Der heimliche Kartograph der Baustellen
wolff 75-32, Kommt von Strabag aus Österreich, Gestellt am 18. März 2016, Ausladung: 75 Meter, Traglast: 12 Tonnen, Hakenhöhe: 64.1 Meter. Bild: Sam von Dach
Wenn in Bern gebaut wird, ist Beat von Rütte dabei. Er verfolgt das Treiben gespannt und kennt jeden Kran beim Namen. Die Geschichte einer Leidenschaft.
Nie klingelt der Wecker so früh wie heute. Es ist 4.45 Uhr, draussen stockdunkel, doch Beat steht auf, macht Licht. Er greift zu Arbeitshose, Schutzhelm, steigt in seine schwarzen Mephisto-Schuhe und eilt davon. Wenig später steht er hier, auf der SBB-Baustelle «Scheibenbrücke», Bern Wylerfeld, und wartet. Er ist nervös: Für diese Kranmontage hat er sich den Tag frei genommen und die Feier seines Verlobungstags verschoben – und nun ist er der Einzige auf dem Platz. Als ob die Zeit nicht schon knapp genug wäre. Die Zufahrtsstrasse ist nur für heute bewilligt und bereits morgen kommt die städtische Kranabnahme vorbei.
Alles muss stimmen
Will man innerhalb eines Tages fertig werden, muss alles stimmen: die Witterung, der Untergrund, die Koordination. «Wenn der Bauführer aus Geiz bei der Fundierung pfuscht, kannst du’s vergessen. Und bei mehr als 9 m/s Windstärke sowieso.» Besonders die Lage hier an der Bahnlinie ist heikel: «Da reicht eine Unachtsamkeit, ein Fehler – und das Teil ist in den Fahrleitungen. Was dann passiert, kannst du dir denken: Es gibt ein Feuerwerk der schöneren Sorte.» Schliesslich läuft dann doch alles wie geplant. Zwanzig Minuten nach Beat treffen die ersten Monteure von Frutiger ein. Ein kurzer Händedruck, dann geht’s los. Mit acht Sattelschleppern werden die Bauteile herangekarrt: die Turmstücke, das Kreuz, die Fundamentsteine. Dann beginnt der Pneukran mit der Montage. Um 14 Uhr wird das Kabinenstück auf den Turm gesetzt, um 15.30 Uhr kommt der Ausleger und um 16 Uhr die Gewichte im Gegenausleger. Anschliessend wird das Hubseil eingezogen. «Der Frutiger hat’s eben doch im Griff.»
«Vielleicht sollten
wir uns das Leben wie einen Kran vorstellen.»
Der Fensterplatz
Beat mochte Baustellen schon immer. Schon als kleiner Junge presste er sein Gesicht gegen Absperrgitter, spähte in Baugruben und hinauf zu den Kranführenden, die hoch oben in der Kabine sassen. Wenn seine Mutter mit ihm einkaufen ging, musste sie ihn von den Kränen wegzerren. Und als neben dem Schulhaus gebaut wurde, ergatterte er sich einen Fensterplatz, worauf ein Mitschüler klagte: «Fräulein Friedrich, Beat schaut immer zu den Kränen rüber!» Eigentlich wollte Beat Bauarbeiter werden: Maurer, Monteur, später vielleicht Polier. Doch es sollte anders kommen. Als Beat 1972 nach einer Lehrstelle suchte, war in der Schweizer Baubranche die Hölle los: Das Geschäft boomte, die Anleger investierten – und die Gebäude schossen in die Höhe. Der Bundesrat befürchtete eine Überhitzung der Baukonjunktur und verordnete einen teilweisen Baustopp. Die Konjunktur brach ein, die Baustellen erstarrten. Die Baufirmen zögerten, neue Leute anzustellen, geschweige denn neue Lehrlinge. Statt einer Lehre auf dem Bau ging Beat aufs Gymnasium, danach an die Uni, studierte Theologie.
Schwere Lasten
Heute ist Beat Pfarrer einer kleinen Kirchgemeinde. Jeden Sonntag greift er zur Bibel, tritt vor den Abendmahltisch, begrüsst die Anwesenden, dankt dem Sigrist. Später besteigt er die Kanzel, die er heimlich seine «Krankabine» nennt, und hält die Predigt. Seine Kirchgemeinde nennt er «Firma Seelentrost» (auch das in aller Heimlichkeit) und kürzlich machte er in einem Gottesdienst folgenden Vergleich: «Vielleicht sollten wir uns das Leben wie einen Kran vorstellen. Manchmal ist es mühevoll, und man hat schwere Lasten zu tragen. Wir brauchen deshalb ein Gegengewicht und ein solides Fundament, auf dem wir stehen können.» Wenn ein alter Mensch stirbt, verbrennt eine ganze Bibliothek, so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Beim Tod von Beat von Rütte wird es das Berner Zentralarchiv für Baustellen sein. In seinem Hirn lagern sechzig Jahre Schutt und Beton: Niemand kennt Berns Baustellen besser als er. Sein Spezialgebiet sind Baukräne: Er kennt jeden hier beim Namen. Immer samstags, wenn zuhause der Garten gemacht ist, zieht er los und streunt durch die Stadt. Er späht durch feinmaschige Absperrzäune, umkreist baufällige Gebäude und schleicht durch Lieferanteneingänge, die nur er zu kennen scheint. In seinem Büro stapeln sich Kranbaupläne, Bücher zu Grossbaustellen und Transportpläne von Kranmontagen und -demontagen. Auch seinen Computer hat sich Beat einst eigens für die Baustellen angeschafft. Auf mehreren Webcams verfolgt Beat Bauarbeiten live. Und auf www.kran-info.ch, der Fan-Website für Turmdrehkrane, schaut er sich das Foto der Woche an.
Das Kino der Pensionierten
Das grösste Ereignis für Beat war der Neubau des Berner Hauptbahnhofs. Während mehr als zehn Jahren waren die Bauarbeiter mit der Grossbaustelle beschäftigt. Dort, wo heute die Schanzenpost steht, sah man damals direkt runter auf die Züge. Damit die Fussgänger queren konnten, bauten die SBB aus Stahl und Holzbrettern eine provisorische Passerelle –
doch der Passantenstrom stockte: Oben standen ältere Herren aufgereiht, mit Hut und Stumpen. Sie schloteten und pafften, als seien sie selbst kleine Dampfmaschinen, und schauten den Baggern und Abrissbirnen bei der Arbeit zu: Man nannte es das «Pensionierten-Kino». Seit Beat auf dem Land wohnt, ist es schwieriger geworden, den Überblick zu behalten. Mit dem Zug braucht er 50 Minuten bis in die Stadt. Und der Anzeiger der Stadt Bern, den Beat zweimal wöchentlich nach Baupublikationen durchforstet, wird nicht mehr gratis zugestellt, denn Beat wohnt ausserhalb des Verteilgebiets. Nun hat sich Beat ein Abonnement gekauft, für 185 Franken pro Jahr: Es gibt nichts umsonst.
«Sie schloteten und pafften, als seien sie selbst kleine Dampfmaschinen, und schauten den Baggern und Abrissbirnen bei der Arbeit zu: Man nannte es das Pensionierten-Kino.»
Gut gefüllte Agenda
Die Frage nach seiner Motivation kann Beat nur vage beantworten, denn sie ist falsch gestellt. Es ist, als würde man die Aare nach ihrer Fliessrichtung befragen, oder einen Zugvogel nach seinem Weg: Man wird nie eine Antwort kriegen. Beat vergleicht sich mit einem Fussball-Fan, der «die Techniken des Fussballs haargenau kennt». Er ist der heimliche Kartograph, der über die Baustellen der Stadt wacht. Ans Aufhören denkt Beat noch lange nicht. Nach seiner Pensionierung im Januar geht es erst richtig los. Vielleicht beginnt er dann auch noch Stumpen zu rauchen, so wie die Herren damals beim Bahnhof auf der Passerelle. Auf jeden Fall ist die Agenda der nächsten Monate gut gefüllt. Kürzlich rief er beim Bauunternehmen Büchi an und fragte, wann der Kran beim Alterszentrum Spitalacker montiert werde. Beat sagte: «Ich freue mich jetzt schon wie ein Schneekönig auf diesen Tag.»