«Bisschen mehr Ruhe, dann gelingt es viel besser»
Reinhard Schulze im Gespräch. Bild: Sam von Dach
In Zeiten von Flüchtlingskrisen und Terroranschlägen ist Reinhard Schulze in den Medien gefragt wie kaum ein Wissenschaftler. Der Professor für Islamwissenschaften an der Universität Bern ist der Experte, wenn es um Fragen rund um die muslimische Welt geht. Bei einem Besuch wollen wir herausfinden, wer hinter dem Experten steckt und welches Verhältnis er zu den Medien pflegt.
Zum gewohnt finsteren Blick Reinhard Schulzes gesellt sich ein freundliches Lächeln. Dann die Gelassenheit in der Stimme. Die Bücher in seinem Büro scheinen den Lärm der Aussenwelt zu schlucken. Sie erzeugen eine ungewohnte Ruhe im Raum. Schulzes Miene ähnelt jener eines Sportlers im letzten Karriereviertel. Oder vielleicht jener eines ehemaligen Bundesrates. Zu viele Fragen bekam er wohl schon gestellt, als dass noch eine Spur von Neugierde vor einem Interview übrig sein könnte. Eine Art Erwartungslosigkeit, die man ihm doch auch etwas übel nehmen muss. Vor allem deshalb, weil sie den Eindruck vermittelt, dass es hier nichts Neues zu erfahren gibt.
Das Händeschütteln
Fast täglich kämen Anfragen von Medien, erzählt Schulze. Manchmal beatwortet er sie. Manchmal nicht. Manchmal versteht er, «dass sie in der Öffentlichkeit diskutiert werden, da für eine Urteilsbildung nicht hinreichende Projektionen da sind». Manchmal sind es Fragen zu Diskursen in der Öffentlichkeit, die «schlicht kein Thema sind». Etwa bei einem Drittel bis der Hälfte der Medienanfragen, erteile er eine Absage. Die Diskussion um zwei muslimische Schüler, die der Lehrerin nicht die Hand geben wollten, führt Schulze als Beispiel an: «Wenn es so weit kommt, dass sich eine Bundesrätin zu der Geschichte äussert, dann muss man sich schon fragen: Ist hier die Verhältnismässigkeit noch gewahrt?»
«Jeder weiss, wer die Young Boys sind, darüber müssen wir nicht diskutieren. Aber was wissen wir schon über das Händeschütteln?»
Kritik an den Medien, wie sie von allen Seiten kommt. Auch von jenen, wie Reinhard Schulze, die sich trotzdem täglich mit ihnen herumschlagen. Oder herumschlagen müssen, findet auch Schulze: «Das ist eine moralische Verantwortung, die in dem Moment entsteht, wo die Öffentlichkeit ein Informationsbedürfnis hat.»
Definitiv ungenügend
Mit aktuellen Entwicklungen beschäftigt sich Reinhard Schulze seit seiner Habilitation in den 80er Jahren. Eine Zeit, in der sich niemand für seine Forschung interessierte. Niemand wusste, was der Islam ist. Und vor allem auch: Niemand glaubte zu wissen, was der Islam ist. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 liessen eine öffentliche Diskussion aufflammen. Sie liess nach, bis sie mit der Lancierung der Minarettinitiative 2007 erneut aufkam. Der Bürgerkrieg in Syrien, die Flüchtlinge, der IS belgeiten heute die tägliche Berichterstattung. Eine Berichterstattung, der Schulze die Note «definitiv ungenügend» gibt: «Wir sind nicht mehr in den 90er oder in den Nullerjahren. Wir haben heute komplizierte Verhältnisse und die verlangen neue Formen der Informationsgestaltung.» Man müsse von den Medien erwarten können, dass sie nicht allein bei ihren alten Formaten bleiben, dass sie dynamischer werden. Man könne unbekannten Themen nicht den gleichen kleinen Raum zuweisen, wie einem Fussballspiel. «Jeder weiss, wer die Young Boys sind, darüber müssen wir nicht diskutieren. Aber was wissen wir schon über das Händeschütteln?»
Der «sogenannte Islamische Staat»
Die Frage kommt nicht vom Wissenschaftler Schulze. Die Frage kommt vom Rhetoriker Schulze. Einem Rhetoriker, der versteht, wie die Sprache der Medien funktioniert. Der sich anpasst, den Medien einen Schritt entgegenkommt. Der aber auch weiss, wann er sprachlich keine Kompromisse eingehen will. Seine Ausführungen sind inhaltlich redundant, geprägt von Vergleichen, ergänzt durch Beispiele. Klar, unmissverständlich, strukturiert. Er spricht nie vom «Islamischen Staat», immer vom «sogenannten Islamischen Staat». Und es sei auch keine «Angst», die der IS als Waffe nutze: «Haben Sie mal einen angstvollen Menschen erlebt? Das sieht ganz anders aus. Ich hab ein bisschen den Eindruck, dass man die Unsicherheit, die Vorurteile oder die Ressentiments, die entstehen, sehr schnell mit dem Begriff ‚Angst’ zusammenfasst, um eine bestimmte Befindlichkeit zu beschreiben. Aber Angst, wirklich Angst, das ist was völlig anderes.» Ein zu grosser Begriff sei es, für eine andere Situation. Und so fällt die Einigung auf den Begriff «Unsicherheit», um das Gefühl zu beschrieben, das durch Terror oder teils auch durch Migration entsteht.
Ein bisschen mehr Ruhe
Reinhard Schulze hat neben Islamwissenschaft und Semitistik auch Linguistik und Romanistik studiert. Man erkennt hinter dem Rhetoriker Schulze wieder den Wissenschaftler, wenn er von seiner Wahrnehmung der Diskussionen in der Öffentlichkeit spricht. Sie würden zu oft so ablaufen, dass die Diskussionsteilnehmenden bereits über ein Urteil verfügen. Dann werde das Urteil diskutiert, die Einstellung. Doch es geben Situationen, in denen man gar keine Meinung haben kann, weil wir nicht genügend informiert seien. «Um zu einer vernünftigen Urteilsfindung zu kommen, braucht es ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Bescheidenheit, bisschen mehr Ruhe, dann gelingt es viel besser.»
Chaos und Unsicherheit
Aller Kritik zum Trotz findet Schulze auch lobende Worte für die vierte Macht im Staat. «Es gibt wirklich Medien, von denen ich das Gefühl habe, dass sie auch mit schwierigen Situationen gut umgehen können.» Gerade bei der Berichterstattung über die Terroranschläge in Brüssel hätten die belgischen Medien einen exzellenten Job gemacht. Sie hätten sich wirklich bemüht, die Informationen zu ordnen, Ordnung zu schaffen, damit die Bevölkerung nicht in Panik verfällt.
«Wenn es so weit kommt, dass sich eine Bundesrätin zu der Geschichte äussert, dann muss man sich schon fragen: Ist hier die Verhältnismässigkeit noch gewahrt?»
Die Bevölkerung werde lernen müssen, mit der Unsicherheit umzugehen, die durch den Terror entsteht, so Schulze. Man müsse der Bevölkerung Informationen an die Hand geben, damit diese Unsicherheit nicht mehr so dominant ist. Weil die Terroristen genau das wollen: Chaos stiften.
Die Unsicherheit verspürt auch er selbst. Sie sei berechtigt und verständlich. Auch am Institut hätte man Sicherheitsmassnahmen getroffen wegen Drohungen. Doch die Gesellschaft müsse sich damit auseinandersetzen: «Was produziert Unsicherheit? Welche Befürchtungen, welche persönlichen Befürchtungen, entstehen? Welche Veränderungen sind realistisch? Wie können wir sie bewältigen? Es gäbe tausend Möglichkeiten, darüber zu sprechen.» In zehn Jahren werden wir wissen, dass wir gelernt haben, ist Schulze überzeugt.
Die Macht des Experten
Und man glaubt ihm. Deshalb, weil er es selbst glaubt und weil er es sagt. Reinhard Schulze ist in der Tat ein Rhetoriker, auf seine eigene Art und Wiese. Nicht so, wie Barack Obama oder Donald Trump Rhetoriker sind. Reinhard Schulze ist Rhetoriker durch seine Authentizität. Eine Authentizität, die einen Gegenpol zu den skandalisierenden Medien und Wahrheiten verdrehenden PolitikerInnen darstellt. Und das hat viel mit seinem Umgang mit der Sprache zu tun. Das hat aber auch viel mit seiner Rolle als Experte zu tun. Die Figur des Experten hat gerade in der letzten Zeit viel an Macht gewonnen, wie er selbst sagt. «Die Universität schafft es schon, gewisse öffentliche Anschauungen in eine Rechtfertigungshaltung zu bringen.»
Schulze beobachtet eine Entwicklung in den Medien. «Vor einigen Jahren, sagen wir so von 2005 bis 2010 konnten die Medien noch skandalisieren bis zum geht nicht mehr, das ist heute nicht mehr möglich.» In der immer schneller werdenden Medienwelt sehen sich Medien, die noch Mehrwert bringen wollen, zunehmend gezwungen, auf Expertenwissen zurückzugreifen. So findet laut Schulze zur Zeit eine Art Korrektur statt: «Plötzlich müssen sich die Medien vor mir rechtfertigen.» Und wenn Schulze das Händeschütteln muslimischer Schüler nicht als öffentlichkeitsrelevantes Thema erachtet, wird es schlicht nicht kommentiert.