eine finale, genuine Persönlichkeit glaubt Clausette nicht: «Die Menschen glauben, man könne sein wahres Ich finden. Dabei ist es ein ständiges Suchen.» Wie würde unsere Gesellschaft wohl aussehen, wenn sich mehr Menschen auf die Suche machten? Wie viele Dragqueens und Dragkings gäbe es dann, wie farbig wäre unsere Gesellschaft? «Eine Vision für die Gesellschaft?», Clausette hält inne und denkt nach. «Zuerst müsste wohl der Kapitalismus abgeschafft werden», sagt sie nach einer kurzen Pause und lacht. Der Kapitalismus profitiere davon, wenn alle möglichst gleich seien. In einer progressiven Gesellschaft seien die Menschen aber unterschiedlich und tolerant gegenüber alternativen Lebensmodellen. Schlussendlich sollten Geschlecht und sexuelle Präferenzen beim Zusammenleben keine Rolle mehr spielen und auch das Wechseln sollte erlaubt sein, findet Clausette.
Wir verabschieden uns. Draussen ist es kalt. Der Regen hat zwar nachgelassen, doch die Wolken scheinen sich nicht entscheiden zu können, ob sie den Blick auf den Himmel freigeben wollen oder nicht und schleppen sich zögerlich dahin. Wir begegnen einer laut lachenden Gruppe von Menschen, die sich anlässlich des sechshundertjährigen Jubiläums des Berner Ratshauses in Trachten gekleidet haben. Sie scheinen sich ganz wohl zu fühlen in ihren Kostümen.