Überhörte Komponistinnen

07. März 2024

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Im Gespräch mit FemaleClassics, einer Gruppe von Musiker*innen, die die Gleichstellung in der klassischen Musik vorantreiben, geht unsere Autorin der ungleichen Behandlung von männlichen und weiblichen Komponist*innen in der klassischen Musik auf den Grund.

Text: Antonia Lienhard
Fotos: Mara Hofer und Antonia Lienhard
Illustrationen: Lisa Linder

Die drei grossen B – Beethoven, Bach, Brahms – sagen vielen etwas. Doch was ist mit Amy Beach, Fanny Hensel, Emilie Mayer und Florence Price? Es gab Komponistinnen, welche zur gleichen Zeit wie bekannte Komponisten Stücke komponierten und veröffentlichten. Zwar gibt es Frauen in der klassischen Musik, doch sie werden nach hinten gestellt und überhört. Diese Frauen sind uns jedoch nicht bekannt und dafür gibt es verschiedene Gründe.

Auf der einen Seite herrschte noch das traditionelle Rollenbild. Sie komponierten in einer Zeit, in der Frauen primär für den Haushalt und die Kinderbetreuung verantwortlich waren. Auf der anderen Seite wurden die Frauen ausgebremst, denn zu ihrer Zeit war es nicht ansehnlich, dass Frauen sich kreativ beteiligten. Es gab aber auch Komponistinnen, welche zu ihren Lebzeiten bereits Erfolg hatten, danach aber in der Erzählung verloren gingen.

Wie in vielen anderen Bereichen auch, wurde die Geschichte der klassischen Musik von Männern geschrieben. Aus diesem Grund ist noch heute das Wissen zur weiblichen klassischen Musikgeschichte sehr begrenzt.(1) Mit dieser Grundlage formierte sich ein Teufelskreis, denn Musikhäuser setzen auf ein sehr prestigeträchtiges Repertoire. Dieses ist den Leuten bekannt und füllt garantiert den Konzertsaal.

Die Pianistin Kyra Steckeweh erzählte in einem Radiobeitrag von SRF2 Kultur, dass sie in ihrer Ausbildung theoretisch über Komponistinnen lernte, in den praktischen Fächern jedoch keine weiblich-komponierten Stücke spielte.(2) Steckeweh sah bereits 2020, als der Radiobeitrag aufgenommen wurde, dass sich schon einiges getan hatte, denn zeitgenössische Komponistinnen sind präsenter als ihre Vorgängerinnen. Laut dem Bachtrack, welcher eine Statistik zur weltweit gehörten klassischen Musik liefert, ist die Anzahl der Komponistinnen in den Top 100 zeitgenössischer Komponist*innen in den letzten Jahren stetig gestiegen. Trotzdem gehört 2023 zu den Top zehn Konzertkomponierenden noch immer keine einzige Frau.(3)

Eine Organisation mit Auslaufdatum

In der männerdominierten Musikgeschichte gingen die Komponistinnen also unter und werden kaum mehr gespielt. Das muss sich ändern! – findet FemaleClassics, eine Organisation, die den Komponistinnen eine Bühne gibt, aber nebst dem musikalischen Anspruch auch politische Forderungen aufstellt.

FemaleClassics steuert ihren eigenen Untergang an.

Darüber haben wir mit Meredith Kuliew gesprochen, der Gründerin von FemaleClassics. Spannenderweise hat FemaleClassics auch bereits ein Auslaufdatum. So steht dort: «Wir entdecken, spielen, bewerben und besprechen so lange frauenkomponierte Musik, bis es die anderen auch tun. Dann braucht es uns nicht mehr. […] Denn was wir hier machen, ist alles andere als divers und widerspricht eigentlich unseren eigenen Regeln.» FemaleClassics steuert ihren eigenen Untergang an.

FemaleClassics live in Bern

An einem regnerischen Freitagabend betrete ich gespannt ein kleines und wärmendes Geigenbauatelier. Dort findet die «Quartet Night» von FemaleClassics statt, eines von mehreren Konzerten, die die Gruppe anlässlich des diesjährigen Festivals organisiert. Inmitten von Holz, Bögen und fertigen oder teilweise fertigen Geigen spielen vier Musiker*innen Streichquartette von drei Komponistinnen.

Den Eingang ziert die Frage: «Wie viele Komponistinnen kennst du?», und regt zum Denken an – wahrscheinlich wenige bis keine. Nicht nur Laien der klassischen Musik kennen fast ausschliesslich Komponisten, bis in die grossen Konzerthäuser besteht die männliche Dominanz der komponierten Stücke. Um dem entgegenzuwirken, organisiert die Gruppe regelmässig in Zürich und Bern Konzerte, bei denen Komponistinnen gespielt werden. Der Saal des Geigenbauateliers in Bern ist bis zum Rande gefüllt, einige Leute sitzen auf den Balken oder suchen sich sonst im Raum einen Platz.

Das Publikum ist normalerweise nicht anders als bei anderen klassischen Konzerten, meinte Kuliew bei unserem Gespräch. Könnten die Komponistinnen somit nicht trotzdem grosse Konzerthäuser füllen? Die Stücke werden von einer Moderatorin eingeleitet und lassen das Publikum an den komplexen Geschichten der Frauen teilhaben.

v.l.n.r. Alejandro Paz (Violine), Mikalai Semianku (Violine), Meredith Kuliew (Viola) und Elodie Théry (Cello)

Das Streichquartett gilt als herausfordernde Gattung für Komponist*innen. Herausfordernd ist es zugleich auch für das Publikum. Denn das gewählte Programm für die «Quartet Night» entspricht nicht den traditionellen Hörerfahrungen. So konnte man beim letzten Quartett von Luise Le Beau die Geschichte eines Mädchens auf der Flucht heraushören. Einige Momente des Programms waren wild und dennoch waren für mich, die keine Klassik-Kennerin ist, die sanften Töne irgendwie vertraut.

Wie alles begann

FemaleClassics wurde 2021 von Meredith Kuliew ins Leben gerufen. Nachdem Kuliew am Frauenstreik 2019 teilgenommen hatte, blickte sie mit anderen Augen auf ihr Berufsfeld. Frauen besammelten sich und verlangten Gleichstellung, zur violetten Masse gehörte auch Meredith Kuliew.

«Und dann dachte ich mir, was mache ich beruflich? Du spielst dein Leben lang nur weisse Männer.» Wo bleibt dort der Feminismus? Für Kuliew war der Moment ausschlaggebend, er brachte das Fass zum Überlaufen. Sie sieht sich selbst als privilegierte Person und wollte deswegen ihre Rolle nutzen, um den Komponistinnen Gehör zu verschaffen. Dazu kam die im Überfluss vorhandene Zeit während des Pandemie-Lockdowns und das Projekt FemaleClassics wurde ins Leben gerufen.

Mit FemaleClassics entstanden eine Konzertreihe und eine Plattform, welche das Scheinwerferlicht auf Komponistinnen setzen. Die Idee fand schnell Anklang und so wuchs die Gruppe rasant an. Heute sind bei FemaleClassics etwa zehn Leute aktiv. Die Musikwissenschaftlerin Eva Ruckstuhl unterstützt Kuliew dabei als Co-Leiterin. Beide Frauen haben bisher die Erfahrung gemacht, dass Komponistinnen in der klassischen Musikszene wenig Gehör erlangen. Sie fehlen auf Programmen und in den Lehrplänen der Musikschulen und deswegen fehlen sie auch im Bewusstsein der Musizierenden und ihren Zuhörenden. Doch wie Kuliew im Gespräch betont: Komponistinnen gab (und gibt) es und sie waren teilweise auch bereits zu Lebzeiten bekannt.

Die bsz im Gespräch mit Meredith Kuliew

Das Problem mit der Freiwilligenarbeit

Meredith Kuliew ist studierte Bratschistin und arbeitet an einer Schule. Ehrenamtlich leistet sie aber ein hohes Pensum für FemaleClassics. So wie bei vielen ehrenamtlichen Organisationen gibt es viel zu tun und nur wenige wirklich aktive Mitglieder. Für das jährliche Festival konnten sie dieses Jahr zum ersten Mal einen Helfer*innenpool aufbauen. Kuliew betont, dass sie dabei aktiv auch Männer suchten, welche solidarisch bei dem Projekt mithelfen sollten – mit Erfolg. Es stehen dieses Jahr nicht nur Frauen am Eingang und helfen mit. Das Gleiche gilt für die Musiker*innen: FemaleClassics spielt Werke von Frauen, sie möchten aber auf keinen Fall, dass sie nur von Frauen gespielt werden.

FemaleClassics ist nicht female-only, «Wir möchten eigentlich nicht den Stempel «FemaleClassics», eigentlich ist es ja nur Classics. Das «Female» braucht es aktuell einfach, weil wir die Lücke sichtbar machen müssen». Ein ähnliches Projekt gibt es bereits mit «Helvetiarockt». Kuliew nannte sie als Vorbild und meinte, dass sie bei ihnen viel abschauen konnte sowie Unterstützung und Zuspruch fanden.

FemaleClassics ist nicht female-only

Helvetiarockt ist ein Verein, welcher Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Menschen in Jazz, Pop und Rock seit 2009 fördert. Sie fordern und fördern eine lebendige Musikbranche, in welcher die gesamte Gesellschaft vertreten ist und Lösungen für bestehende Missstände gefunden werden.(4) Bei Helvetiarockt fehlt jedoch die Zeit, sich auch noch dem Bereich der klassischen Musik zu widmen. Auch wenn die Herausforderungen ähnlich sind, folgt dieses Feld ganz anderen Strukturen.

Appell an die Politik

Klassische Musik ist ein stark subventionierter Kulturbereich und ist in der Gesellschaft sehr angesehen, denn sie gilt als die sogenannte «höchste Kunst». Trotz der starken Subventionen wird der Gleichstellungsauftrag der Politik dabei nicht umgesetzt, denn auch wenn genug Frauen auf der Bühne stehen, bleibt doch der Kern die Komposition. Hier braucht es auch Diversität.

«Wenn das Festival vorbei ist, wollen wir bei FemaleClassics uns mehr Zeit nehmen, um mit Politiker*innen und Orchestern in Kontakt zu treten. Im Moment hört man von Orchestern oft, dass es für eine Veränderung einfach noch Zeit braucht. Aber das kann jede*r sagen. Ich finde, es braucht einfach Menschen, die Mut haben und die ernsthaft etwas verändern wollen.» Die Orchester und die verschiedenen Musikhäuser bestimmen die gespielten Programme. Solange dort fast ausschliesslich männliche Komponisten gespielt werden, ist keine Gleichstellung vorhanden. Für solche Änderungen braucht es wohl oder übel gewissen Druck der Politik, welcher via Kultursubventionen ausgeübt werden könnte.

Ich finde, es braucht einfach Menschen, die Mut haben und die ernsthaft etwas verändern wollen.

Einige Parteien und Politikerinnen haben sich bereits gemeldet und unterstützen FemaleClassics. Für Kuliew ist die Ungleichbehandlung von Komponistinnen und Komponisten aber nicht einfach eine gleichstellungspolitische Angelegenheit. Für sie ist das Fehlen von Frauen in der klassischen Musik eine Bildungslücke.

 

Um diese Bildungslücke zu schliessen, hier zwei Hörtipps von Meredith Kuliew:

– Emilie Mayer («Ihre Sinfonien klingen gleich wie bekannte Werke, sind einfach von einer Komponistin. Sie war sehr berühmt und erfolgreich zu ihrer Zeit, ist dann aber einfach verschwunden.»)

– Florence Price («Mega coole Musik! Sie wird bereits ein wenig gespielt, sollte aber eigentlich ab jetzt in den Kanon, immer.»)

Und so geht es weiter

Das Ziel von Female-Classics ist, dass es ihr Engagement irgendwann nicht mehr brauchen wird. Bevor es allerdings soweit ist, gibt es noch viel zu tun. Im Gespräch mit Meredith Kuliew gewährte sie uns bereits einen Einblick in ein anstehendes Projekt von Female-Classics. Als nächsten Schritt sieht Female-Classics unter anderem vor, eine Schule ausschliesslich mit Komponistinnen zu veröffentlichen.

Eine Schule in diesem Kontext ist aber nicht eine Schule mit Schulhaus, sondern so nennt man in der klassischen Musik die Musikbücher. Schulen der klassischen Musik vereinfachen unter anderem klassische Werke, zum Beispiel Sinfonien oder Teile aus grossen Opern, für Kinder, so dass diese im Musikunterricht leicht gespielt werden können. Von Komponisten gibt es diese in verschiedensten Versionen. Von Komponistinnen? Noch keine Spur.

Dieses Projekt würde ermöglichen, dass Kinder in Zukunft bereits früh in Kontakt mit den vergessenen Komponistinnen kommen. «Ich leitete einmal ein Kinderorchester und konnte Beethoven etc. problemlos spielen, da es überall vereinfachte Versionen von deren Musik gibt. Ich möchte auch Price oder Beach auf jedem Niveau spielen können. Ich glaube, viele Kinder würden das auch gern tun», erzählte Kuliew. So will Female-Classics Komponistinnen schon für die Kleinsten sichtbar machen, damit ihre Musik es endlich auch in den Kanon schafft.

 

(1) Darüber spricht auf SRF2 Kultur Elisabeth von Kalnein und stellt dabei das Buch «250 Komponistinnen» von Arno Lücker vor. (https://www.srf.ch/kultur/musik/frauen-in-der-musik-es-gibt-keine-komponistinnen-doch-mindestens-250). 

(2) «Der weibliche Kanon? Musikheldinnen von Klassik bis Popmusik» (https://www.srf.ch/kultur/musik/das-klassik-jahr-2022-die-klassik-wird-ein-bisschen-weiblicher-und-juenger).

(3) «Bachtrack: Klassische Musik in 2023» (https://cdn.bachtrack.com/files/350697-DE%20Annual%20classical%20music%20statistics%202023.pdf).

(4) https://helvetiarockt.ch/



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