«Das Ziel von EXIT-Abklärungen ist nicht primär der assistierte Suizid»

09. Oktober 2023

Von und

Wem gehört der Tod? Wie weit darf Selbstbestimmung gehen? Was ist der Sinn des Lebens? – Weshalb wir mehr trauern sollten und wie viel EXIT mit dem Leben zu tun hat, erzählt Paul-David Borter, Gesamtleiter Freitodbegleitung bei EXIT, im Interview mit der bärner studizytig.

Paul-David, was ist EXIT?

EXIT ist eine Solidaritätsgemeinschaft. Es ist ein Zusammenschluss von Menschen, ein Verein, der Menschen in der Durch- und Umsetzung vom Recht auf den eignen Tod unterstützt.

Wie würdest Du einem Kind erklären, was EXIT ist?

Das ist eine enorm schwierige Frage. Meinen eigenen Kindern habe ich immer erklärt, dass ich mit Menschen arbeite, denen es nicht so gut geht. Menschen, die traurig sind, die viele Schmerzen, die Krankheiten haben. EXIT schaut dann, was unternommen werden kann, damit es diesen Menschen besser geht, damit sie besser leben können und mehr Lebensqualität haben – ohne blossen Fokus aufs Sterben. Und dass EXIT diejenigen Menschen aber, bei denen sich herausstellt, dass auf diese Art nicht geholfen werden kann, dann halt auch in den Tod begleitet.

Du hast gerade gesagt, dass Du den Fokus nicht nur aufs Sterben – den Tod – legen würdest. EXIT ist also nicht bloss ein Synonym für assistierter Suizid?

Gar nicht. EXIT steht für viel, viel mehr. EXIT steht durchaus für eine aufklärerische Idee im Sinne Kants: «Bestimme dich aus dir selbst». Dies bezieht sich auf ganz viele verschiedene Lebensfragen – verschiedene Formen von Selbstbestimmung. So eben auch auf die Frage «Wie möchte ich sterben?». In diesem Kontext kann Selbstbestimmung auch heissen, dass man im Rahmen einer Patientenverfügung für sich bestimmt, wie man sterben möchte.

Es geht also um Haltungsfragen, die das Leben betreffen. EXIT hat sehr viel mit dem Leben zu tun. Und auch mit Prävention. Das Wissen, jederzeit auf EXIT zurückgreifen zu können – selbstbestimmt sterben zu können – schafft eine neue Form von Lebensqualität.

«EXIT hat sehr viel mit dem Leben zu tun.»

EXIT oder die blosse Möglichkeit eines assistierten Suizids beruhigt also, ist wie eine Entlastung.

Ja.


Zur Person

Paul-David Borter ist seit Mai dieses Jahres «Gesamtleiter Freitodbegleitung» bei EXIT. Er hat an der Universität Bern Philosophie studiert und fühlt sich insbesondere in der Ethik zuhause. Seit 2006 ist er bei EXIT tätig. Paul-David ist Vater von 5 Kindern und in seiner Freizeit engagiert er sich als Trainer im Bereich Kinderfussball. Sein Lesetipp: «Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?» von Peter Bieri.


Wer darf denn mit EXIT sterben?

Mitglieder. Das sind Menschen ab dem 18. Lebensjahr, die ihren Wohnsitz in der Schweiz haben. Diese leiden entweder an einer tödlichen Krankheit, einer unzumutbaren Behinderung, haben unerträgliche Beschwerden und/oder können ein Leiden im und am Alter geltend machen.

Im und am Alter leiden Menschen, die hochbetagt sind und vielleicht geringfügige Gebrechen haben, die ihre Lebensqualität summa summarum aber derart limitieren, dass sie sterben wollen. Darunter gibt es auch Menschen, die ihre Autonomie verlieren, z.B. im Zusammenhang mit ihrer Mobilität, und einfach nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis fallen wollen, weil das nicht zu ihrer Lebensart passt und sie immer selbstbestimmt durchs Leben gegangen sind. Dies bedeutet in letzter Konsequenz auch, dass sie eigenverantwortlich sind für das, was sie tun.

Ein Mitglied möchte nun einen assistierten Suizid aufgleisen. Wie läuft dies ab?

Es beginnt mit einem Abklärungsprozess. Kurz geschildert orientiert sich dieser sehr stark am Ergebnisoffenen. Das ist ganz, ganz wichtig. Das Ziel der EXIT-Abklärungen ist nie der assistierte Suizid, sondern einen Menschen, ein Mitglied, dabei zu unterstützen im Prozess herauszufinden, was der richtige oder gangbare Weg ist. Das schliesst das Thematisieren von anderen Optionen und Alternativen natürlich mit ein. Wir arbeiten sehr systemisch. Das heisst wir versuchen zum frühestmöglichen Zeitpunkt das Umfeld des Mitglieds miteinzuflechten. Selbstverständlich in Absprache mit dem Mitglied.

Es gibt eine Art erste Phase telefonischer Vorabklärungen. Dann gibt es eine zweite Phase, in der diverse Schriftliche Unterlagen eingereicht werden müssen, anhand derer man sieht, wo die betreffende Person steht. Wir haben ein regionales Modell und versuchen dann eine Begleitperson zu mandatieren, die geografisch möglichst nahe bei der Person ist, die diese Unterstützung in Anspruch nehmen möchte. Darauf folgt eine Phase von persönlichen Gesprächen.

Wie lange dauert diese Phase?

Diese Phase kann unterschiedlich lang sein. Wenn eine tödliche Krankheit vorliegt, bei der das Zeitfenster limitiert ist, kann diese Phase entsprechend kurz sein. Es kann aber auch sein, dass z.B. eine chronische Erkrankung vorliegt und ein Mitglied über mehrere Jahre mit Gesprächen begleitet wird. Wenn eine Person dann für sich entschieden diesen Weg gehen zu wollen und alle Kriterien erfüllt, um diese Hilfe in Anspruch nehmen zu können, kann sie in Absprache mit der Begleitperson, einen Sterbetermin ansetzen. Dann findet dann die eigentliche Begleitung statt.

Im Rahmen einer Freitoderklärung dokumentiert dann das Mitglied, dass es sein freier Wille ist, am vereinbarten Tag zu sterben. Zudem werden die Personen aufgeführt, welche an der Begleitung anwesend sind. In 95% der Begleitungen sind Angehörige, Freunde anwesend. Die Begleitperson bereitet dann das Sterbemittel vor, welches das Mitglied per os oder per Infusion selbst zu sich nimmt. Nachdem die Person verstorben ist, gibt es eine behördliche Nachuntersuchung, da es sich um einen aussergewöhnlichen Todesfall handelt.

Ist diese Abgeschlossen und kommt zum Schluss, dass alles seine Richtigkeit hatte, ziehen wir uns dann wieder zurück. In Einzelfällen werden wir gefragt, ob wir noch beim Anziehen und/oder Waschen der verstorbenen Person helfen könnten. In einem zu definierenden Zeitfenster nach der Begleitung wird dann – falls gewünscht – erneut Kontakt zu den Angehörigen aufgenommen.

Was wenn die Handlungsfähigkeit eines Menschen eingeschränkt ist?

Es ist völlig klar, dass die Person, die mit EXIT sterben möchte, in der Lage sein muss, die letzte, finale Kausalhandlung selbst auszuführen. Dies kann verschiedenartig geschehen. Es ist allerdings auch klar im Umkehrschluss, dass eine Begleitung ausgeschlossen ist, wenn die Handlungsfähigkeit in keiner Art und Weise mehr gegeben ist.

Wird EXIT nach einer Begleitung auch in den Bestattungsprozess miteinbezogen?

Wir bekommen diesbezüglich sicherlich Wünsche des Mitglieds mit, welche wir in gewissen Fällen auch aktiv thematisieren – gerade, wenn jemand alleinstehend ist, damit wir den Behörden entsprechende Wünsche weitergeben können. Mehrheitlich ist dies aber nicht der Fall, denn es ist eigentlich nicht unsere Materie. Wir können teils aber beratende Unterstützung geben.

Bild: Noémie Jäger

EXIT polarisiert – immer noch. Bekommt Ihr viele Hassnachrichten, z.B. von religiösen Gemeinschaften?

Nein, das hat sich massiv verändert. Zu der Zeit, als ich bei EXIT angefangen hatte, war es allerdings anders. EXIT war damals ein noch sehr umstrittener Verein. Dies hat man auch entsprechend gespürt. Sei es bei Begleitungen, Kontakten mit den Behörden oder vonseiten der Gruppen, die Du erwähnt hast.

EXIT leistet einen wesentlichen Beitrag zur Enttabuisierung von Themen wie Tod, Sterben und Trauer. Wie können wir als Gesellschaft diese Themen weiter enttabuisieren und in unser Leben integrieren?

Interessanterweise vertrete ich die Position, dass Tod und Sterben keine Tabus sind. Ich glaube wir haben eine Art ambivalentes Verhältnis zu diesen Themen. Das eigentliche Tabu aber ist meiner Meinung nach die Trauer. Wir dürfen ja gar nicht trauern. Trauer wird gesellschaftlich per se negativ bewertet. Obwohl du dem Leben wohl nie so nahe bist, wie wenn du trauerst. Wir suchen alles, was Leben bedeutet, aber wenn das volle Leben dann da ist im Kleid der Trauer, sind wir nicht in der Lage damit umzugehen und flüchten.

Hat unsere Gesellschaft also verlernt zu trauern?

Ja.

Wie gehst Du persönlich mit Trauer um?

Ich empfinde Trauer als eine absolute Notwendigkeit. Sie hat eine kathartische Funktion. Ich kann mich durch die Trauer derart reinigen, dass ich wieder offen bin für andere Empfindungen. Auch ist sie ein Ausdruck von Dankbarkeit und Demut gegenüber der verstorbenen Person. Trauer empfinde ich als ein Geschenk, etwas Schönes. Ich versinke nicht in diesem Gefühl, aber ich gehe hinein und wieder heraus. Wäre ich nicht mehr in der Lage zu trauern oder würde ich nicht trauern, könnte ich meine Arbeit bei EXIT nicht mehr ausüben; ich müsste aufhören.

Es gibt kein Gefühl, das dermassen stimulierend ist, um übers Leben zu reflektieren, wie die Trauer. Mir gefällt dieses Bild aus der afrikanischen Mythologie, oder vielleicht besser Ethnologie, von der Trauer als die Mutter aller Gefühle. Wie willst du wissen, was Liebe bedeutet, was Mangel bedeutet, was Befriedigung heisst, wenn du nicht trauern kannst. Die Trauer ist der Referenzpunkt, der Dreh- und Angelpunkt. Das Urgefühl.

«Trauer ist ein Geschenk, etwas Schönes.»

Trauer und Tod sind eng miteinander verbunden. Sollten wir uns mehr mit unserer eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzen?

Ja, absolut!

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit bringt uns, wie so Vieles, zur Philosophie. Du hast selbst Philosophie studiert. Was waren Deine Top 3 Gründe für dieses Studium?

Also damals war es der unbändige Durst und die Neugier nach Erkenntnis in Bezug auf die Fragen: Was ist gut? Was kann ich wissen? Und was ist eine gute Art zu sterben? Ich bin der Meinung, dass Philosophie mehr ist als nur Philosophie. Es gibt wahrscheinlich kein Fach, welches derart viel Wert darauf legt, dass man das Handwerk vom Denken erlernt. Und dies ist wohl die beste Voraussetzung, um später «was auch immer» zu machen.

Ein weiterer Grund hat schon mit den Themen zu tun, die wir bereits erwähnt haben. Sich den Luxus zu gönnen, sich mit Fragen beschäftigen zu können, mit denen man sich im Alltag vielleicht eben nicht beschäftigt. Vermeintlich deswegen, weil sie prima facie unsinnig sind und wenig Wert generieren, dann mit der Zeit aber merkt, dass es einen auf eine Art und Weise stimulieren und weiterbringen kann, wie man es am Anfang nicht gedacht hätte.

Das ist das Faszinierende an der Philosophie. Man fängt irgendwo einfach einmal an und hört an einem Punkt auf, den man nicht antizipieren konnte. Es ist eine Reise, ein Abenteuer. Und wenn man eine gute Neugier hat – was übrigens die beste Demenzprophylaxe ist – ist Philosophieren völlig altersunabhängig. Wir können immer philosophieren. Das Instrument, das wir dazu brauchen, haben wir immer dabei – das ist Fluch und Segen zugleich.

«Neugier ist die beste Demenzprophylaxe.»

Würdest Du sagen, dass es intrinsisch ur-menschlich ist, zu philosophieren?

Absolut! Natürlich haben wir dieses Thema auch im Bereich der kognitiven Verhaltensforschung. Es gibt sicherlich auch Tiere, die sich mit bestimmten Fragen beschäftigen. Es ist in dem Sinne nichts Menschliches. Das hat mit Bewusstsein zu tun.

Wie hat die Philosophie Deine Sicht auf Leben und Tod geprägt?

Die Philosophie hat mir entscheidend geholfen, einen differenzierteren Zugang zu diesen Fragestellungen zu entwickeln, als ich ihn durch meine Erziehung, die Adoleszenz sowie meine Sozialisierung mitbekommen habe. Ich würde mich also als Kind der Aufklärung bezeichnen. Ich glaube, ich hatte schnell einmal Freude daran, mit Hilfe der Vernunft gewisse Sachen kritisch zu durchdenken und Schlüsse zu ziehen, die ich sonst nicht gezogen hätte und das ist prägend.

Was meine Sicht auf Leben und Tod sicherlich auch sehr geprägt hat, ist die Grunderkenntnis, dass die eigene Existenzform absolut kontingent ist, man gleichzeitig aber immer wieder in diesem Gefühl schwimmt, dass es eben doch Sinn ergibt, einen Grund hat. Dieses Spannungsfeld von absoluter (subjektiver) Gewissheit und der Nichtigkeit in der objektiven Welt, dieses Spannungsfeld ist bis heute sehr prägend gewesen.

Hat sich Dein Blick auf den Tod verändert oder hat es darin eine gewisse Konstanz?

Also die Konstanz ist, so glaube ich, dass das Thema konstant geblieben ist. Es gab Phasen intensiver Beschäftigung mit diesem Thema, auch dunkle Phasen gezeichnet von Selbstzweifeln, Selbstkasteiung und Insuffizienz bis hin zu euphorischen Phasen, in denen ich das Gefühl hatte, jetzt doch eine Erkenntnis zu haben. Und das paart sich mittlerweile mit dem Alt-Und-Weise-Werden.

Lustigerweise hatte ich als Kind immer dieses Bild, dass ich alt und weise werden möchte – und gut sterben. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass ich einen sehr entspannten Zugang zum eigenen Tod habe. Diesen habe ich relativ schnell entwickelt. Währenddessen der Tod von mir nahestehenden Personen eine absolute Katastrophe wäre.

Würdest Du sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod einfacher ist?

Viel einfacher.

Welche Metapher würdest Du für den Tod brauchen?

Den Tod als Sinnstifter des Lebens zu begreifen, finde ich spannend – «schopenauerisch gesprochen». Erst durch die Endlichkeit erfahren viele Lebensaspekte eine Sinnhaftigkeit.

Der Tod verführt geradezu zur metaphorischen Rede. Es gibt wohl kaum ein Thema, welches derart metaphorisch abgehandelt werden kann. Dies macht das Thema auch sehr reizvoll; es lässt sich lyrisch und poetisch extrem gut verarbeiten. Wir sterben ein Leben lang. Und gewissermassen geht es im Leben auch darum, (zu lernen) damit umzugehen: ars moriendi.

«Der Tod verführt geradezu zur metaphorischen Rede.»

Wird der Tod missverstanden?

Subjektiv würde ich sagen ja, weil er als negativ bewertet wird – was ja auch eine gewisse Berechtigung hat. Denn der Tod eines Kindes, der Tod einer Person, die mitten im Leben steht usw. ist wohl die grösste Katastrophe, die man sich denken kann. Auf der anderen Seite ist es auch ein Trost, am Ende eines erfüllten Lebens sterben zu können, dürfen. Insofern ist die Bewertung des Todes relativ. Aber wir neigen dazu den Tod, im gesellschaftlichen Kontext, als negativ zu bewerten.

Wenn ich Dir nun ein Blatt Papier und ein paar Farbstifte geben und sagen würde: «Zeichne mir den Tod». Was würdest Du zeichnen?

In einem ersten Impuls wohl ein Kreuz. Gleichzeitig wäre ich dann aber nicht ganz zufrieden, weil das Kreuz als Symbol vom Tod eine sehr starke religiös-kulturelle Prägung widerspiegelt und nicht unbedingt eine philosophische. Aber wenn ich noch ein bisschen länger darüber nachdenken dürfte und diesem ersten Impuls nicht Folge leisten würde, würde ich einfach Natur zeichnen. Denn der Tod ist einfach Biologie – der Tod ist eine Notwendigkeit, eine natürliche Folge davon, was «leben» bedeutet.

Insofern, um deine Frage zu beantworten, könnte der Tod eine Feder im Wind, ein Kornfeld, das sich im Wind beugt, ein Bergbach sein. Und dann sind wir beim geballten Leben – es ist einfach «eins».

Paul-David, eine letzte Frage noch: Bist Du EXIT-Mitglied?

(Lacht) Ja, selbstverständlich!

 

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich zu:
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments