«Viele Menschen kommen aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht zu ihrem Recht».
Dr. iur. Jann Schaub im Gespräch mit der bsz (Fotos von Alina Rehsteiner)
Im Gespräch mit der bsz erklärt Jann Schaub die Human Rights Law Clinic, eine innovative Lehrform der Universität Bern. Der Strafexperte erzählt von den vielfältigen Tätigkeiten: Über Migrationsangelegenheiten bis zu einem Antrag für einen expliziten Foltertatbestand im Schweizerischen Strafgesetzbuch.
Text: Hannah Porsche
Fotos: Alina Rehsteiner
Zur Person:
Dr. iur. Jann Schaub ist ein Experte im Bereich Strafrechtswissenschaften und Kriminologie mit einem breiten Erfahrungsspektrum. Als Koordinator und Lehrbeauftragter der Human Rights Law Clinic an der Universität Bern ist er massgeblich an der Organisation der Clinic und der Koordination von externen Partner*innen beteiligt. Seine berufliche Laufbahn umfasst unter anderem Tätigkeiten als Anwalt, wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter für Strafrecht. Durch sein Engagement trägt er dazu bei, Studierenden praxisnahe Einblicke in Rechtsfragen im Bereich der Menschenrechte zu vermitteln.
Können Sie die Human Rights Law Clinic kurz zusammenfassen?
Die Human Rights Law Clinic richtet sich an Rechtstudent*innen, welche ein Interesse an Fallbearbeitung haben. Die Law Clinic ist eine innovative Lehrform, in der Studierende direkt an realen Fällen mitarbeiten können. Sie ist deshalb besonders, weil es echte Fälle sind und keine Übungsfälle oder Musterbeispiele. Wir kooperieren mit externen Partner*innen, zum Beispiel NGOs. Die Studierenden sehen somit direkt die Auswirkungen ihrer Rechtsschriften. In der Schweiz gibt es erst wenige Law Clinics. Aber in Amerika oder anderswo in Europa hat mittlerweile fast jede Uni eine Law Clinic, manchmal sogar mehrere. Die Law Clinic hier in Bern existiert seit 2017. Auch wichtig zu erwähnen ist, dass wir interdisziplinär mit dem Department Strafrecht und Öffentliches Recht arbeiten. Die Professoren Alberto Achermann, Jörg Künzli und Jonas Weber co-leiten die Klinik.
Wie ist die Human Rights Law Clinic entstanden?
Ursprünglich entstand die Idee aus einem Gespräch, auf Anregung von Dr. Marco Mona. Marco Mona ist in der Schweiz eine bekannte Persönlichkeit im Bereich Rechtswesen, als angesehener Anwalt und Mitglied der ISVC. Dort wurde die Idee erstmals aufgegriffen. Danach haben Alberto Achermann, Jörg Künzli und Jonas Weber diese Idee weiter vertieft und diskutiert. Wir behielten sie eine Weile im Hinterkopf. Besonders inspirierend war auch der Trend, dass Law Clinics im Ausland immer beliebter wurden. Im Jahr 2016 wurde die Idee konkreter, der Mittelbau wurde miteinbezogen und Konzepte wurden entwickelt. Schliesslich stellten wir einen Finanzierungsantrag bei der Universität im Rahmen innovativer Lehrprojekte und erhielten eine Anschubfinanzierung. 2017 konnten wir dann das Pilotprojekt für die ersten beiden Semester umsetzen. Es funktionierte gut und erhielt positive Rückmeldungen, weshalb wir es kontinuierlich ausbauten.
Die Law Clinic ist eine innovative Lehrform, in der Studierende direkt an realen Fällen mitarbeiten können.
Wie sieht der Arbeitsablauf bei der Bearbeitung von diesen Fällen aus, wie werden die Studierenden involviert? Treten diese selbst vor dem Gericht auf?
Das ist sehr unterschiedlich. In der Regel arbeiten wir eng mit externen Partner*innen zusammen. Unsere Student*innen plädieren nicht vor dem Gericht, das übernehmen meistens externe Anwält*innen oder gelegentlich jemand aus unserer Clinic. Wir haben auch eingetragene Anwält*innen bei uns in der Clinic. Normalerweise werden wir von NGOs, Beratungsstellen oder Anwält*innen kontaktiert, die einen Fall haben, der für unsere Clinic geeignet ist. Diese Fälle dürfen nicht zu enge Fristen haben und müssen rechtlich interessant sein. Die Studierenden sollen nicht nur eine kurze Aktennotiz schreiben, sondern auch didaktisch arbeiten können. Entweder werden wir gebeten, rechtliche Schriftstücke zu verfassen und einen Entwurf für die externen Partner*innen zu erstellen oder uns direkt in den Fall zu involvieren. Oft werden die Student*innen in Klient*innengespräche einbezogen und unterstützen bei der Recherche.
Wieso wurde der Schwerpunkt auf die Menschenrechte gesetzt?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Dass unsere Departemente in diesem Bereich das nötige Fachwissen besitzen, ist aber der Hauptgrund. In den Themenbereichen Menschenrechte, Migrationsrecht, Straf- und Massnahmenvollzugsrecht können wir am meisten beitragen, da wir das spezifische Know-how dazu haben. Ein weiterer Grund ist, dass in diesem Bereich viele rechtssuchende Menschen aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht zu ihrem Recht kommen. Solche Fälle sind oft zeitaufwendig und würden sich für Anwaltkanzleien monetär nicht genug lohnen. Es gibt nicht ausreichend niederschwellige Angebote für Rechtsvertretung im Bereich der Menschenrechte. So konkurriert die Human Rights Law Clinic wirtschaftlich nicht mit anderen Kanzleien oder Anwält*innen.
Was waren die beeindruckendsten Fälle, welche die Human Rights Law Clinic bearbeitet hat?
Ein jüngst abgeschlossener Fall betrifft eine Empfehlung des UNO-Ausschusses gegen Folter an die Schweiz, die darauf abzielte, einen spezifischen Straftatbestand für Folterhandlungen im Schweizerischen Strafgesetzbuch zu verankern. Wir konnten in Zusammenarbeit mit einer NGO einen solchen Tatbestand entwickeln und dem Bundesamt für Justiz vorschlagen. Unsere Student*innen hatten sogar die Gelegenheit, ihre Vorschläge dort vorzutragen und an der Diskussion teilzunehmen. Es war ein Erfolg, sich aktiv in die Gesetzgebung einbringen zu können.
Ein jüngst abgeschlossener Fall betrifft eine Empfehlung des UNO-Ausschusses gegen Folter an die Schweiz, die darauf abzielte, einen spezifischen Straftatbestand für Folterhandlungen im Schweizerischen Strafgesetzbuch zu verankern.
Was genau wurde in diesem Fall geändert?
In der Schweiz gibt es keinen expliziten Foltertatbestand im Strafgesetzbuch, obwohl dies international empfohlen wird. Unsere Einschätzung war, dass eine solche Norm fehlt. Daher haben wir einen Vorschlag erarbeitet, um dies zu ändern. Dieser Fall war aussergewöhnlich, da wir nicht direkt mit einem Einzelfall, sondern mit einer NGO zusammengearbeitet haben, um unseren Input dem Bundesamt für Justiz zu überreichen. Zudem konnten wir bereits mehrere internationale Eingaben machen, unter anderem eine Beschwerde beim UNO-Frauenrechtsausschuss (CIO) und eine beim UNO-Kinderrechtsausschuss (KRK). Diese Fälle waren äusserst beeindruckend, da wir bereits vorbeugende Massnahmen erreichen konnten und optimistisch sind, dass wir noch mehr erreichen können. Ein Beispiel ist der Fall einer Familie mit vier Kindern, die zwar in der Schweiz aufgewachsen und gut integriert sind, aber in ein Land zurückgeführt werden sollen, in dem die Lebensbedingungen für sie nicht angemessen sind und in dem sie nie gelebt haben. Ein weiterer Fall betrifft eine Frau, die Opfer von Menschenhandel wurde und in ihr Herkunftsland zurückgebracht werden sollte, wo sie erneut der Gefahr von Menschenhandel ausgesetzt wäre.
Sind viele dieser Fälle dem Bereich von Migration oder Rückführung zuzuordnen?
Genau, wir haben viele solcher Fälle, darunter Härtefallanträge im Asyl- und Migrationsbereich. Dort besteht ein grosser Bedarf an rechtlicher Vertretung, aber die verfügbaren Angebote sind knapp. Obwohl es verschiedene Rechtsberatungsstellen gibt, reicht es nicht aus, um den Bedarf zu decken. Wir bearbeiten auch viele Fälle im Strafvollzug, insbesondere solche, in denen wir die Haftbedingungen verbessern möchten. Dies betrifft beispielsweise Personen in Untersuchungshaft oder langfristig Inhaftierte, für die wir den Zugang zur Aussenwelt durch Computer oder andere Mittel verbessern möchten. Wir arbeiten mit der Law Clinic an Fällen, in denen sich interessante Rechtsfragen stellen und die sich auch didaktisch für die Ausbildung von angehenden Jurist*innen eignen.
Wir haben viele Härtefallanträge im Asyl- und Migrationsbereich. Dort besteht ein grosser Bedarf an rechtlicher Vertretung, aber die verfügbaren Angebote sind knapp.
Welche Position nimmt die Law Clinic in der rechtlichen Verteidigung ein, verglichen mit der amtlichen Verteidigung? Ergänzen sich diese oder stehen sie in Konkurrenz?
Ich würde sagen, dass sie eher ergänzend ist. Die amtliche Verteidigung ist in Strafverfahren unter bestimmten Voraussetzungen Pflicht. Wir arbeiten jedoch hauptsächlich in jenem Bereich des Strafrechts, in dem das Strafverfahren bereits abgeschlossen ist, und es um den Vollzug geht, zum Beispiel im Bereich des Straf- und Massnahmenvollzugs oder bei einer Landesverweisung. In diesem Bereich gibt es oft keine notwendige Verteidigung oder amtliche Verteidigung. Es gibt zwar in bestimmten Fällen unentgeltliche Rechtspflege oder mittlerweile so etwas wie eine notwendige Verteidigung im Straf- und Massnahmenvollzug. Aber das ist immer noch der Ausnahmefall. Es ist oft schwierig, eine Finanzierung für Rechtsbeistand zu erhalten, und deshalb sind wir eine gute Ergänzung. Wir unterstützen vor allem Anwält*innen, die pro bono arbeiten, also unentgeltlich. Oft können Verfahren ohne uns nur aus finanziellen Gründen nicht durchgeführt werden. Aber durch unsere Unterstützung können wir bestimmte aufwendige Arbeiten übernehmen und Abklärungen treffen, die nach bestimmten Menschenrechts- oder internationalen Vorgaben erforderlich sind. Also stehen wir nicht in Konkurrenz, weder mit Kanzleien noch mit Beratungsstellen.
Wie wählen Sie Partnerorganisationen?
Wir betrachten grundsätzlich Organisationen, die in unserem Tätigkeitsbereich arbeiten, als potenzielle Partner*innen. Entweder kommen sie auf uns zu, weil sie von der Law Clinic gehört haben – mittlerweile arbeiten wir am 75. Fall – oder wir suchen aktiv nach Institutionen und Beratungsstellen, von denen wir denken, dass eine Zusammenarbeit sinnvoll wäre. Es ist immer interessant, neue Kooperationen einzugehen.
Was ist das Wichtigste, das Studierende in der Law Clinic erlernen?
Die meisten Studierenden nehmen vor allem mit, was praktische Arbeit bedeutet. Sie sehen, was mit den von ihnen erstellten Produkten passiert und wie sie tatsächlich Einfluss haben können. An der Universität schreibt man eine Falllösung oder eine Prüfung, die dann korrigiert wird und irgendwo im Archiv verschwindet. Aber mit den Rechtsdokumenten, die unsere Studierenden verfassen, passiert etwas Konkretes. Sie haben Auswirkungen und Konsequenzen für ein Verfahren und die betroffenen Personen. Es bedeutet auch, Verantwortung für einen Fall und die involvierten Menschen zu übernehmen. Natürlich liegt die endgültige Verantwortung bei uns, der Leitung der Law Clinic, aber die Studierenden engagieren sich aktiv für die Personen, mit denen sie Kontakt haben. Ich denke, die Studierenden nehmen auch die Erfahrung mit, dass Fallarbeit sehr unvorhersehbar sein kann. Die Ergebnisse können sehr unterschiedlich ausfallen, und man muss flexibel auf neue Fragen reagieren können.
Normalerweise landen die Falllösungen der Studierenden irgendwo im Archiv, aber bei uns passiert damit etwas Konkretes.
Könnten Sie das genauer erklären?
Ja, natürlich. Es gibt Fälle, in denen man ein Gesuch für eine Verbesserung einreicht und dieses bewilligt wird, damit ist der Fall erledigt. Dann gibt es Fälle, in denen man ein gut begründetes Gesuch einreicht, aber trotzdem einen negativen Bescheid erhält. Dieser wird dann in allen Instanzen weiter angefochten, kann aber immer noch negativ bleiben, obwohl die Situation unbefriedigend ist. Man muss lernen, mit beiden Situationen umzugehen. Manchmal verliert ein*e Klient*in das Interesse am Fall und möchte ihn nicht weiterverfolgen, was den Fall beendet. Es ist wichtig, sowohl mit Erfolg als auch mit Misserfolg umgehen zu können und in Kontakt mit den betroffenen Personen zu treten. Auch die Zusammenarbeit in Arbeitsgruppen und die Entwicklung von Kommunikations- und Präsentationsfähigkeiten sind wichtige Kompetenzen, die man in der Law Clinic erlernen kann.
Welche Qualitäten benötigt ein*e Student*in, um bei der Law Clinic mitzumachen, welche Eigenschaften suchen Sie?
Sicherlich Interesse an unseren Themenbereichen, sowie Motivation, um den zusätzlichen Zeitaufwand im Vergleich zu normalen Lehrveranstaltungen zu bewältigen. Die Student*innen sollten interessiert sein für diese Themenbereiche und für die Klient*innen in unseren Fällen. Es ist wichtig, sich für die Menschenrechtsbereiche einzusetzen und etwas bewirken zu wollen. Neugierde ist ebenfalls wichtig. Man muss offen sein für neue Fälle und sich auf unbekannte Situationen einlassen können, was vielleicht im Bachelor oder zu Beginn des Master-Studiums noch nicht erlebt wurde. Diese Neugierde, sich auf neue Herausforderungen einzulassen, ist entscheidend. Auch ist eine gewisse zeitliche Flexibilität erforderlich, da Fälle oft nicht so planbar sind, wie man es sich vielleicht wünschen würde.
Gibt es auch Situationen, in denen die Studierenden an ihre Grenzen kommen, gerade da sie sich doch mit sehr (emotional) intensiven Fällen befassen?
Ja, man sammelt viele Erfahrungen und erlebt auch emotionale Momente. Es hängt natürlich vom jeweiligen Fall ab. Es gibt schwierige Fälle, in denen strukturelle Probleme deutlich werden und manchmal berühren einen die Probleme der Klient*innen sehr. In der Law Clinic versuchen wir, dies zu bewältigen, indem wir die Studierenden gut vorbereiten, sie eng begleiten und die Fälle intensiv coachen. Wir reflektieren auch die Fälle im Nachhinein, besonders wenn sie emotional belastend waren. Einige unserer Klient*innen leben unter prekären Bedingungen, während andere schwere Straftaten begangen haben und im Freiheitsentzug sind. Der Umgang mit solchen Situationen kann beeindruckend und herausfordernd sein. Es ist wichtig zu betonen, dass die Mitarbeit in den unterschiedlichen Fällen immer freiwillig ist.
Einige unserer Klient*innen leben unter prekären Bedingungen, während andere schwere Straftaten begangen haben und im Freiheitsentzug sind.
Gibt es viele ehemalige Student*innen, die bei der Human Rights Law Clinic gearbeitet haben und dann in den Bereich der Menschenrechte gegangen sind?
Ja, wir haben tatsächlich eine Vereinigung von ehemaligen Student*innen, die seit letztem Jahr besteht. Ein Grossteil der ehemaligen Teilnehmer*innen der Law Clinic sind dort registriert. Wir beobachten, dass viele Ehemalige tatsächlich nach dem Studium im Bereich der Menschenrechte arbeiten. Einige sind Anwält*innen bei NGOs oder Beratungsstellen. Viele haben im Rahmen der Law Clinic ein Kurzpraktikum bei uns gemacht und sind dann in Kontakt mit einer NGO oder einer spezialisierten Kanzlei gekommen, wo sie geblieben sind, oder engagieren sich in diesem Bereich. Das ist eher die Regel als die Ausnahme.
Wollen Sie noch etwas zum Abschluss hinzufügen?
Ja (lacht), ich glaube die Law Clinic ist eine sehr schöne Veranstaltung. Für die Studierenden ist es interessant und bereitet viel Spass, auch für uns, den Mittelbau und die Leitung der Law Clinic. Es ist didaktisch und menschenrechtlich wertvoll und bereichert zudem das Studium!