Gesucht: Ärztin, kinderlos.
Überstunden und Nachtarbeit während der Schwangerschaft, Fragen zur Familienplanung an Bewerbungsgesprächen, Widerstand gegen Teilzeitarbeit: Frauen weht in der Medizinbranche ein rauer Wind entgegen. Sträubt sich das Berufsfeld gegen längst überfällige Entwicklungen?
Als Lena Grün* als Assistenzärztin auf der Chirurgie arbeitete und schwanger wurde, teilten ihr ihre Vorgesetzten mit, dass die Ausbildung nicht mit Familie vereinbar sei. «Dies wurde offen kommuniziert und auch so gelebt: Vom Moment der Schwangerschaft an wurde ich nicht mehr gefördert. Ich durfte nicht mehr in den Operationssaal und hatte als erfahrene Assistenzärztin plötzlich weniger Befugnisse als die Medizinstudis. Das war eine Machtdemonstration.» Die dreifache Mutter und Oberärztin an einem Berner Spital weiss: «Wenn man sich einsetzt, leidet die Karriere ziemlich darunter.»
Eine Karriere, die viel abverlangt: Unregelmässige Arbeitszeiten, Überstunden und Stress gehören zum Beruf. Dies erfordert Flexibilität, Leidenschaft und Engagement. Fünfzig Stunden pro Woche beträgt das Hundertprozentpensum – acht bis zehn Stunden mehr als in anderen Berufsfeldern. Zudem dauert der Ausbildung lange: Wer mit 19 Jahren das Studium beginnt, ist frühestens mit 29 Facharzt oder Fachärztin. Christina Bürgler, eine junge Assistenzärztin am Inselspital Bern, meint: «Wenn man sich für diesen Weg entscheidet, weiss man über die Voraussetzungen Bescheid und ist darauf vorbereitet. Ich will Fachärztin werden und bin dafür auch bereit, so viel zu leisten. Auch wenn dies oft energiezehrend ist.»
Nicht alle teilen diese Meinung, wie eine im letzten Frühjahr veröffentlichte Studie der Ärztegesellschaft FMH und des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte VSAO aufzeigt. Rund zehn Prozent aller Ärztinnen und Ärzte geben im Verlauf ihrer Laufbahn die «kurative Tätigkeit am Patienten» auf. Als häufigste Gründe für den Ausstieg werden dabei das Arbeitspensum, die Arbeitszeiten sowie die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf genannt. Letzteres scheint vor allem für Frauen eine heikle Thematik zu sein.
Ablehnung der Spitäler
«Es macht einen grossen Unterschied, ob eine Ärztin oder ein Arzt Kinder bekommt», meint Lena Grün. Was bei Männern positiv aufgenommen wird, führe bei Frauen schnell zu Konflikten. Es heisst, man sei weniger belastbar, abgelenkt, komme nicht vorwärts. Diese Ablehnungshaltung gegenüber dem Mutterwerden sei für schwangere Ärztinnen konkret spürbar: «Spitäler halten sich eigentlich kaum an bestehende Vorschriften für schwangere Frauen wie die Beschränkung auf neun Stunden Arbeit pro Tag oder vorgeschriebene Ruhezeiten. Mein Vorgesetzter gratulierte mir im ersten Satz zur Schwangerschaft, im zweiten folgte der Hinweis darauf, dass die Neun-Stunden-Regelung im Spital leider nicht einhaltbar sei.»
Während Lena Grüns Schwangerschaft führte dies zum Eklat: Nach einer langen Schicht an einem Feiertag musste sie den Dienst aufgrund von Wehen abbrechen. «Viele der Vorgesetzten können nicht verstehen, dass es irgendeinmal körperlich nicht mehr geht und lassen schwangere Ärztinnen nicht nach Hause.» Dies überrascht, schliesslich handelt es sich um medizinisch geschultes Personal.
«Schwieriges Thema», meint auch Christina Bürgler, als sie auf ihre Familienplanung angesprochen wird, «ich habe schon oft mit befreundeten Medizinerinnen darüber gesprochen. Es gibt keinen idealen Zeitpunkt für eine Schwangerschaft.» Die junge Dermatologin ist sich bewusst, dass ein Konflikt zwischen Karriere und Familiengründung bevorstehen könnte, und hat sich klare Ziele gesteckt. Sie will mindestens zwei Jahre ihrer Facharztausbildung im Vollzeitpensum absolvieren, bevor an Familie gedacht wird.
Der Blick auf Kaderpositionen an Spitälern bestätigt den Konflikt zwischen Mutterwerden und Karriere: Je höher die Hierarchiestufe, desto weniger sind Frauen vertreten. Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, sind doch die Medizinerinnen zu Beginn des Studiums noch in knapper Überzahl. «Viele Frauen bleiben auf der Strecke, oft wegen der Familiengründung», bestätigt auch Nadia Corazza, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pathologie und Mitglied in der Gleichstellungskommission der Universität Bern. Gründe seien dabei die enormen Anforderungen: Um zu habilitieren sind neben der Klinikpraxis auch Forschungserfahrungen im In- und Ausland sowie genügend eigene Publikationen vorzuweisen. Ein solcher Karrieregang wird durch einen schwangerschaftsbedingten Unterbruch ungemein erschwert.
Die Quoten kommen
Um dem Problem beizukommen, wurde an der medizinischen Fakultät der Universität Bern die erwähnte Gleichstellungskommission eingesetzt. Diese hat einen Gleichstellungsplan veröffentlicht, in dem verschiedene Massnahmen vorgeschlagen werden. Zum Beispiel soll eine Frauenquote von 30 Prozent auf allen Hierarchiestufen angestrebt werden. Ob dies in absehbarer Zeit gelingt, darf bezweifelt werden: Laut Gleichstellungsplan muss vorerst eine Machbarkeitsstudie durchgeführt werden, auf Anfang 2018 ist ein Konzeptpapier geplant. Die Quotenlösung sei zwar ein «Pflaster auf eine tiefergehende Wunde», aber vielleicht nötig, um aus den momentan vorherrschenden Verhältnissen zu gelangen, meint Corazza. Ausserdem betrifft das Papier in erster Linie die medizinische Fakultät, weniger das Inselspital. Dieses sei «noch einen Schritt weiter zurück», sagt Corazza.
Wie die «tiefergehende Wunde» angegangen werden soll, ist unter Medizinerinnen und Medizinern umstritten. «Ich denke, man sollte auch bei der Kinderbetreuung für Kinder von medizinischem Personal ansetzen», sagt Christina Bürgler. Im Spital komme manchmal unverhofft etwas dazwischen, dann sei es unmöglich, einfach den Kittel an den Nagel zu hängen und Feierabend zu machen. Solche Situationen sind schwierig zu vereinbaren mit den fixen Bring- und Holzeiten der meisten Kitas. Corazza von der Gleichstellungskommission stimmt zu: «Es gibt zu wenige Kita-Plätze und die Öffnungszeiten sind ein Problem.» Weder Corazza noch Grün sehen jedoch in einer verbesserten Kinderbetreuung eine befriedigende Lösung. «Ich könnte meine Kinder nicht fünf Tage in der Woche abgeben. Für mich war immer klar: Wenn ich Kinder habe, will ich nicht mehr hundert Prozent arbeiten», sagt Lena Grün.
Sie arbeitet heute 60 Prozent als Oberärztin in der Notfallabteilung eines Berner Spitals, an den freien Tagen betreut sie ihre drei Kinder. Ihre Teilzeitstelle bleibt aber eine Ausnahme in der Berner Spitallandschaft. Medizinische Berufe eigneten sich nicht dafür, tiefprozentig gestaltet zu werden, so der Tenor des ärztlichen Fachpersonals: Man sammle zu wenig Erfahrung und es fehle die nötige Kontinuität. Tatsächlich verlängert sich die Ausbildungszeit aufgrund der vielen Anforderungen enorm, sobald das Pensum verkleinert wird. Lena Grün bemängelt in dieser Hinsicht das unflexible Denken in Schweizer Spitälern: «Die Teilzeitarbeit müsste als Chance gesehen werden. Sie wäre ein Gewinn für die Spitäler.» Gerade in einem Beruf, der so viel Mitgefühl und Konzentration erfordere, sei es wichtig, sich einen Gegenpol zum stressigen Stationsalltag zu schaffen. «Seit ich 60 Prozent arbeite, bin ich ausgeglichener, zufriedener und freue mich auf die drei Arbeitstage in der Woche – ich bin die bessere Ärztin als zuvor», sagt sie. Auch Corazza sieht in der Teilzeitarbeit den richtigen Lösungsansatz, um Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Medizin zu verbessern. Das Instrument ist nicht neu und in der Branche ist die Nachfrage nach Teilzeitstellen bekannt. Was steht also einer Anpassung der Arbeitsmodelle und -bedingungen im Weg?
Gefahr des Widerstands
«Ich glaube schon, dass dieses Problem von oben kommt», sagt Grün und ergänzt: «Bei den älteren, oberen Kaderärzten fehlt der Wille, in dieser Hinsicht voranzugehen. Es heisst oft, früher habe man noch mehr gearbeitet als heute und es hätte auch noch keine Teilzeitmöglichkeiten gegeben.» Deshalb bräuchte es mehr Druck vom Personal: «Man müsste mutig sein!», meint Lena Grün. Sie selber will mit ihren Äusserungen anonym bleiben. Und dazu hat sie gute Gründe. Sich in der hierarchisch aufgebauten Spitalwelt gegen Arbeitsbedingungen zu wehren, kann schnell mal das Karriereende bedeuten.
Exemplarisch dafür steht der Fall Natalie Urwyler. Der ehemaligen Oberärztin an der Universitätsklinik für Anästhesiologie wurde 2014 nach wiederholten Auseinandersetzungen mit ihrem Vorgesetzten gekündigt. Gegen die Kündigung nach zehn Jahren Dienst ging Urwyler gerichtlich vor. Im noch laufenden Verfahren konfrontiert Urwyler den Arbeitsort Inselspital mit schweren Vorwürfen: Sie spricht nebst Diskriminierung und Mobbing auch konkret von Fehlgeburten bei sich und Berufskolleginnen wegen rücksichtslosem Einsatzaufgebot während der Schwangerschaft. Urwyler fordert für die ihrer Meinung nach unrechtmässige Kündigung Schadensersatz in Millionenhöhe. Dabei geht es um viel mehr.
Der Fall Urwyler sowie die Aussagen aller Gesprächspartnerinnen deuten darauf hin, dass das hyperkompetitive Umfeld bestehend aus Forschung, Uni und Klinik nicht geschaffen ist für Personen, die auch noch so etwas wie ein Familienleben pflegen möchten. Dies gilt auch für Männer. Jedoch ist es für Frauen mit Kinderwunsch noch schwieriger, sich in besagtem Umfeld zu behaupten. Der Grund dafür scheint offensichtlich: Aufgrund von Schwangerschaft und Geburt müssen Frauen ihre Arbeit zwischenzeitlich ruhen lassen. Männer hingegen unterliegen diesen physischen Einschränkungen nicht. Es stellt sich die Frage, wann diese Tatsache auch in der Medizinbranche erkennt wird.
*Name der Redaktion bekannt