Ganz weit hinten im Kleiderschrank: Schuld und Scham
Der Hals schnürt zu, die Wangen werden rot und ein tiefes Loch öffnet sich im Bauch. Die Gefühle Schuld und Scham kommen oft im Doppelpack und jagen wie Wellen durch den Körper. Der verwebten Welt dieser Gefühle geht unsere Autorin mit Felizitas Ambauens Hilfe auf den Grund.
Text: Hannah Porsche
Illustration: Lucy Kopp
Foto: Andrea Zahler
Als Kind habe ich mich sehr selten um die Meinung anderer geschert. Dies änderte sich um 180 Grad, als ich ein Teenie wurde. Plötzlich war mein Stil nicht mehr angesagt, mein Körper zu gross, mein Wissen zu klein, meine Präsenz zu dominant. Das Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein, ist ein begleitender Glaubenssatz geworden. Der Unistart katalysierte diese Gedankenprozesse. Die Vorstellung ein neues Leben zu führen, in einer perfekten Stadt, mit neuen besten Freund*innen – welche am ersten Tag kennengelernt werden müssen – schwebte mir vor. Als doch nicht alles nach Plan lief, schämte ich mich und fühlte mich schuldig. Ich hatte das Gefühl, meine Chance auf dieses neue Leben verpasst zu haben.
Es fällt mir schwer, dies mit euch zu teilen. Doch ich denke, dass es wichtig ist, diese Teufelskreisläufe genauer anzuschauen. Früher konnte ich stundenlang eine Situation bis ins kleinste Detail inspizieren. Hat meine Meinung die neue Freundin gekränkt? War mein Dozent sauer, als ich zu spät kam? Wie kann ich diese Note im nächsten Semester wieder ausgleichen? Oberflächlich schienen mir diese Gedankengänge normal, jedoch konnte ich sie nicht mehr einfach loslassen und somit bauten sie viel Druck in mir auf.
Als ich mich etwas näher mit mir selbst auseinandersetzte, konnte ich erkennen, dass dieser Stress oft in Zusammenhang mit Schuld- und Schamgefühlen kam. Würde ich meine Gefühle in einen Kleiderschrank einordnen, wären die Scham und Schuld-Pullover ganz weit hinten versteckt. Immer wieder kommen sie hoch, wenn ich meinen Schrank durchwühle, und immer wieder werden sie in das unterste Schubladenfach gesteckt. Dort, wo sie eigentlich niemand finden soll. Es war an der Zeit, etwas Ordnung in dieses Gefühlschaos zu bringen.
Und genau das habe ich getan – im Gespräch mit Felizitas Ambauen. Sie ist eine schweizweit bekannte Psycho- und Paartherapeutin, die gemeinsam mit Sabine Meyer den Podcast «Beziehungskosmos» führt. Zusammen haben wir die Gefühle Schuld und Scham unter die Lupe genommen und uns gefragt: Was genau steckt hinter diesen intensiven Gemütszuständen? Felizitas Ambauen beschreibt Schuld als einen gefühlten Fehler und die darauffolgende Verpflichtung, Busse zu tun oder etwas wiedergutzumachen. Scham entsteht, wenn gesellschaftliche Regeln verletzt werden, und führt dazu, dass wir uns selbst klein machen und abwerten. Die beiden Gefühle kommen nicht selten Hand in Hand und sind teilweise schwer trennbar. Beide sind moralisch aufgeladen und geprägt von kulturellen Kontexten und deren Wertesystem.
Wie Felizitas ausführt, können diese Gefühle von ganz unterschiedlichen Situationen ausgelöst werden. Schuld und Scham sind ausserdem keine primären Gefühle, sie werden in der menschlichen Entwicklung erst später durch internalisierte Werte und mit zunehmender kognitiver Reife erlernt. Ein einjähriges Kind beispielsweise lebt Wut oder Trauer aus, ohne sich dafür zu schämen oder schuldig zu fühlen.
Wenn wir aufwachsen, bekommen wir lauter Regeln, Normen und Wahrheiten mit auf den Weg. Die Gesellschaft, in der wir leben, prägt uns – diesen Prozess nennt man Sozialisation.
Laut Felizitas deuten sozialisierte Personen die Welt in «Schemata». Schemata sind innere Vorlagen oder Muster, welche uns helfen die Welt um uns herum zu verstehen. Durch sie können wir Dinge kategorisieren, Muster erkennen und dadurch schneller Entscheidungen treffen, da sie uns eine Art «Vorstellung» von der Realität geben. Anhand dieser Schemata teilen wir die Welt in gut oder schlecht ein und entscheiden, welchen Personen wir Glauben schenken und welchen nicht.
Die Wertungen sind subjektiv. Sie werden von dem gesellschaftlichen Umfeld und der Herkunftsfamilie stark beeinflusst. Zum Beispiel können Raucher*innen im Kreise der Kunstwissenschaftler*innen als ästhetisch gelten, währendem sie in Mediziner*innen Kreisen als leichtsinnig wahrgenommen werden. Diese angelernten Bewertungen wenden wir auch auf uns selbst an. Wenn unsere Vorstellungen und Wertungen nicht im Einklang mit unserem eigenen Leben sind, deuten wir diese oft als «Charaktermangel». Die darauffolgende Scham und Schuld verdrängen wir, da sie als persönliche Niederlage gedeutet werden.
So viel zur Theorie. Wie beeinflusst das uns nun im Universitätsalltag? Der Universitätskontext bietet ein Milieu, welches Vergleich und Bewertung fördert. Meine Schemata werden nicht nur auf Noten angewendet, sondern auch auf alltägliche Lebenssituationen, zum Beispiel wie oft ich lerne, wie viele Freund*innen ich habe, wie oft ich Party mache, wie ich aussehe oder was ich studiere. Leistungskontexte fördern die Situationen, in denen «Scheitern» möglich ist.
Wie Felizitas betont, hängt die Definition von «Scheitern» sehr vom gesellschaftlichen, kulturellen und individuellen Umfeld ab und stellt somit keine absolute Wahrheit dar. Manchmal ist es vielleicht sogar gut, durch eine Prüfung zu fallen oder ein Studium abzubrechen. Denn dadurch werden neue Türen geöffnet. Felizitas sieht das folgendermassen:
«Im Leistungskontext wird oft suggeriert, Erfolg bedeute immer weiter, höher, schneller – und natürlich mit den perfekten Noten. Das sind Einladungen zu Schuld und Scham – und einem Burnout, by the way.»
Gewisse Strukturen an der Universität, welche auf Leistungsnachweisen oder dem «Aussieben» basieren, können nicht umgangen werden. Dennoch gibt es einen individuellen Handlungsspielraum. Indem du dein Umfeld bewusst aussuchst, kannst du bestimmen, wie viel Zeit du mit Personen verbringst, die dir guttun und keine negativen Muster in dir fördern. Du kannst deine eigene Freiheit unterstützen, indem du nach deinen selbstgewählten Grundüberzeugungen lebst, anstatt dich an auferlegten Werten festzuklammern.
Wie Felizitas ausführt, sind Scham und Schuld nicht zwangsläufig «schlechte» Gefühle. Felizitas rät, in solchen Situationen empathisch mit sich zu sein. Mitgefühl mit sich selbst zu haben, ermöglicht die Dynamiken der Gefühle wertfrei und ohne Verurteilung zu verstehen. Solange wir Schuld und Scham jedoch negativ konnotieren, tendieren wir dazu, streng und abwertend mit uns selbst zu sein.
Es sei nicht empfehlenswert, Gefühle grundsätzlich abzulehnen, da sie Informationen enthalten und nicht grundlos entstehen. Das Verständnis dafür, woher Emotionen kommen – sei es aufgrund bestimmter Überzeugungen oder Situationen – ermöglicht es, sich von ihnen zu distanzieren. Meiner Erfahrung nach hilft das, da ich somit aufhören kann, mich allzu fest mit meinen Gefühlen zu identifizieren. Sie sind nicht ein unveränderlicher Grundzustand oder Charakterzug, sondern bewegen sich zu mir hin und wieder weg von mir.
Reden, Zuhören, Nachfragen und in den Austausch mit Menschen treten, kann Erleichterung bringen. Gerade in vertrauten Beziehungen kann man zusammen eruieren, wieso Scham und Schuld da sind. Geht es vielleicht um Bindung, Kontrolle, Autonomie, Wertschätzung oder fehlenden Ausgleich? Mir persönlich hilft es, in einem sicheren Raum aussprechen zu können:
«Hey, ich fühle mich gerade überwältigt von meinen Gefühlen.»
Zum Schluss fügt Felizitas noch an, dass es auch gesunde Scham und Schuld gibt. Beispielsweise wenn du deine Grenzen schützen möchtest oder merkst, dass du gegen die Norm verstösst. Scham kann vor unsicheren Situationen schützen. So kann es sehr gesund sein, wenn zum Beispiel ein Kind seine Körpergrenzen schützen will und deshalb seine Kleider nicht auszieht. Ein gesunder Glaubenssatz hier ist:
«Ich möchte mich schützen, weil ich mich gerade nicht wohl oder sicher fühle.»
Ein potenziell verletzender hingegen ist: «Mein Körper ist beschämend! Verstecke ihn!» Das gleiche gilt für Schuld. Es gibt einen Unterschied zwischen dem nicht Einhalten der eigenen Grundwerte – etwas Unrechtes getan oder eine getroffene Abmachung nicht eingehalten zu haben – oder der präventiven Annahme, schuldig zu sein, manchmal für die blosse Existenz.
Mein Kleiderschrank ist nun noch nicht perfekt aufgeräumt, aber mir ist mittlerweile klar geworden, dass es nicht so viel zu verbergen gibt. Ich betrachte das Leben – und die darin enthaltenen Normen und Regeln – jetzt mit einem sanfteren Blick. Was ich priorisiere und nach welchen Grundsätzen ich lebe, liegt in meiner Entscheidungsmacht. Ausserdem wurde mir durch Gespräche mit Freund*innen und Familie bewusst, dass viele Menschen sich ähnlich fühlen – das tat mir gut. Schuld und Scham haben mich früher isoliert, diese Macht will ich ihnen nicht mehr geben.