Zitrussaft und Marmeladenglas

21. Dezember 2023

Von und

Missbrauch und Fantasie, Gewalt und Schönheit treffen in zwei sehr unterschiedlichen Coming-of-Age-Romanen aufeinander. Verschmelzen gar miteinander, sodass die Bücher Bad Fruit (2022) von Ella King und Betty (2020) von Tiffany McDaniel auf erstaunliche Art doch sehr ähnlich sind. Wir haben Freundschaftsbriefe über sie oder Liebesbriefe an sie geschrieben.

Text: Anna Ebner und Desirée Draxl

Illustrationen: Lucy Kopp

Triggerwarnung: Panik, Selbstverletzung, Häusliche Gewalt, Sexualisierte Gewalt, Rassismus, Suizid

Liebe, liebe Désirée

Ich möchte Dir von einem Buch erzählen, das ich kürzlich zum zweiten Mal gelesen habe. Bad Fuit ist ein Coming-of-Age-Thriller, der mir vor einem Jahr derart in Herz und Knochen gefahren ist, dass ich immer noch regelmässig an ihn denke. Lily, die britisch-singapurische Ich-Erzählerin, klettert regelmässig in ein Versteck unter den Dielen ihres Zimmerbodens. Dort bewahrt sie – im Schein der Lichterkette – ihr etymologisches Wörterbuch, die Efeupflanze eines Freundes und andere Schätze auf. Dort bewahrt sie sich selbst: «Here is where I keep me». Sie wohnt noch bei ihren Eltern, bevor sie im Herbst an die Uni geht. Lily braucht den geheimen Ort unter dem Boden, weil er das Einzige ist, was ihr und nicht ihrer Mutter May gehört. Denn May kontrolliert Lilys Leben ununterbrochen: Lily kocht das Essen, das sich May wünscht, Lily sortiert Mays Kleiderschrank, Lily bereitet May deren «spoilt juice» vor. May trinkt liebend gerne verdorbenen Saft aus Zitrusfrüchten, «[s]he likes the fizz in it, the sour tang.» Doch nicht bloss der Saft scheint verdorben zu sein. May zwingt Lily beispielsweise, dass sie sich die Haare färbt und Make-up trägt, damit sie mehr wie ihre Mutter aussieht. Und Lilys Vater scheint seiner ehemaligen Schwiegertochter Gedichte zu schicken. Warum?

Doch nicht bloss der Saft scheint verdorben zu sein.

 

Mit der anbahnenden Spannung möchte ich Dich aber vorwarnen, denn King schildert sämtliche Trigger auf sehr unmittelbare Weise. Teils explizit, teils in wirkungsvollen Metaphern erzählt Lily ihren Kampf im verzweifelten Alltag. Was in Lilys Psyche vor sich geht, löste bei mir am meisten Unbehagen aus. Im Sommer beginnt sie, Flashbacks zu erleben. Der erste ist kurz und wirkt zunächst harmlos. «Milk spreading between toes.» Er macht Lily jedoch panisch, weil sie sich nicht an diese Erinnerung erinnern kann. Immer mehr Grauenhaftes braut sich zusammen, was mich schnell in den Bann zog. So wirft May eine Cola-Flasche durch einen Supermarkt und schlägt Lilys Schwester bei einem Geburtstagsessen vom Stuhl. In diesem Geflecht aus Bedrohungen, das für Lily anfangs ungreifbar ist, dringen Traumata von ihr und ihrer gesamten Familie langsam an die Oberfläche. Bis zur Eskalation.

King spinnt ein verworrenes Netz aus Gewalt, das durch Generationen geht. Wie kompliziert die Erfahrung von Gewalt ist, wird vor allem an Lilys Hin- und Hergerissenheit spürbar. Zum einen will sie auf keinen Fall wie ihre Mutter sein, zum anderen ohrfeigt sie ihren grossen Bruder, kurz nachdem dieser unter einer Bettdecke geweint hat. Ob Lily der tief verankerten Gewaltbereitschaft entkommt, stellt sich erst am Ende des Romans in einem aufregenden Finale heraus. Der Roman ist aber nicht blosse Belastung, sondern eine sprachliche Gefühlslandschaft. King schreibt mit einer Sprache, die mich mehrfach zum Weinen brachte. Eines der zahlreichen Beispiele, die ich dir nennen könnte, ist ein Moment, in dem Lily mit der Hand Regentropfen fängt, mit der sie ihren Bruder geschlagen hat. «I turn my hand up to catch the drops, the same hand that slapped my brother.» Wow.

Diese Feinheit, mit Worten umzugehen, teilt King mit Lily, die von Etymologie fasziniert ist. Mehrfach entflieht sie in Wörter und deren Geschichte, um Erlebtes einzuordnen. Sie verpackt Gefühle in einem Wort, wie in einer Schachtel, um eine Situation (wieder) kontrollieren zu können. Für mich steckt im Buch ganz viel Widersprüchliches, vor allem die Verknüpfung von Schönheit und Gewalt. Das musste ich ertragen. Das Aushalten von Widersprüchen scheint mir aber – spätestens nach dem Lesen von Bad Fruit – unumgänglich, wenn Zuneigung und Verzweiflung nahe beieinanderliegen. Obwohl das Buch auf diese Weise sehr poetisch und komplex ist, wird es dennoch nicht abstrakt. Die Spannung bleibt erhalten und dank der kurzen Kapitel konnte ich es gut während des Semesters lesen, wenn ich von all den theoretischen Texten eigentlich keinen Satz mehr sehen möchte. Aus all den Gründen würde ich dir Bad Fruit empfehlen und es würde mich unheimlich interessieren, wie du dich in diesem Durcheinander an Emotionen, Spannung und Melancholie gefühlt hast.

Warme, nach zerfleddertem Buch riechende Umarmung,

Anna

 

 

Liebe Anna

Genau wie «Bad Fruit» ist «Betty» eine schrecklich schöne Coming-of-Age Geschichte. Sie hat mir gezeigt, wie sehr Worte heilen können. Der Missbrauch, den Betty in ihrer Familie bezeugt, ist so brutal, dass sie ihre Erlebnisse aufschreibt, den Zettel faltet und diesen an einem weit entfernten Ort in einem Marmeladenglas im Boden vergräbt. Der weit entfernte Ort ist eine kleine Plattform im Gemüsegarten der Familie Carpenter, die im ländlichen Ohio der 60er und 70er Jahre lebt. Dort verbringt Betty am liebsten Zeit mit ihren beiden älteren Schwestern, Fraya und Flossie und dorthin rettet sie sich, wenn ihr eigener Schmerz, oder der ihrer Familie, zu schwer auf ihr lasten:

«What exactly were you doing today, Betty Carpenter? Back there, on the lane no one drives down?» I reached into my pocket and squeezed Flossie’s story. «I wanted to see if no still meant somethin’.» I turned and walked home slowly. When I got there, I went to A Faraway Place and crawled under the stage. Next to Fraya’s and Mom’s stories, I dug another grave. I took Flossies story from out of my pocket and laid it in the hole. I didn’t have a jar with me, so the dirt touched the paper, as I buried it alive.»

Betty schreibt Geschichten, gesponnen zuerst im Herzen und in der Tradition ihres Vaters Landon, einem Cherokee. Dieser verkauft im Städtchen Kräutermedizin und bei Nacht auch gerne mal ein Glas «Moonshine», also Alkohol. Seine geflügelten Worte sind Teil der Inspiration seiner jüngsten Tochter, die ihm auch physisch am meisten gleicht. Ihre dunkle Haut wird ihr aber vor allem im Schulalltag zum Verhängnis. Als «Affe» beschimpft und auch vom Lehrpersonal ständig aus rassistischen Motiven ausgegrenzt, findet sie Zuflucht in Worten, die sie in Gedichten oder Geschichten verwebt, in welchen sie selbst entscheiden kann, wie sie ausgehen. Und doch sind auch ihre geschriebenen, unausgesprochenen Worte eine Art Schweigen, ein Ausdruck des «Nicht-Gehört-Werdens», des Missbrauchs, welchen sie im Marmeladengrab vergräbt. «This fear silenced me.», sagt sie im inneren Monolog, kurz und treffend.

“Anna, warst du schon einmal Betty?”

Warst du schon einmal Betty? Hast du schon einmal Worte zu einer schützenden Decke über deiner Seele verwoben? Ich habe das Buch in zwei Wochen verschlungen und trotzdem war ich wütend, so wütend, Anna, dass viele Figuren niemals aus ihren gewaltvollen Situationen herauswachsen, sondern einfach stehen bleiben – und das kann ich irgendwie sogar verstehen. Es ist die Hilflosigkeit, die so nahe geht. Und obwohl die Geschichte gegen Ende immer tragischer wird, scheint sich Betty immer mehr zu befreien. Anna, ich bin ehrlich gesagt etwas frustriert, wütend, traurig über diese Geschichte. Und das macht sie wahrscheinlich so fantastisch gut. Wunderbar geschrieben strotzt sie nur so von farbigen, poetischen Bildern, die riechen, schmecken und fühlen lassen. Diese Bilder brauchen jedoch Zeit und Kraft, um einzusinken, denn sie reichen von wunderschön bis zu abgrundtief hässlich: «Betty» balanciert ihr junges Leben in all ihren Facetten zwischen den Zeilen und zwar auf gesamter Bandbreite.

Was denkst du, liebe Anna?

Ich umarme dich!

 

In Liebe,

Désirée

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