Zwischen Eskapismus und Revolution
Übermüdet sitze in einer Vorlesung – nicht, weil ich bis spätnachts einen Uni-Text gelesen hätte, sondern weil ich mich in einem Fantasy-Roman verloren habe. War das ungerechtfertigt und ist das Eintauchen in eine Welt von Drachen und Eismagierinnen purer Eskapismus oder könnte es das genaue Gegenteil davon sein?
Text: Alisha Hörr Illustrationen: Lisa Linder
J.R.R. Tolkien – Der Autor von Der Herr der Ringe und Co. – gilt als Begründer des «High Fantasy» und beeinflusste damit zahlreiche Werke der nachfolgenden Autor*innen dieses literarischen Genres. Als Grundlage für «Mittelerde» – den bekanntesten Handlungsort seiner fiktiven Welt – ist das europäische Mittelalter am deutlichsten ersichtlich. Folglich wurde die Szenerie des mit einigen fantastischen Elementen ausgeschmückten europäischen Mittelalters zum Schauplatz vieler international erfolgreicher Fantasy-Romane. Diese Tendenz ist nun am Aufbrechen – um nur ein Beispiel zu nennen: Die Poppy War Buchserie von R.F. Kuang ist inspiriert vom China des 20. Jahrhunderts und hat weltweit Aufmerksamkeit erlangt.
Fiktion und Realität
Vielleicht fragt ihr euch jetzt: «Was wäre denn überhaupt so problematisch daran, immer nur diese ganz bestimmte, ‘tolkiensche’ Form von Fantasy zu lesen?» Nun, Fiktion und Realität können nicht getrennt voneinander verstanden werden. Die offensichtlichere Verbindung ist, dass Fiktion auf realen Konzepten basiert und aufbaut. Doch auch das Umgekehrte ist der Fall: Fiktion hat reale Auswirkungen auf unser Leben. Fiktion wurde und wird noch immer gerne genutzt, um Werte zu vermitteln. Autor*innen, Künstler*innen und Produzent*innen von Medien aller Art spielen eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung der Performativität von Verhaltensweisen. Performativität bezeichnet Prozesse der ständigen Imitation von bestehenden gesellschaftlichen Normen. Die Nachahmung – ob bewusst oder unterbewusst – entsteht durch die Berufung auf eine extern auferlegte Norm. Ebendiese Norm wird von uns als Kollektiv erschaffen. Gleichzeitig erschafft sie im Rückschluss die normangepassten Menschen. Es handelt sich also um ein Wechselspiel zwischen Erschaffen und Erschaffen-Werden.
Fiktive Charakter und
Gesellschaftsordnungen
haben ihre Wurzeln in der
uns bekannten Realität.
Doch sind sie nicht nur
Produkt der Realität,
sondern rekreieren diese
in einem Umkehrschluss
auch selbst.
Ob nun fiktiv oder nicht, Geschichten haben eine moralische Instanz. Dabei sind Märchen und Sagen oft die Gattungen, die besonders auffallen. In ihrem simplen und immer gleichen Aufbau können wir sie uns besser merken und weitererzählen – die Werte werden von Generation zu Generation weitergetragen. Auch heute noch werden Märchen erzählt, immer etwas anders, doch der Kern (die Moral) bleibt bestehen. Genau in diesem Weitererzählen liegt die Performativität: Geschichten werden nacherzählt, Handlungsmuster nachgeahmt und auf die Realität übertragen. So zeigt sich also: Fiktive Charaktere und Gesellschaftsordnungen haben ihre Wurzeln in der uns bekannten Realität. Doch sind sie nicht nur Produkt der Realität, sondern rekreieren diese in einem Umkehrschluss auch selbst.
Nun, da wir die Macht von Geschichten erkannt haben, stellt sich die Frage, wer die Macht hat, solche Geschichten zu verfassen und dabei eine Leser*innenschaft zu erreichen. Lange Zeit waren in Europa beinahe ausschliesslich Männer in dieser Machtposition. Dieser Ausschluss anderer Menschen und Perspektiven führt dazu, dass sich in Fantasywelten die individuelle Realität Einzelner als kollektive Realität aller spiegelt. Diskriminierende Annahmen einer patriarchalen und eurozentristischen Perspektive werden so ohne Gegenvorschläge für Alternativen auf fiktive Welten übertragen, werden von vielen Menschen konsumiert und setzen sich in ihren Köpfen als natürliche Norm fest. Daher ist es eine ermutigende Entwicklung, dass nun vermehrt vielseitige Fantasy-Bücher internationale Aufmerksamkeit erlangen und auch die Autor*innen diverser sind. Dies ermöglicht den Lesenden, neue Perspektiven kennenzulernen und den eigenen Horizont zu erweitern.
Eskapismus oder mentale Vorbereitung auf die Revolution?
Um nach diesem Gedankenspaziergang wieder auf die Anfangsfrage zurückzukommen: Ist es Eskapismus, Fantasy-Bücher zu lesen? War das Lesen einer Geschichte von Drachen und Eismagierinnen es wert, dann in der Vorlesung über institutionalisierte Diskriminierung und deren Zusammenhänge mit Kapitalismus wegen Übermüdung nichts mehr aufnehmen zu können? Ist es Eskapismus, wenn es in diesem Buch von Drachen und Eismagierinnen auch um Migration und Kolonialismus geht? Ist es Eskapismus, wenn ich ein Buch lese, welches mir völlig neue Gesellschaftsstrukturen, Ideale und Werte zeigt? Gerade dadurch, dass ein fantastisches Setting gewählt wird, fällt es den Leser*innen einfacher, sich die alternativen Lebensformen ernsthaft vorzustellen, anstatt sie gleich als unmöglich zu verwerfen. In fiktiven Geschichten können Utopien entworfen werden, die tatsächlich umsetzbar wirken, während Utopien, wenn sie auf unsere Realität bezogen sind, mindestens belächelt und in den meisten Fällen brutal zerfetzt werden. Ohne allzu grosse Erwartungshaltung können wir uns also in Fantasy- oder auch Science-Fiction-Büchern den Gedankenexperimenten hingeben. Und die Ideen, die den Lesenden so mitgegeben werden, können sich auf ihre Handlungen in der Realität auswirken. Wenn immer und immer wieder Alternativen zu unserer jetzigen Haltung und Lebensweise konsumiert werden, wirkt es irgendwann vielleicht nicht mehr unmöglich und lachhaft, das bestehende, so rigide und naturalisiert wirkende Ordnungssystem herauszufordern.
Gerade dadurch, dass ein
fantastisches Setting
gewählt wird, fällt es den
Leser*innen einfacher,
sich die alternativen Lebensformen ernsthaft
vorzustellen, anstatt sie
gleich als unmöglich zu
verwerfen.
Letztlich können Bücher so oder so gelesen werden. Vielleicht will ich wirklich einfach mal ausklinken und mich in eine Fantasy-Welt flüchten, wo die Grenzen zwischen Gut und Böse eindeutig erkennbar sind und die Protagonist*innen ein klares Ziel verfolgen. Und vielleicht lese ich einen Fantasy-Roman über politische Intrigen in Atlantis, um danach von neuen Ideen inspiriert eine Revolution anzuzetteln. 😉