Gewaltige Empörung

17. Mai 2023

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Von antifaschistischen Gegenprotesten zu Kundgebungen am 1. Mai: Linke Demos stehen oft in der Kritik, gewalttätig zu sein. Wochenlange Empörung in der öffentlichen Debatte ist vorprogrammiert. Doch diese Empörung ist äusserst einseitig.

Text: Noah Pilloud

Illustrationen: Lisa Linder

 

Gewalt ist schlecht. Das zu sagen ist weder besonders kreativ noch erfordert es grossen Mut. Das macht die Aussage aber nicht weniger richtig. Gewalt ist ein integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Das zu erkennen, ist unangenehm. Aber es ist wichtig, um die richtigen Konsequenzen aus der ersten Aussage zu ziehen.
Wer die Gewalt nicht in ihrer Allgegenwärtigkeit erkennt, läuft nämlich Gefahr, sie nur dort zu verurteilen, wo sie am offensichtlichsten ist.

Das mag aus einer moralisch korrekten Überzeugung geschehen, doch hilft es am Ende, die Gewalt zu legitimieren, die so sehr Teil der Gesellschaft geworden ist, dass kaum noch über sie gesprochen wird. Die Rede ist von jener Gewalt, die täglich dafür notwendig ist, die gegenwärtige Gesellschaftsform aufrecht zu erhalten. Um zu verstehen, wie diese Form der Gewalt wirkt, bedarf es zuallererst einer allgemeinen Definition von Gewalt.

Gewalt von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft

Fällt das Wort «Gewalt», stellen sich die Allermeisten wohl eine Form physischer Gewalt vor. Faustschläge, Polizeigriff oder vorgehaltene Waffen gehören zu den prototypischen Vorstellungen von Gewalt. Doch Gewalt wirkt viel häufiger auf subtile, weniger offensichtliche Weise. Um Gewalt in ihrer Ganzheit, einschliesslich der nicht physischen Erscheinungsformen zu begreifen, bedarf es einer breiteren Definition von Gewalt. Der Deutsche Rechtsphilosoph der Weimarer Republik Gustav Radbruch beschrieb Gewalt – grob vereinfacht – als eine Form der Machtausübung, die Individuen oder Gruppen daran hindert, dem eigenen Willen zu folgen oder anderen den eigenen Willen aufzwingt. Diese Form der Gewaltausübung ist in der Gesellschaft allgegenwärtig, ja sie ist systemimmanent.

So sieht das System vor, dass der Staat das Gewaltmonopol innehat und damit das Recht auf Privateigentum verteidigt.
Indem der Staat mittels Gewaltmonopol die Gesetze durchsetzt, zwingt er den Bürger*innen seinen Willen auf. In einem demokratischen Staat ist dieser Wille in der Theorie auch der Wille seiner Bürger*innen und die Gewaltausübung somit kein Problem, beziehungsweise stellt sie keinen aufgezwungenen Willen dar. Doch in der Praxis führen Exklusion und gesellschaftliche Machtsysteme dazu, dass der Wille der gesetzgebenden Macht für Manche immer ein ihr fremder ist.

Die Gewalt, die ausgeübt wird, um unsere Gesellschaftssysteme aufrechtzuerhalten, ist oft unsichtbar

 

Die Allgegenwart der Gewalt geht jedoch über das staatliche Gewaltmonopol hinaus. Täglich wird Menschen ein fremder Wille aufgezwungen oder sie werden daran gehindert, ihren eigenen Willen auszuführen. Verlieren Angestellte ihre Lohnarbeit, weil sie den Arbeitgeber*innen entbehrlich erscheinen oder sie schlicht Lohnkosten senken wollen, ist das eine Form von Gewalt. Werden Mieter*innen aus dem Quartier, in dem sie jahrelang gelebt haben, verdrängt, weil Immobilienbesitzer*innen durch Aufwertung und höhere Mieten eine andere Klientel anziehen wollen, ist auch das eine Form von Gewalt. In beiden Fällen schöpft sich die ausgeübte Macht aus der wirtschaftlichen Stellung der sie Ausübenden.

Werden die Stimmen von TINFA-Personen nicht gehört, weil cis Männer sie als weniger wichtig erachten, ist das eine Form von Gewalt. Getrauen sich queere Menschen nicht, ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität offen zu leben, weil sie die Sanktionen der cisheteronormativen Gesellschaft fürchten, ist auch das eine Form von Gewalt. In beiden Fällen schöpft sich die ausgeübte Macht aus der gesellschaftlichen Stellung der sie Ausübenden.

Protest ist ohne Gewalt nicht möglich

Die oben genannten Beispiele liessen sich beliebig erweitern. Sie zeigen aber eines: Die Gewalt, die ausgeübt wird, um unsere Gesellschaftssysteme aufrechtzuerhalten, ist oft unsichtbar. Zumindest in der Mitte der Gesellschaft. Je weiter weg man sich von dieser Mitte entfernt, umso sichtbarer wird die Gewalt, bis sie an ihren physischen Grenzen – beispielsweise an der EU-Aussengrenze – in ihrer hässlichsten Erscheinung offenbar wird. Wenn Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken oder durch Push-Back-Aktionen dem sicheren Tod überlassen werden und das als Notwendigkeit des Systems legitimiert wird, ja dann ist das Gewalt, die ausgeübt wird, um die gegenwärtige Gesellschaftsform aufrechtzuerhalten.

Protestbewegungen, die sich gegen einzelne Aspekte oder das gewalttätige System als Ganzes zur Wehr setzen, wählen oft selbst die eine oder andere Form der Gewalt. Äussert sich das in zerbrochenen Schaufensterscheiben, versprayten Hauswänden, brennenden Mülltonnen oder Angriffen auf Repressionsorgane, ist der mediale und gesellschaftliche Aufschrei gross. Man muss die Gewalt nicht gutheissen, man kann sie zurecht als fehlgeleitet bezeichnen. Doch Gewalt immer und fast ausschliesslich dann zu verurteilen, wenn sie in dieser Form in Erscheinung tritt, ist ein Zeugnis von Heuchelei, Doppelmoral und Kleingeist.

Anstatt sich auf das kleinbürgerliche Märchen der gewaltlosen, heilen Welt einzulassen, braucht es eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema.

Oft sind es gerade jene, denen die Anliegen des Protests ebenso am Herzen liegen, die sich am lautesten über die Gewalt echauffieren. Dann werden Rufe nach gewaltfreien Formen des Protests laut. Doch gibt es das überhaupt? Ist eine Sitzblockade, ist ein Streik gewaltfrei? Liegt der Sinn dieser Protestformen nicht gerade darin, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen? Selbstverständlich lässt sich das nicht mit Ausschreitungen und Sachbeschädigung gleichstellen. Doch unter der gegebenen Definition lassen sich beinahe alle Protestformen, auch jene, die gemeinhin als gewaltfrei gelten, als mehr oder weniger gewaltvoll beschreiben.

Gewalt ist also sowohl im banalen Alltag des Systems wie auch in den Protestformen dagegen stets auf die eine oder andere Weise zugegen. Weil aber nur ein Teil der Gewalt in der Öffentlichkeit diskutiert und verurteilt wird, entsteht ein einseitiger Diskurs und schliesslich das Gefühl, wir würden in einer grundsätzlich gewaltfreien Welt leben. Wird Gewalt dann in Form von Protesten sichtbar, erscheint sie als Zivilisationsbruch. Anstatt sich auf das kleinbürgerliche Märchen der gewaltlosen, heilen Welt einzulassen, braucht es hingegen eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema: Woher kommt die Gewalt? Wer übt sie aus, wer reproduziert sie? Wann ist wo welche Form der Gewalt unter Umständen vertretbar? Wann ist sie es nicht? Und vor allem: Wem nützt die Empörung?

Sprechen wir also weniger über umgeworfene Stühle, eingeschlagene Fensterscheiben, brennende Mülltonnen und geworfene Flaschen alle paar Monate. Sprechen wir mehr über die Gewalt, die täglich im Verborgenen geschieht. Sprechen wir darüber, wo wir selbst diese Gewalt ausüben oder in ihrer Ausübung zumindest Kompliz*innen sind. Bis ein Leben frei von Gewalt eine Möglichkeit für alle ist und nicht für eine gesellschaftliche Mitte, die kontinuierlich die Augen vor der systemimmanenten Gewalt zu distanzieren und sie gar nicht mehr wahrnimmt.

 

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