«Wenn Einzelne viel Raum einnehmen, bleibt für andere weniger»
Was kleine Königreiche und Föderalismus mit der Universität Bern zu tun haben, erfahrt ihr im Interview mit Francesca Falk. Im Gespräch mit der Historikerin sprechen unsere Autorinnen über den Strukturkonservatismus an der Universität, die Machtkämpfe in den föderalistischen Königreichen, die prekären Abhängigkeitsverhältnisse und darüber, weshalb die Gleichberechtigung an der Uni noch immer nicht erreicht ist.
Text: Mara Schaffner und Mara Hofer
Fotos: Noah Pilloud
Was hat Dich dazu veranlasst, eine Hochschulkarriere einzuschlagen?
Für mich war das Studium eine sehr schöne Zeit. Ich habe noch vor der Bologna-Reform studiert, also sehr frei. Erstmals konnte ich wirklich selbstbestimmt dem nachgehen, was mich interessierte. Am meisten motivierte mich, dass ich Fragen, die mich in der Lebensrealität beschäftigten, an der Uni verfolgen konnte. Durch das Aufzeigen der historischen Entwicklung zeigt man, wie veränderlich die Welt ist. Das hat mich fasziniert. Ausserdem war es sehr bereichernd, eine Möglichkeit gefunden zu haben, um eine Stimme zu haben und zu versuchen, die Wahrnehmung der Dinge zu prägen.
Hat es einen Unterschied gemacht, als Frau ins Rennen zu starten?
Ja! Ich bin in den späten 1970ern geboren und in der Ostschweiz aufgewachsen. Es war nicht überall gleich, aber bei uns wurden die Mädchen ab der Sek in die Hauswirtschaft und ins Kochen geschickt und die Jungen in die Geometrie und ins Technische Zeichnen. Geometrie zu belegen, war die Voraussetzung für die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium. Junge Frauen mussten das also zusätzlich wählen und das haben bei uns nur sehr wenige getan. Als ich später meine Dissertation an einem Nationalen Forschungsschwerpunkt schrieb, hatte es fast nur männliche Professoren. Und es hat sich dort von Anfang an eine Wissenschafts- und Redekultur etabliert, die extrem «männlich» konnotiert war. Das fiel mir sofort auf und störte mich.
Wie können wir uns eine solche «männlich konnotierte» Gesprächskultur vorstellen?
Hielt jemand einen Vortrag, konnte es sein, dass ein anderer aufstand und 10 Minuten einen Monolog dazu hielt, anstatt Fragen zu stellen. Intern war das angesehen und es hat Meriten eingebracht. Seither bin ich allergisch auf diese Verhaltensweise und versuche jetzt in meinen Lehrveranstaltungen, eine egalitäre Gesprächskultur zu etablieren.
Warum ist es Dir denn wichtig, eine egalitäre Gesprächskultur zu etablieren?
Wenn Einzelne viel Raum einnehmen, bleibt für andere weniger Raum. So hört man wenige Stimmen und immer dieselben. Gerade in der Lehre finde ich es aber spannend, verschiedene Perspektiven zu hören. Dafür ist es wichtig, dass sich möglichst viele beteiligen.
Gab es über die Jahre hinweg auch einen Kulturwandel?
Über die Zeit hinweg hat sich schon viel verändert. Als ich an meiner Dissertation arbeitete, gab es im Rahmen des erwähnten Nationalen Forschungsschwerpunktes ein wöchentliches Kolloquium mit verschiedenen Professoren, nur zwei Professorinnen und sehr vielen Mitarbeitenden. Ein leitender Professor hat in diesem Kolloquium einmal gemeint, Google erinnere ihn an eine Vagina – es seien beides Schlitze und man könne alles Mögliche hineinschieben. Niemand sagte etwas. Ein paar haben gelacht und ich sass als Doktorandin geschockt im Stuhl. Heute würde ich auf so was reagieren. Ich glaube aber, er würde sich heute gar nicht mehr trauen, so eine Äusserung zu machen.
Als gefragte Historikerin hast Du bereits an diversen Universitäten der Schweiz doziert. Wie schätzt Du die Gleichstellung der Geschlechter in der Schweizer Hochschullandschaft heute ein?
Es ist sicher viel geschehen. Beim Frauenstreik 1991 war ich 14 Jahre alt. Damals gab es in der Schweiz 2% Professorinnen und heutzutage sind wir bei fast 25%, wenn man alle Kategorien einberechnet. Auch die Infrastruktur ist heute besser. Als ich mein erstes Kind bekam, musste ich in einem Sanitätsraum Milch abpumpen, in dem während Konferenzen auch Koffer abgestellt wurden. Das hiess, ich musste immer wieder unterbrechen, was extrem mühsam war. Heutzutage gibt es an der Universität Bern Stillzimmer und Familienzimmer. In dieser Hinsicht ist sehr viel gelaufen. Aber es ist natürlich auch sehr viel einfacher, solche Räume einzurichten, als wirklich die Strukturen zu ändern.
Also doch mehr Schein als Sein? Oder weshalb ändern wir nicht auch die Strukturen?
Die Uni ist stark strukturkonservativ; dass es früher so war, gilt dabei oft automatisch als Legitimation, dass es auch in der Gegenwart und Zukunft so sein soll. Das System weist zudem feudale Züge auf mit starken Abhängigkeiten und kleinen «Königreichen». Dadurch, dass die Universität in Fakultäten, Institute und Abteilungen gegliedert ist, herrscht hier ein starker Föderalismus, der gewisse Vorteile, aber auch starke Nachteile hat, vor allem für den so genannten «Mittelbau“. Die Untereinheiten haben bei uns etwa ein eigenes Budget und können selbst entscheiden, wer eingestellt wird. Das hat den Nachteil, dass Nachwuchswissenschaftler*innen abhängig von einer Person in einer Abteilung sind. Hat man dort Probleme, ist es sehr schwer, Hilfe zu bekommen, da niemand dieser anderen Person auf die Füsse treten will. So besteht eine sehr starke Abhängigkeit von der Person, die jemanden anstellt und zugleich wissenschaftlich betreut. Diese vorgesetzte Person öffnet einem zudem das Netzwerk und wenn man die Stelle verlässt, ist man schnell aus der Wissenschaft und diesem Netzwerk raus.
Es kommen doch auch immer wieder neue Generationen, die das Alte hinterfragen. Dennoch sind die Strukturen starr und es verändert sich wenig. Vertreiben wir die Progressiven?
Dass die Strukturen bleiben, wie sie sind, hat auch eine Effizienz. Es gäbe viele und vor allem lange Diskussionen, wenn wir uns immer wieder überlegen würden, wie wir uns organisieren wollen. Die Geschichtswissenschaft beispielsweise ist nach Epochen gegliedert und das ist eine Ordnungsfunktion, die sich auch in Abgrenzung zu anderen Fächern ergeben hat und so auch sinnvoll ist, da es diese Wissenschaft ist, die sich mit dem Wandel im Verlauf der Zeit auseinandersetzt. Aber es gibt auch andere Arten der Systematisierung, die genauso legitim sind, aber oft einen schweren Stand haben. Beispielsweise nach Räumen oder Themen wie beispielsweise Migration. Wenn wir nun jedes Mal, wenn eine Person emeritiert wird, beispielsweise mit Schwerpunkt 19. Jahrhundert, darüber diskutieren, ob dies beibehalten oder ob etwa ein thematischer Schwerpunkt gelegt werden soll, dann gibt es harte Verteilkämpfe, da unterschiedliche Interessen – durchaus legitime – vorhanden sind. Das braucht viel Energie und da ist es oft effizienter und einfacher, wenn der Status Quo beibehalten wird. Auf der anderen Seite verändern sich die Welt und die Gesellschaft. Beispielsweise nimmt nicht nur in der Schweiz gegenwärtig die Anzahl der Studierenden in den Phil 1 Fächern ab.
Was wäre deiner Meinung nach eine Möglichkeit, auf diesen Abgang zu reagieren?
Zu diesem Wandel gibt es verschiedene Positionen. Die einen meinen, dass wir auf die sich wandelnden Bedürfnisse reagieren und etwa neue Studiengänge entwickeln sollen, was auch ein Schaffen von Professuren ausserhalb der klassischen Disziplinen ermöglichen würde. Andere finden, dass wir die Studierenden zwingen sollen, auch Kurse zu belegen, die sie nicht selbst wählen würden, die aber doch auch wichtig sind für die betreffende Disziplin. Ich persönlich sehe vor allem einen Handlungsbedarf in Bezug auf die Entwicklung neuer Studienangebote. Eine Reaktion könnte beispielsweise sein, dass wir transdisziplinäre oder sogar transfakultäre Studiengänge einrichten, denn viele wollen nach dem Gymnasium noch breiter studieren und sich dann erst später festlegen. In Bezug auf die Migrations- und Mobilitätsthematik hätte ich beispielsweise viele Ideen für einen solchen Studiengang an der Universität Bern.
Nochmals zurück zu den Strukturen. Wie könnten denn diese demokratischer und sinnvoller gestaltet werden?
Ich würde Gelder gleichmässiger und nach transparenten Kriterien verteilen. Ich würde Stellen entfristen, auch unterhalb von Professuren. Die Uni Fribourg ist ein positives Beispiel. In der französischen Abteilung für Zeitgeschichte gibt es einen Pool von Assistierenden, die nicht einer gewissen Person zugeordnet sind. So hat man kein lineares Abhängigkeitssystem und es ist viel demokratischer. Es sollte zudem ein durchlässigeres System sein. Jetzt muss man zum richtigen Zeitpunkt mit dem richtigen Profil am richtigen Ort sein – alle andere fallen durch das Netz. Entweder man hat alles oder man hat nichts. Und die befristeten Stellen sind oft sehr prekär. Die Leute bleiben ein paar Jahre und dann sollen sie weiter.
Man könnte also von einem Mobilitätshype sprechen?
Definitiv! Es gibt einen Mobilitätshype an der Uni. Allerdings gibt es Studien, die aufzeigen, dass gerade für die psychische Gesundheit häufige Ortswechsel sehr schlecht sein können. Bei Universitätsangehörigen sind psychische Krankheiten übervertreten. Und auch im «Mittelbau» gibt es viele Burnouts. Ein erzwungener Ortswechsel ist in solchen Situationen nicht besonders gut. Zudem gibt es heute viele Möglichkeiten der wissenschaftlichen Vernetzung auch ohne Ortswechsel.
Kannst Du der Mobilität auch einen positiven Aspekt abgewinnen?
Sicherlich! Ich erlebte es klar auch als befreiend, aus der konservativen Gegend, in der ich aufwuchs, rausgehen zu können, mich neu zu erfinden und mir eine neue Welt zu erschliessen. Zuerst bin ich nach Basel, dann habe ich in Freiburg im Breisgau, Genf und Zürich studiert. Für die Dissertation blieb ich in Basel, ging dann nach Fribourg als Oberassistentin, zwischendurch war ich unter anderem in den USA und in Italien und schliesslich kam ich nach Bern. Es gab schöne Aspekte dabei, aber auch negative. Viele meiner Freund*innen aus Basel sehe ich nur noch selten. Neben 100%-Job und Familie habe ich wenig Freizeit und manches geht auch unter. An einem Ort bleiben, die Beziehungen dort zu pflegen und sich ein Netzwerk aufzubauen, kann auch eine sehr wichtige Ressource sein, wie ich auch an meiner heutigen Wohnsituation in einer autofreien Genossenschaftssiedlung merke.
Sehr spannend. Mobilität und Migration sind ja Bereiche, in denen Du schon lange Forschung betreibst. Du gehst in Forschungsarbeiten immer wieder auf Themen ein, die sowohl Migrations- als auch Geschlechtergeschichte vereinen.
Wieso glaubst Du, ist es wichtig, diese zwei Themen intersektional zu betrachten? Theorien schärfen den Blick für Dinge, die man dann genau analysieren kann und so besser sieht. Heutzutage wird etwa die Migration oft als Gefahr für die Gleichberechtigung dargestellt. Im Buch «Gender Innovation and Migration in Switzerland» habe ich an verschiedenen Beispielen gezeigt, wie viele positive Impulse durch die Migration in der Gleichstellung erwirkt werden konnten. Die Schweiz ist auch ein gutes Beispiel, dies aufzuzeigen, da sie stark durch Migration geprägt ist. Die Einführung der AHV war beispielsweise nur möglich durch die migrantischen Beiträge.
In einem anderen Interview hast Du gesagt: «Die Schweiz wäre nicht das, was sie jetzt ist, ohne die Migration». Können wir das auf die Universität übertragen?
Ja natürlich. Wir sehen die Spuren überall – natürlich auch an der Uni. Im 19. Jahrhundert gab es etwa an der Universität Zürich fast nur ausländische Professoren, viele mit Fluchterfahrung. Diese Menschen wiederum haben viel Positives an den Unis bewirkt. Die Uni Zürich hat zum Beispiel schon sehr früh auch Frauen zugelassen. Das wurde vor allem von deutschen Professoren in die Wege geleitet. Die ersten Studentinnen wiederum kamen aus dem Russischen Reich. So auch Anna Tumarkin, die erste Professorin an der Uni Bern. Es gibt aber nicht nur diese Figur und dann ist fertig. Die erste ordentliche Professorin in der Schweiz war Sophie Piccard. Sie wurde 1944 in Neuchâtel berufen und war 1924 nach der Russischen Revolution mit ihrer Familie in die Schweiz geflüchtet. 1992 kam Beatrix Mesmer als erste Frau in die Universitätsleitung der Uni Bern. Sie war 1938 nach der Reichspogromnacht in die Schweiz geflohen. Wir haben zuvor über die negativen Aspekte des Mobilitätshypes gesprochen. Aber die Universität basiert konstitutiv auf dem Austausch von Ideen und zirkulierenden Menschen und hat auch intellektuell sehr profitiert von Personen mit «Migrationshintergrund» und Fluchterfahrung. Es gab ja immer wieder Migrationsbewegungen in die Schweiz, die mit viel Solidarität willkommen geheissen wurden, andere hatten weniger Rückenwind.
Was verursacht diese ungleiche Haltung gegenüber den kommenden Menschen? Spielt hier Rassismus mit ein?
Nicht nur, aber auch. Gruppen werden unterschiedlich wahrgenommen und sie werden anders behandelt und diese Andersbehandlung ist nicht gerechtfertigt. Ich bin froh, waren wir gegenüber den Ukrainer*innen für unsere Verhältnisse grosszügig, aber etwa gegenüber Menschen aus Afghanistan sind wir sehr restriktiv, obwohl dort auch eine schreckliche Situation herrscht. Auch in der Vergangenheit sehen wir diese Andersbehandlung. Während des Zweiten Weltkriegs hat die Schweiz für jüdische Geflüchtete lange die Grenzen geschlossen. Das geschah klar auch aufgrund des Antisemitismus. Gleichzeitig wurden oppositionelle politische Geflüchtete aufgenommen. Da sehen wir, wie mit Leuten, die von demselben Ort aus und vor demselben Regime flüchteten, unterschiedlich umgegangen wurde.
An der Uni gibt es Projekte, die sich für die Integration von Geflüchteten engagieren. Ein Beispiel ist der Offene Hörsaal der SUB. Glauben Sie, solche Projekte sind sinnvoll und bräuchte es mehr davon?
Die Initiativen sind nötig und sehr willkommen. Es bestehen immer noch starke Ungleichheiten bei der Anerkennung von Diplomen, die nicht gerechtfertigt sind. Je nachdem von wo man kommt, ist es sehr schwierig, Diplome anerkennen zu lassen. Deshalb ist es wichtig, dass wir da dranbleiben und versuchen, die Uni stärker zu öffnen, aus menschenrechtlichen Gründen, aber nicht nur. Denn auch die Beispiele, die wir heute besprochen haben, zeigen, dass die Universität von Vielfalt (an Perspektiven) profitiert. Heute haben wir ein System, das in der Wissenschaft einerseits problematische Hypermobilität erzwingen will und anderseits jenen, die zur Mobilität gezwungen sind, ständig Steine in den Weg legt.