Das Start-up im Rotlichtmilieu

rotlicht

Bild: XENIA, Fachstelle Sexarbeit

01. Juni 2016

Von und

Wenn sich der Nebenjob um die schönste Nebensache dreht: Zwei Studentinnen steigen ins Geschäft mit der käuflichen Liebe ein und werden Bordellbesitzerinnen.

Ein gelbes Haus in Wabern und eine Türklingel mit der Aufschrift: «1. Stock». Nichts verrät von aussen, was in der kleinen Wohnung vor sich ging, und trotzdem wussten es alle. Vor fast zwei Jahren kündigte ein Bericht in der «Berner Zeitung» die Schliessung des dort ansässigen Erotikbetriebs «Studio Delicious» an. Mittlerweile ist es soweit: Der Schuhabtreter «Members only» vor der Eingangstür ist verschwunden, ebenso die regelmässig vor dem Haus parkierten Autos mit deutschen und tschechischen Nummernschildern. Das Studio soll zwei jungen Frauen gehören. Wer sind die beiden und wie kommen sie dazu, ein Geschäft zu betreiben, das vom Verkauf körperlicher Liebe lebt? Nach langer Suche stosse ich in einem Online-Forum für Freier auf eine Handynummer. Sie gehört Anna. Entgegen meinen Erwartungen sagt sie sofort zu, als ich sie nach einem Treffen frage. Ob’s okay sei, wenn sie in Malerkleidern erscheine, fragt sie. Die Wohnung in Wabern wird momentan gerade ausgeräumt und bis Ende Woche muss alles draussen sein, die Wände gestrichen, die Dekorationen und Accessoires entfernt.

Der kleine Nebenverdienst

Anna sitzt schon an einem Tischchen, als ich eintreffe, eine Zigarette zwischen ihren blassen, feinen Fingern. «Geboren bin ich in Brasilien, es war das Studium, das mich hierhergeführt hat. Und auch das Interesse, eine neue Kultur kennenzulernen.» Mittlerweile wohnt sie schon einige Jahre in der Schweiz und denkt nicht mehr an ein Zurückkehren in das Land, in dem ihre Familie lebt. Wenn sie zwischen zwei Zügen an der Zigarette von ihrer Geschichte erzählt, hört man den schwierig einzuordnenden Dialekt noch raus. Ansonsten gibt es nicht mehr viel, das an ihre Herkunft erinnert. Ihr Mann ist Schweizer, ihre Freundinnen und Freunde leben hier.

«Ich begann an der Uni ein Wirtschaftsstudium und lernte dabei meine gute Freundin Carol kennen. Neben dem Studium habe ich immer gearbeitet, häufig im Gastgewerbe, und als ich dann mal wieder auf Jobsuche war, sprach mich Carol an. Sie meinte, sie hätte einen perfekten Job für mich, weil ich nebst Portugiesisch auch gut Französisch und Englisch spreche. Ich wusste, dass Carol zu dieser Zeit mit ihrem Mann in einem Geschäft arbeitete, hatte aber ehrlich gesagt keine Ahnung, worum es dabei ging.» Wie sich herausstellt, betreibt dieses Unternehmen eine bekannte Schweizer Internetseite, auf welcher Frauen ihre sexuellen Dienste anbieten. «Im ersten Moment war ich irritiert – in Brasilien ist Prostitution verboten. Trotzdem ging ich ein paarmal mit Carol zur Arbeit und verlor so ein bisschen die Vorbehalte gegenüber diesem Thema. Es war eine normale Arbeit und nichts Schmutziges, wie ich mir das vorgestellt hatte.» Zweifel verfliegen und Anna steigt mit ein. Gemeinsam mit Carol kümmert sie sich um die Online-Profile der Damen. Die beiden besuchen Rotlichtbetriebe in der Schweiz, fotografieren die halbnackten Inserentinnen und schreiben Texte für die Internetseite.

Schritt in die Selbstständigkeit

Doch der Aufwand ist gross und ab einem gewissen Punkt werden auch die Noten im Studium schlechter. «Die Uni war das Wichtigste für mich und ich konnte es mir nicht mehr leisten, so viel zu arbeiten. Wir waren eigentlich die ganze Zeit unterwegs, viel in der Westschweiz, wohnten aber in der Deutschschweiz. Zu dieser Zeit wuchs eine Idee in uns. Wir kannten mittlerweile das Geschäft, kannten viele Etablissements und Sexarbeiterinnen. Weshalb nicht einen eigenen Betrieb eröffnen?»

«Wir gehen mal zusammen einen Kaffee trinken, sprechen über den Sex mit dem letzten Kunden»

Die beiden Studentinnen machen sich also selbstständig und auf die Suche nach einem geeigneten Standort. Kein einfaches Unterfangen, wie sich bald herausstellt. In einem ausgetrockneten Wohnungsmarkt einen Vermieter zu überzeugen, seine Wohnung an ein Etablissement zu vermieten, gestaltet sich als denkbar schwierig. In Basel an der Steinentorstrasse werden sie dann fündig. Unter dem Namen «Studio Delicious» eröffnen sie ihren ersten Betrieb, während sie nebenbei Wirtschaft studieren. «Doch das Geschäft in Basel lief schlecht», erinnert sich Anna, «die Mädchen waren undiszipliniert und auch wir selbst noch zu unerfahren.»

Kurz darauf bietet sich den beiden aber eine neue Gelegenheit: In Wabern bei Bern können sie eine Wohnung mieten. So verlegt der Betrieb schon nach einem halben Jahr seinen Standort. Das Geschäftsmodell aber bleibt dasselbe: Die beiden vermieten einzelne Zimmer an Frauen, die jeweils für ein paar Wochen einziehen und auf eigene Rechnung arbeiten. Anna und Carol selbst leben unterdessen in der Zentralschweiz.

Ein interessanter Job

«Wir vermieteten eigentlich eine WG. Die Girls kommen aus Deutschland, Polen oder dem Ostblock und bleiben fast nie länger als einen Monat. So machen wir zwar weniger Geld als ein Laufhaus, haben aber auch weniger Aufwand und mehr Flexibilität. Die Frauen zahlen uns nur die Miete und können selbst über ihre Arbeit bestimmen.» Ihre Freundinnen und Freunde wissen, wie die beiden ihr Geld verdienen. Ein Problem damit hat niemand. «Die meisten meiner Verwandten in Brasilien kennen meinen Job hier in der Schweiz. Meinen Grosseltern habe ich‘s nicht erzählt, das ist eine andere Generation. Auch meine Mutter war zu Beginn skeptisch, das ist doch normal, sie liebt mich.» Auf die Frage, wie denn ihre Berufsbezeichnung lautet, antwortet sie mit einem Lächeln: «Ich arbeite im ‚Service Department‘.»

Anfangs bin ich noch erstaunt, wie ehrlich Anna über ihre Arbeit spricht, doch je länger ich zuhöre, desto mehr begreife ich, dass es ihr dabei vor allem ums Geschäft geht und sie keinen Grund sieht, jemandem etwas vorzumachen. «Es ist ein interessanter Job. Die Gesellschaft hat kaum Kontakt mit dieser Industrie, man will nicht darüber sprechen. So entstehen Vorurteile über Alkohol, Drogen und Gewalt, die aber nicht zutreffen. Im Normalfall läuft auch bei uns immer alles seriös und wir schauen, dass die Girls ihre Arbeit normal erledigen können.»

Keine Bewilligung

Prostitution ist in der Schweiz legal, im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich oder Schweden. Der Bundesrat sprach sich 2015 explizit gegen ein Verbot aus. Er forderte aber, das Angebot mit gesetzlichen Massnahmen einzudämmen. Mittlerweile müssen Erotikbetriebe im Kanton Bern eine entsprechende Bewilligung vom Statthalteramt einholen, dies gilt auch für das Etablissement von Anna und Carol. Der entsprechende Antrag wird allerdings abgelehnt, das Studio sei nicht zonenkonform, da es in einer gemischten Wohnzone liegt.

«Wir kannten mittlerweile das Geschäft, kannten viele Etablissements und Sexarbeiterinnen. Weshalb also nicht einen eigenen Betrieb eröffnen?»

Ein Bericht im Quartierblatt «Wabern-Post» anfangs 2014 spricht zudem von verärgerten Anwohnern, ohne näher auf diese einzugehen. Darauf angesprochen, zeigt sich Anna erstaunt: «Wir erhielten praktisch nie Reklamationen, von Problemen mit Nachbarn ist mir nichts bekannt. Es ist auch in unserem Interesse, nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Direkt unter unserem Betrieb ist eine Pizzeria, nebenan das Migrationsamt, ein Tierarzt, ein Coiffeur – jemand muss gehen, und das sind natürlich wir.»

Wer macht’s freiwillig?

Vom Statthalteramt erhielt das «Studio Delicious» eine Frist bis April 2016, nun sind die Türen geschlossen. In die leerstehende Wohnung sollen bald Nachmieter einziehen. Carol und Anna haben deswegen aber keine Existenzängste. «Im Moment besitzen wir zwei weitere Adressen im Grossraum Bern, welche der Öffentlichkeit weniger bekannt sind. Das ist besser für uns und die Frauen, die dort arbeiten. Seit dem Bericht in der BZ erhielt das Studio in Wabern zu viel Aufmerksamkeit. Das war für die Frauen nicht schön und auch für uns nicht. Diskretion gehört zum Geschäft.»

Die Offenheit, mit der Anna darüber spricht, scheint ihre Art zu sein, um einer öffentlich stigmatisierten Branche etwas Greifbares zu geben und mit schmutzigen Klischees aufzuräumen. Wer sich die Betreiberin eines Erotikbetriebs vorstellt, sieht sich wohl eher mit popkulturellen Klischees von dicken Puffmüttern konfrontiert. Eine knallharte Businesslady wie Anna scheint da zuerst weniger ins Bild zu passen. Wie kommt man als Frau in diesem Geschäft zurecht? «Wir haben als Frauen sicher gewisse Vorteile. Die Mädchen arbeiten schon den ganzen Tag mit Männern und haben daher zu uns ein besseres und freundschaftlicheres Verhältnis. Dazu gehört auch, ehrlich über Probleme zu reden. Wir wollen immer sicher sein, dass alle Frauen, die für uns arbeiten, das freiwillig machen und keinen Zuhälter haben. Das kann man nicht einfach so fragen, das muss man rausspüren. Wir gehen mal zusammen einen Kaffee trinken, sprechen über den Sex mit dem letzten Kunden oder wie’s ihnen so bei der Arbeit läuft.»

An Nachschub scheint es zumindest nicht zu mangeln, die Wirtschaftskrise hat viele Mädchen ins Rotlichtmilieu getrieben. Die Frage nach der Freiwilligkeit ist da schon etwas schwieriger zu beantworten. «Viele Frauen verkaufen ihren Körper, weil es ihnen finanziell schlecht geht und sie nehmen müssen, was möglich ist. Darunter sind solche, die sich von ihrem Mann getrennt oder den Job verloren haben. Kaum eine arbeitet zum Spass in dieser Branche, aber das trifft doch auf viele Jobs zu. Wenn jemand aussteigen will, helfen wir gerne mit und geben Tipps für die Jobsuche. Ich will einen normalen Betrieb und dass jede, die dort arbeitet, das auch selbst so will. Wir sind ja alles nur Menschen.»

Die goldene Zukunft

Für Carol und Anna scheint sich das Geschäft zu lohnen; seit vier Jahren konzentrieren sie sich ausschliesslich auf die Arbeit im ältesten Gewerbe der Menschheit. Nach dem Studium arbeiteten sie zeitweise bei einer Maschinenfirma, respektive im Accountingbereich, haben aber bald wieder gekündigt. «Wir haben einen Wirtschaftsabschluss und könnten auch eine andere Stelle finden, aber unsere Karriere geht momentan steil bergauf. Als Angestellte würde ich wohl ähnlich viel verdienen wie jetzt, doch ich geniesse meine Flexibilität und Freiheit. Wenn ich in die Ferien gehen will, gibt’s niemanden, der mir das verbietet, wir müssen uns nur gemeinsam absprechen. Unsere Aussichten, das Geschäft zu vergrössern, sind momentan sehr gut, aber damit steigt auch das Risiko. Eine Gesetzesänderung kann alles zerstören. So wie es in Wabern geschehen ist.» Zudem ist die Nachfrage nach käuflichem Sex beschränkt: «Der Markt wird nicht grösser, wir dürfen uns nicht selbst zur Konkurrenz werden. Mit mehr Betrieben würden sich unsere Frauen nur gegenseitig die Kunden wegnehmen. Für uns gibt’s daher zwei Optionen: Wir werden zur Kette und expandieren oder wir bleiben in Bern und vergrössern unsere Firma, indem wir etwa ins Immobiliengeschäft einsteigen. Wir haben auch schon versucht, unser Angebot zu erweitern und mehrere Services anzubieten. Das mit dem Kondomverkauf lief aber nicht so gut.»

«Wir gehen mal zusammen einen Kaffee trinken, sprechen über den Sex mit dem letzten Kunden»

Als ich das nächste Mal an dem gelben Haus in Wabern vorbeikomme bleibe ich kurz stehen. Aus dem Restaurant im Erdgeschoss dringt der Duft von knusprigem Pizzateig. Ich werfe einen Blick auf die Türklingeln neben dem Hauseingang. Auf dem billigen Schildchen steht immer noch, ebenso kryptisch wie unmissverständlich: «1. Stock».

 

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