Ihr habt ja die Wahl
Thomas Haemmerli (links) und Jessica Zuber (rechts). Bild: Sam von Dach
Eine Wahlbeteiligung unter 50 Prozent ist in der Schweiz schon fast Normalität. Bedenklich ist, dass dieser Umstand kollektiv ignoriert wird. Demokratiekritische oder gar antistaatliche Haltungen scheinen keinen Platz in der politischen Diskussion zu haben.
Seit Mitte der 70er-Jahre haben in der Schweiz nie mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten an nationalen Wahlen teilgenommen. Diese Enthaltsamkeit beim Ernennen der politischen RepräsentantInnen ist keine Schweizer Eigenheit, lässt sie sich doch in den Kontext einer allgemeinen demokratischen Entwicklung stellen: Ältere Demokratien wie Japan, die USA und die Schweiz erleben seit Längerem einen Rücklauf der Wahlbeteiligung. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch bezeichnet diesen Zustand als Postdemokratie. In dieser werden zwar nach wie vor Wahlen abgehalten, allerdings hat die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger eine passive Rolle, schweigt meist apathisch. Im Schatten der politischen Inszenierung wird laut Crouch «die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.»
Vom politischen Prozess ausgeschlossen
In der medialen Berichterstattung wird die schweigende Mehrheit, die sich nicht an Wahlen beteiligt, meist als einheitliche Gruppe betrachtet: Als sogenannte «Partei der Nichtwähler». Dass eine Vereinfachung zu kurz greift, zeigte letztes Jahr eine Untersuchung der Politologen Matthias Fatke und Markus Freitag von der Universität Bern. Darin eruierten sie sechs Gruppen von NichtwählerInnen in der Schweiz, die sich in ihren Motiven aber auch ihrer Bildungsnähe und ihrer sozioökonomischen Herkunft stark unterscheiden.
Dabei fallen besonders die beiden Gruppen der «sozial Isolierten» und der «Inkompetenten» auf. Sie sind aufgrund ihres tiefen Bildungsniveaus und mangelnder sozialer Einbindung nicht in der Lage, sich an Wahlen zu beteiligen. Zusammen machen diese zwei Typen einen bedenklich hohen Anteil von 38 Prozent der Nichtwählenden aus. Grund zur Sorge? Definitiv. Eine bildungsferne und ökonomisch benachteiligte Schicht ist grossteils vom politischen Prozess ausgeschlossen. Ausserdem sind ganze Bevölkerungsteile nicht partizipationsberechtigt: beispielsweise der Viertel der EinwohnerInnen, dem der Schweizer Pass fehlt, nicht zu vergessen alle Minderjährigen. Wenn wir die Inklusion als wichtigstes Qualitätsmerkmal einer Demokratie akzeptieren, präsentiert sich uns ein düsteres Bild. Politik und Gesellschaft haben sich entfremdet, die gewählten RepräsentantInnen im Bundeshaus oder in Kantonsparlamenten vertreten nur eine Minderheit derer, über die sie ihre politische Macht ausüben.
Eine bildungsferne und ökonomisch benachteiligte Schicht ist grossteils vom politischen Prozess ausgeschlossen.
Der Rückzug aus dem Staat
Wen Fatkes und Freitags Untersuchung aber nicht erfasst, ist der Typus des politisch motivierten Nichtwählenden, der aus einer demokratiekritischen Einstellung heraus seine Stimme bewusst nicht abgibt. Gründe für diese Haltung mögen die Ablehnung staatlicher Gewalt sein oder ein Grundmisstrauen gegenüber der repräsentativen Demokratie. Als Konsequenz daraus wird die eigene Stimme lieber nicht genutzt, anstatt damit ein vorherrschendes System zu legitimieren. Dahinter kann eine Theorie des «politischen Exodus» stecken, also des engagierten Rückzugs aus staatlichen Institutionen. Dieser Exodus, so schreibt der Anarchist David Graeber, sei womöglich der effektivste Weg, dem Kapitalismus und dem liberalen Staat entgegenzutreten. Statt einer frontalen Herausforderung suche man nach Möglichkeiten, sich dem Zugriff der ungewollten Macht zu entziehen.
Naives Wunschdenken
Die Existenz einer solchen Gruppe demokratiekritischer Nichtwählender wird in der Öffentlichkeit schlichtweg ignoriert. Offenbar erscheint es befremdlich, dass Personen, die grundsätzlich an politischen Fragestellungen interessiert sind, bewusst auf den simplen Akt des Wählens verzichten. Ein Akt, der uns doch angeblich erst zu pflichtgetreuen Staatsbürgerinnen und -bürgern macht. Auch wenn diese antistaatliche Einstellung nur von einer Minderheit der Nichtwählenden vertreten wird: Sie nicht zu beachten, ist Ausdruck eines naiven Wunschdenkens und passt zu einer Gesellschaft, für die Politik allein das ist, was im Bundeshaus passiert.
Die Existenz einer solchen Gruppe demokratiekritischer Nichtwählender wird in der Öffentlichkeit schlichtweg ignoriert.
Die bärner studizytig hat deshalb zum Streitgespräch ins Café Kairo geladen. Diskutiert haben vier Personen mit teils gegensätzlichen Standpunkten zu Sinn und Notwendigkeit unseres Wahlsystems: Jessica Zuber ist Co-Präsidentin der Berner Sektion der Operation Libero. Thomas Haemmerli ist Autor, Regisseur und Mitbetreiber des Abstimmungsservice votez.ch. Dieser stellt Informationen und Parolen zu Wahlen und Abstimmungen bereit. Julian Spycher und «Dönu» sind überzeugte Nichtwähler und wurden in Zeiten des Irakkriegs und im Umfeld der Berner Reitschule politisiert. In der gemeinsamen Runde versuchten wir, mehr über die Gründe zu erfahren, die hinter ihren unterschiedlichen Ansichten zur demokratischen Partizipation stehen.
In der Schweiz nimmt nur etwa die Hälfte der Berechtigten an Wahlen teil. Was sind das für Personen, die nicht wählen?
Thomas Haemmerli: Nur eine kleine Minderheit der Nichtwählenden gehört zu einer ausserparlamentarischen Position, der Grossteil verbindet damit keine politische Absicht. Es ist auch eine Altersfrage, statistisch gesehen stimmt man mit zunehmendem Alter häufiger ab, weil man von Fragen wie Steuern, Lohnprozenten und Kindertagesstätten betroffen ist. Bei der ausserparlamentarischen Linken ist es nur ein Teil, der nicht wählt oder abstimmt, und auch von ihnen ändern viele später diese Haltung.
Julian Spycher: Es kommt auf deine Interessen an, je nachdem lassen die sich sehr wohl im Parlament verfolgen, meine jetzigen Interessen aber nicht. Ich glaube auch nicht, dass wir im Alter realistischer oder weiser werden – vielleicht höchstens desillusionierter.
«Nach der Abgabe deiner Stimme hast du nichts mehr zu sagen»
Dönu: Ich bin einverstanden mit der Aussage, dass nur eine kleine Minderheit aus Protest nicht wählen geht. Trotzdem will ich dieser Haltung treu bleiben. Im Bundeshaus wird darum gestritten, wie dieses kapitalistische Gemeinwesen weiterhin erfolgreich wächst, das ist keine Diskussion, in die ich mich einmischen will. Dieses Gemeinwesen besteht aus lauter Gegensätzen: Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Vermieterin und Mieterin, und so weiter. Ein riesiges Gegeneinander. Mit dem Erfolg einer solchen Gesellschaft ist noch überhaupt kein Erfolg für mich als Lohnabhängiger garantiert, etwa dass ich ein sicheres Einkommen oder mehr Lohn habe oder weniger Miete zahlen muss. Im Gegenteil, in der Regel ist dieses Gemeinwesen ja durch lange, intensive Arbeit und wenig Ferien erfolgreich. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass die Konkurrenzgesellschaft, in der die Lohnabhängigen notwendigerweise am Schluss dumm dastehen, ein Ende hat. Und das wird nicht im Bundeshaus verhandelt.
Jessica, du bist jung und überzeugte Wählerin. Weshalb?
Jessica Zuber: Wie schon Max Frisch sagte: Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich ersparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei. Ich will aber nicht den Status quo bestätigen. Wählen bedeutet für mich, eine Person in den parlamentarischen Prozess zu schicken, von der ich weiss, dass sie meine Forderungen vertritt. So kann ich meine Standpunkte, die ich beispielsweise auch bei einer Demonstration ausdrücke, zusätzlich ins Parlament bringen.
Julian: Ich würde das Zitat von Frisch umkehren, denn wer wählt, erteilt dem Status quo seine Unterstützung und gibt sich mit der momentanen Herrschaftsstruktur zufrieden. Du stimmst für das System, für die Demokratie, für die Marktwirtschaft. Nach der Abgabe deiner Stimme hast du nichts mehr zu sagen. Egal, was die gewählte Person dann daraus macht. Wahlen sind die Legitimation eines Machtverhältnisses.
Haemmerli: Das ist eine Schweizer Luxusposition. Ich lebe nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Brasilien und in Georgien. Dort kotzen die Leute, die lange dafür gekämpft haben, dass sie überhaupt etwas zu sagen haben, wenn sie hören, wie nonchalant man hier zuweilen damit umgeht. Abgesehen davon ist die Aussage, dass wer gewählt hat, nichts mehr zu sagen habe, ein Quatsch. Ich gehörte früher zu einem sehr radikalen Teil der ausserparlamentarischen Opposition, bei der wir trotzdem gewählt und abgestimmt haben. Wir wussten, es bringt uns etwas, wenn Linke unsere Positionen verteidigen oder nach Polizeieinsätzen die richtigen Fragen stellen.
Stellt die tiefe Wahlbeteiligung ein Problem dar? Sollten die Leute zum Wählen motiviert werden oder ist es der Sinn des Ganzen, dass nicht alle sich beteiligen?
Jessica: Wählen ist ein Recht, keine Pflicht. Ich finde aber die Haltung, dass das ganze System schlecht ist, etwas zu einfach. Ich gehe wählen, weil ich nicht einfach alles hinnehmen will. Und da lässt sich eben auch durch die Mobilisierung von Menschen etwas zum Positiven verändern.
Julian: Da muss ich korrigieren: Das System selbst ist nicht kaputt, es funktioniert wunderbar, wie es sollte. Denn Wählen verändert nie etwas Grundlegendes. Wer nicht wählen geht und denkt, damit sei etwas erreicht, liegt falsch. Genauso falsch ist es aber, zu denken, dass allein durch das Wählen etwas bewirkt wird.
Jessica: Deine Haltung ist sehr pessimistisch und kritisch. Ich sehe aber jeden Tag auch das Positive, ich sehe Leute, die engagiert sind. Wenn du es dir leisten kannst, zu resignieren, ist das eine komfortable Situation. Andere aber haben diese Wahl nicht, etwa die 25% Ausländer, die nicht wählen und abstimmen dürfen. Schon nur für sie sollten wir wählen gehen. Um Leute zu wählen, die sie vertreten und sich für ihre Rechte einsetzen. Da lässt sich durchaus etwas bewirken, in einigen Kantonen wurden bereits Ausländerstimmrechte eingeführt.
Thomas Haemmerli, auf ihrer Plattform votez.ch werden kurze, einfache Wahl- und Abstimmungsempfehlungen bereitgestellt. Fördern Sie damit nicht die Entpolitisierung der Gesellschaft, indem sich niemand mehr selbst eingehend mit politischen Thematiken befassen muss?
Haemmerli: Die Idee zu votez.ch entstand, als es der SVP mit einer diskriminierenden Plakatkampagne gelang, die Abstimmung gegen ein Integrationsprojekt für Kosovoalbaner zu gewinnen. Viele waren darüber schockiert und wenn ich nachfragte: «Warst du abstimmen?» kam ein Nein. Wir wollen das ändern, indem wir als Service einfache Infos liefern und uns auf die grossen strategischen Fragen konzentrieren, sowie auf urbane Anliegen: UNO, Bilaterale, Gleichstellung, Masseneinwanderungsinitiative. Deshalb wenden wir uns ebenso an aufgeschlossene Bürgerliche wie an Grüne Alternative und fassen oft keine Parole, wenn es um die Entscheidung Ökologie versus Wirtschaft geht. Weil das Lesen all dieser politischer Vorlagen so mühsam ist, vereinfachen wir das Abstimmen für Politmuffel und Parteiungebundene. Die Frage nach der Entpolitisierung ist berechtigt, allerdings gibt es auch gegenläufige Tendenzen. Die Operation Libero etwa finde ich grossartig. Ich denke aber auch, der Problemdruck in der Schweiz ist im Vergleich zu anderen Ländern nicht so hoch, die Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen daher geringer.
«Dort kotzen die Leute, die lange dafür gekämpft haben, dass sie überhaupt etwas zu sagen haben, wenn sie hören, wie nonchalant man hier zuweilen damit umgeht.»
Politische Zusammenhänge sind also zu komplex und müssen vereinfacht werden?
Jessica: Wahlunterlagen zu lesen ist aufwendig und stellt für viele Wählende eine Herausforderung dar. Deshalb wäre politische Bildung so wichtig, die ist aber leider in der Schweiz nur spärlich in den Lehrplänen vorhanden. Andererseits dreht sich Politik oft um sehr komplexe Inhalte. Bei Operation Libero haben wir aber erkannt, dass mit Plakaten und Kampagnen durchaus Bilder geschaffen werden, die Emotionen und Meinungen beeinflussen können. Wichtig ist es, die Argumente solcher Kampagnen zu analysieren und ihnen Fakten gegenüber zu stellen. Es wäre aber eine Illusion zu meinen, so auch Leute zu erreichen, die sich nicht mit Politik befassen. Meist bewegen auch wir uns nur in gewissen Kreisen.
Julian und Dönu, ihr seid keine typischen Nichtwähler. Die Herausforderung, andere zu erreichen und eure Position darzulegen, stellt sich aber auch euch. Wie macht ihr das?
Dönu: Ja, mit dem Nicht-Wählen ist noch nichts erreicht, man hat nur unterlassen, eine Herrschaft über sich zu legitimieren. Um andere zu erreichen und unsere Haltung darzulegen, hätte ich am liebsten viel Geld und Medienöffentlichkeit (lacht). Allein durch meine Meinungsfreiheit ist mir noch keine Druckerei oder Fernsehwerbung bezahlt, wer hört also überhaupt meine Argumente? Mit den geringen Mitteln, die wir haben, ist es nicht möglich, ebenso öffentlichkeitswirksam wie eine Partei zu sein. Wichtig ist es, unter die Leute zu gehen und Argumente zu verbreiten, so wie jetzt hier oder auch durch das Engagement der Gruppe überzeit.ch.
Julian: Es ist eine sehr harte Position, sich ausserparlamentarisch zu organisieren. Unsere Gesellschaft besteht aus vielen Gegensätzen, das lässt sich beispielsweise nur schwer mit einer Basisdemokratie vereinbaren, da eine Konsensfindung so schwierig wird. Deshalb hat sich die heutige Art von Mehrheitsdemokratie auch so gut mit der Marktwirtschaft durchgesetzt. Es ist ein perfektes Herrschaftssystem: Es funktioniert momentan wunderbar und die Leute sind zufrieden, weil sie ein bisschen mitbestimmen dürfen. Um daran etwas zu verändern, braucht es Austausch und Diskussion. Eine Demonstration kann auch ein Mittel sein, doch dazu musst du zuerst andere von deinem Standpunkt überzeugen. Der ausserparlamentarische Protest hat bisher den Kapitalismus und die Demokratie in ihrer Gesamtheit noch nicht verändert. Deshalb kann ich mich nicht zurücklehnen, denn ich bin tagtäglich von diesem System betroffen.
Einen anderen Ansatz verfolgt die Organisation «voter blanc» aus der Romandie. Sie fordert die Anerkennung leer eingelegter Stimm- und Wahlzettel. Wenn diese in der Mehrheit sind, gilt die Wahl oder Abstimmung als ungültig, das Volk erhielte so quasi ein Vetorecht.
Haemmerli: Höchstwahrscheinlich kommt es dabei nie zu einer leer einlegenden Mehrheit. Wenn dann zwischen einer SVP-Initiative und einer weniger schlimmen Alternative abgestimmt wird, kann es gut sein, dass wir die Abstimmung durch das Leereinlegen verlieren. Besser wäre es, wenn auch die Linken pragmatischer denken würden. Dass wir heute ein so strenges Ausländerausschaffungsregime haben, ist die Folge davon, dass die Linke damals den Gegenvorschlag nicht unterstützen wollte.
«Der ausserparlamentarische Protest hat bisher den Kapitalismus und die Demokratie in ihrer Gesamtheit noch nicht verändert.»
Julian: Meine Argumente bleiben auch hier dieselben. Egal ob du dich in die Debatte einbringst oder dich enthältst, änderst du nichts am Status quo. Aus meiner Sicht bewirkt das keinen grossen Unterschied. Auch wer leer einlegt, akzeptiert Wahlen als zulässiges gesellschaftliches Mittel. Und das will ich nicht.
Die Nichtwählenden könnten dann nicht einfach alle in einen Topf geworfen werden. Es ist ein eindeutigeres Protestmittel.
Jessica: Ich frage mich diesbezüglich nur: Was geschieht danach, wenn du dich enthalten oder leer eingeworfen hast? Zu guter Letzt entscheidet die Mehrheit unter Umständen doch für ein Ja oder ein Nein. Mit einer Enthaltung stehst du aussen vor und lässt andere entscheiden. Schlussendlich hast du so nichts verhindert oder gutgeheissen.
Julian: Wenn ich nicht daran glaube, dass Wahlen die Gesellschaft verändern, nützt mir das leer einlegen nur etwas: Ich kann dadurch erkennen, dass es auch Gleichgesinnte gibt und mit ihnen einen Austausch suchen. Das sollten wir aber sowieso tun – für politisches Engagement und Diskussion muss man nicht zuerst wählen gehen.
Podium: lh, dab