Durch die Augen, in den Sinn

21. Dezember 2023

Von

Gesehen vs. ANgesehen werden: Unsere Autorin taucht ein in die Welt der Filmtheorie, verfolgt die Spuren des Patriarchats in der Charakterisierung von (Film-)Figuren und geht der Frage auf den Grund, welche Möglichkeiten dem Film zustehen, um von solchen Strukturen loszukommen.

Text: Tabea Geissmann
Illustrationen: Lisa Linder

 

Eine Momentaufnahme: Ich komme aus dem Kino. Ich trage die wenigen pinken Klamotten, die ich in meinem Kleiderschrank gefunden habe (warum habe ich überhaupt so wenige pinke Sachen?), denn wenn alle Pink tragen, um sich gemeinsam “Barbie” anzusehen, ist das irgendwie umso schöner. Es ist spät und ich möchte einfach nur noch nach Hause und ins Bett. In dem Abteil neben mir sitzt ein Mann, wahrscheinlich doppelt so alt wie ich. Ich muss nicht einmal in seine Richtung schauen und spüre dennoch, dass er mich unentwegt ansieht. Eine Situation, die wohl den meisten weiblich gelesenen Personen nur zu bekannt ist.

Dieses Gefühl, angeschaut zu werden, auf eine unangenehme Art und Weise. Ich nehme mein Handy aus der Tasche und schreibe einer Freundin: “Ich wett zrugg is Barbieland.” Denn dort scheinen solche Situationen schliesslich kein Problem zu sein – zumindest zu Beginn des Filmes. Der Mann steigt an derselben Haltestelle aus und ich bin froh, dass er nicht in meine Richtung weitergeht. In der “realen” Welt ist diese Situation nur eine von vielen, in welcher mir wieder bewusst wird, wie weit vom Barbieland wir noch entfernt sind. Als weiblich gelesene Person fühle ich mich täglich mit dem männlichen Blick konfrontiert. Ein Problem, das Barbie in ihrem Land nicht kannte. Angeblich.

Die Theorie des “Male Gaze” wurde zum ersten Mal 1975 von der Filmkritikerin Laura Mulvey in ihrem Essay “Visual Pleasure and the Narrative Cinema” etabliert. Kurzgesagt: Der Male Gaze ist die “Brille” eines heterosexuellen Cis-Mannes, durch welche wir fast ausschliesslich Medien konsumieren und verarbeiten. Besonders prägnant ist diese “Brille” bei der Charakterisierung und Darstellung weiblicher Figuren in Filmen (deshalb auch der Ursprung in der Filmtheorie; der Male Gaze kann aber auf weitere Bereiche ausgeweitet werden, z.B. Videospiele *hust* Lara Croft *hust*).

Laura Mulvey begründet ihren Ansatz auf Freuds Psychoanalyse: Laut Freud existiert in jedem Menschen die sogenannte “Scopophilia” (pleasure of looking bzw. die Freude am Zuschauen).

Andere zu beobachten, ist eine Form psychologischer Machtausübung.

 

Bereits Jeremy Bentham erkannte im 18. Jahrhundert, wie sich das Beobachtet-Werden auf unser Verhalten auswirkt. Bentham entwickelte das Gefängnis-Konzept des Panoptikums: Ein Gebäude, in welchem die Aufsichtsperson in der Mitte alle Insassen in den Zellen rundherum im Blick hat. Die Aufsicht kann die Häftlinge immer beobachten, jedoch nicht umgekehrt. Dieses sich Beobachtet-Fühlen bewirkt, dass sich die Häftlinge wünschenswert verhalten, da sie nie sicher sein können, ob die Aufsicht anwesend ist oder nicht.

Der französische Philosoph Michel Foucault weitete diese Idee auf die gesamte Gesellschaft aus. Demnach bewirkt die wahrgenommene Präsenz einer Autorität, dass wir uns auf eine bestimmte Art und Weise verhalten. Laut Foucault ist dieser Prozess in erster Linie dafür verantwortlich, dass soziale Normen immer wieder reproduziert werden und nur schwer überwindbar sind.

Doch was hat das nun mit dem Male Gaze zu tun? Im “klassischen” Film ist die Rollenverteilung klar: Die männliche Figur ist der Beobachter und das weibliche Gegenüber die Beobachtete. Unter dem männlichen Blick werden bei weiblichen Figuren oft Körper und Aussehen als ausschlaggebende Merkmale hervorgehoben, sei es durch die engen, für ihre Rolle eigentlich völlig unpassenden Anzüge weiblicher Superheldinnen oder Close-Up-Shots von bestimmten Körperteilen. Die Liste an Beispielen ist lang: Bond-Girls, Harley Quinn in “Suicide Squad” oder zahlreiche Disney-Prinzessinnen. Sie alle entsprechen dem, was wir uns als “Type” des heterosexuellen Cis-Mannes vorstellen.

Der Male Gaze äussert sich jedoch bei weitem nicht nur durch die Objektivierung des weiblichen Körpers. Verglichen mit den männlichen Protagonisten haben weibliche Charaktere in Filmen oft erschreckend wenig Persönlichkeit. Ihre Charakterisierung bleibt oberflächlich, gestaltet sich nach wiederkehrenden Archetypen und nicht selten liegt die einzige Aufgabe einer weiblichen Figur lediglich darin, dem Protagonisten beim Erreichen seiner Ziele beizustehen. Dadurch werden die bereits bestehenden, patriarchalen Machtstrukturen immer wieder neu umgesetzt. Dies passiert nicht nur auf der Leinwand, sondern hat ebenso direkte Konsequenzen im realen Leben. Der internalisierte Male Gaze beeinflusst unser Verhalten, unser Denken, unsere (Selbst)-Wahrnehmung.

Zugegeben, die Darstellung weiblicher Figuren hat sich seit dem letzten Jahrhundert deutlich verändert. Immer öfter sind auch weibliche Protagonistinnen auf der Leinwand zu sehen, welche ihren eigene Aufgabe zu erfüllen haben und nicht nur in ihrer Beziehung zu einer männlichen Figur charakterisiert werden. Eben zum Beispiel Barbie in Greta Gerwigs Film. Nicht umsonst gilt der Film als ein Beispiel für den Female Gaze. Denn ja, diesen gibt es auch, jedoch ist das Konzept weniger stark theoretisch verankert als der Male Gaze.

Barbie (2023)  als Beispiel für den Female Gaze zu sehen, fällt mir irgendwie schwer. Schliesslich ist “Barbie” als Kunstfigur die Verkörperung aller westlicher Schönheitsideale, welche den Präferenzen eines heterosexuellen Cis-Mannes entsprechen.

 

Die Theorie des Male Gaze beschäftigt mich immer wieder. Umso mehr gefällt mir die Idee, dass das Konzept umgekehrt werden kann und somit eine andere Perspektive (welche auch mehr meiner eigenen entspricht) in den Mainstream-Medien repräsentiert ist. Doch eine einheitliche Definition des Female Gaze scheint es nicht zu geben. Stattdessen finden sich drei verschiedene Ansätze, welche sich teilweise doch stark unterscheiden:

1. Der Female Gaze als Umkehrung des Male Gaze.

Sprich, die Rollen werden getauscht und die männlichen Charaktere objektiviert. Wirklich konkrete Beispiele gibt es dazu wenige, am deutlichsten ersichtlich ist diese Idee wohl in den “Magic-Mike” Filmen.
Zufrieden geben will ich mich damit nicht. Schliesslich ist die Objektivierung nicht das einzige Problem des Male Gaze. Abgesehen davon ist es diskutabel, ob die “Magic-Mike” Filme tatsächlich den Präferenzen heterosexueller Cis-Frauen entsprechen. Aus eigener Erfahrung würde ich das nämlich verneinen. Vielmehr ähneln die Charaktere ebenfalls dem, was für viele dem Idealbild von Männlichkeit entspricht. Womit wir wieder beim Male Gaze wären.

2. Der Female Gaze als Darstellung der Konsequenzen des Male Gaze.

Dass der Male Gaze Auswirkungen auf uns alle, unabhängig vom Geschlecht, hat, ist wohl unbestritten. Doch inwiefern sich diese Auswirkungen äussern, ist ein weiterer Ansatz, der unter dem Begriff Female Gaze verstanden wird. Das beste Beispiel hierfür ist schon wieder Greta Gerwigs “Barbie”. Als Margot Robbies Charakter die heile Barbiewelt verlässt und in unsere Realität reist, wird sie mit den harten Tatsachen eines vorherrschenden Patriarchats konfrontiert. Und Gloria, welche ihr gesamtes Leben in dieser Realität verbracht hat, kann Barbie ein Lied davon singen, welche Konsequenzen die Erwartungen des Patriarchats für weiblich gelesene Personen haben. Nicht umsonst resonierte ihr Monolog im Film mit unzähligen Menschen und wurde vielfach zitiert.

3. Der Female Gaze als realistische Darstellung vielschichtiger Figuren.

Die mit Abstand geläufigste “Definition” des Female Gaze versucht die einseitige Charakterisierung von Figuren ALLER Geschlechter zu untergraben. Ziel vieler Filmemacher*innen ist es, vielschichtige Charaktere zu erschaffen, welche ihre eigenen Ziele und Wünsche haben, tief fühlen und das auch zeigen können. Charaktere, welche die Realität von uns so gut wie möglich repräsentieren sollen. Dazu gehört auch, dass Figuren nicht makellos sind und Fehler machen. Das Ziel dieses Female Gaze ist es, mit den Figuren zu empa-thisieren, anstatt sie zu romantisieren.

Harley Quinns Entwicklung zwischen “Suicide Squad” und “Birds of Prey” könnte das nicht deutlicher machen: Bereits der Vergleich ihrer Outfits oder ihrer Frisur zeigt auf, dass unterschiedliche Ansätze bzw. ein geschärftes Bewusstsein für den Gaze ihre Darstellung beeinflusst haben. Es ist nicht verwunderlich, dass hinter “Birds of Prey” eine Regisseurin steckt, denn so vollzieht sich die Umkehrung des Male Gaze am wirkungsvollsten: Wenn sich auch nicht-männlich gelesene Personen hinter den Kulissen einbringen können.

“Mustang” (2015), ein Film der türkisch-französischen Regisseurin Deniz Gamze Ergüven, taucht bei meiner Suche als weiteres Beispiel auf. Der Film begleitet fünf Schwestern aus einem abgelegenen türkischen Dorf, die ihren Alltag in einer Gesellschaft bewältigen, in welcher sie selbst kaum etwas zu sagen haben. Dabei wird kein Detail ausgelassen, der Film zeigt schonungslos die Konsequenzen, welche die Mädchen aufgrund der ausgeprägten patriarchalen Strukturen aushalten müssen. Ich selbst war vierzehn Jahre alt, als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe. Dass er mir dennoch bis heute klar im Gedächtnis geblieben ist, führe ich unter anderem darauf zurück, dass der Film und seine Charaktere sich von all den vielen Filmen abheben, welche die männliche Perspektive zentrieren und damit nicht nur meine, sondern auch die vieler anderer aussen vor lässt.

Vielleicht hätte ich den Mann im Bus besser angesprochen, anstatt nichts zu sagen. Denn welche andere Möglichkeiten haben wir, als Nicht-Filmemacher*innen, ausser uns und unser Umfeld, accountable zu halten? Denn trotz Greta Gerwigs “Barbie” (und einiger anderer Filme ihrerseits), müssen wir uns trotzdem eingestehen, dass wir wohl erst am Anfang einer möglichen Veränderung stehen.

 

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich zu:
1 Kommentar
beste Bewertung
neuste älteste
Inline Feedbacks
View all comments
2. Februar 2024 3:08

PLEASE HELP ME My name is Aziz Badawi, I’m 27 year old man from Palestine. Our town has recently evacuated due to bombardments by Israel, now I am staying at a shelter with my 6 year old daughter Nadia. My wife is dead and I’m the only one left to take care of my daughter as we are not allowed to depart to my parents house in Nablus, she is sick with a congenital heart defect and I have no way to afford the medicine she needs anymore. People here at the shelter are much in the same conditions as… Zeig mir mehr! »