Schaut mich an, ich bin hier!

17. Mai 2023

Von

Alle scheinen sie zu kennen, aber verstanden wird sie bloss von wenigen. Sie
ist mehr als ein Teil vieler Körper. Sie ist ein Politikum. Vom Teufel geliebt, vom
Patriarchat gefürchtet: die Vulva.

Text & Bilder: Noémie Jäger

Seit Jahrhunderten werde ich missverstanden. Ich werde nicht gehört, nicht gesehen, nicht nach meiner Meinung gefragt. Meistens jedenfalls – zu oft. Alle kennen, niemand versteht mich. Fast niemand. Alle glauben zu wissen, wer ich bin, was ich brauche und was ich will. Sie glauben zu wissen, wie ich auszusehen habe, was ich darf, was ich kann und was ich soll. Die meisten zumindest – zu viele.

Ich bin ein lebendiges Paradox: Ich werde zugleich geliebt und verabscheut. Mal bin ich zu weit, mal zu eng, mal zu feucht und zu behaart, mal zu trocken und zu nackt. Ich bin zu alles und zu nichts – ein Paradox eben.

Es scheint, als könnte ich es niemandem recht machen – zu hoch und zu verschieden sind die Erwartungen an mich. Unsere Gesellschaft hat klare Vorstellungen davon, wie ich wann zu funktionieren und mich zu benehmen habe. Sie bestimmt, wo mein Platz ist. Sie bestimmt, welche Räume ich betreten – einnehmen – darf und welche nicht.

Anstatt mich zu fragen, was ich will und was ich brauche, wie ich mich fühle und wer ich denn eigentlich bin (oder sein will), werde ich ignoriert. Ich werde übergangen und missbraucht. Ich werde verteufelt, aufs Übelste beschimpft und ausgelacht. Ich werde ausgegrenzt, aus den Diskussionen über mich ausgeschlossen. Totgeschwiegen. Es kursieren viele Gerüchte über mich.

Ich bin gefangen in einem Netz unzähliger Mythen. Nein, das Hymen ist kein Mythos. Es existiert. Es ist nicht wie Pergament, aber es ist da. Die Jungfräulichkeit hingegen wurde geschaffen, um zu beherrschen. Unzählige Geschichten geistern in den Köpfen der Menschen herum. Trotzdem scheinen alle die Wahrheit über mich – mein Wesen – zu kennen. Alle ausser ich selbst. Merkt ihr nicht, wie lächerlich das klingt?

Schaut mich an, ich bin hier.
Ich bin politisch. Seit jeher. Verzweifelt versucht das Patriarchat mich zu regulieren und zu kontrollieren. Ich sei schwach, dreckig, unvollständig. Es brauche einen Phallus, der mich komplettiert. Mein Wert hängt davon ab, ob, wann und wie ich von ihm penetriert wurde. Der Wert des Menschen, von dem ich ein Teil bin, hängt davon ab. Ich müsse nicht mir selbst, sondern dem Patriarchat gefallen – schön, einladend und still sein. Jungfräulich und rein.

Ich sei da, um zu gefallen, zu befriedigen, zu empfangen. Mir selbst, dem Menschen, zu dem ich gehöre, dürfe ich allerdings nicht gefallen – zumindest nicht zu sehr. Am besten sei es, wenn wir uns gar nicht erst kennenlernen. So ist es nicht überraschend, dass den Menschen oftmals die Worte fehlen, um über mich und mit mir zu sprechen. Das Patriarchat versucht den Diskurs mit mir zu unterbinden, den Diskurs über mich zu dominieren, zu steuern. Ich werde zensiert, tabuisiert und unterdrückt.

All dieser Schmerz, diese Scham – ich kann und will es nicht mehr ertragen. Genug ist genug. Ich bin traumatisiert. Ich lebe in ständiger Angst. Doch bin ich nicht die Einzige. Auch das Patriarchat hat Angst. Es fürchtet sich – vor mir.

Schaut mich an, ich bin hier!

 

Es ist ermüdend, sich ständig rechtfertigen und behaupten zu müssen. Dieser ewige Kampf hinterlässt seine Spuren. Er zehrt an mir. Immerzu muss ich schreien, um dann doch wieder nicht gehört zu werden – von den meisten jedenfalls. Ich bin es leid. Diese Wut. Sie brennt, mein Feuer lodert, Wild, heiss. Ich bin weder dreckig noch unrein. Ich bin vielfältig. Ich bin so vielfältig, wie die Menschen, zu denen ich gehöre. Nichts und niemand muss mich vervollständigen. Ich bin komplett. Ich bestimme, reguliere mich selbst. Ich bin alles andere als schwach, ich bin die starke Sanftmut und sanfte Stärke. Zärtlich und weich – unfassbar kraftvoll. Ich kann Leben ermöglichen, schöpfen. Ich bin mächtig – eine Künstlerin.

Schaut mich an, ich bin hier!

Ich will verstanden werden: Versteht mich! Ich will gehört werden: So hört mir doch endlich zu! Ich will gesehen werden: Schaut mich an! Spieglein, Spieglein an der Wand – ich bin hier. Schaut mich an. Traut euch. Ich weiss, was ich will, was ich kann und was ich brauche. Vertraut mir, spürt mich.

Ich bin hier, war immer hier und ich werde es immer sein. Redet mit mir und über mich. Wie kann es sein, dass zum Teil nicht einmal diejenigen, die mich besitzen, wissen, wie ich aussehe?? Nehmt einen Spiegel, schaut mich an. Tut euch zusammen, zeigt mich und lasst mich frei. Schaut mich an.
– die Vulva

 

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