Sex, Drugs und Gebärdesprache

10. März 2023

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Wo viele Filme über Taube Menschen in eine ähnliche Richtung gehen, sticht Plemja (2014) heraus. Wir als Hörende werden herausgefordert, den Film ohne uns bekannte Sprachkanäle zu verstehen. Aber so können wir auch neue Perspektiven entdecken.

Bei fremdsprachigen Filmen bin ich in der Regel auf Untertitel angewiesen. Ohne sie ist es oft schwierig zu verstehen, was auf dem Bildschirm passiert. So sehr ich es auch liebe, internationale Filme zu sehen, habe ich manchmal aber einfach keine Lust, diesen Extraaufwand auf mich zu nehmen. Einen deutschen oder englischen Film zu schauen, bedeutet dagegen, dass ich mich viel weniger anstrengen muss.

«This film is in sign language. There are no translation, no subtitles, no voice-over.»

 

Manchmal hat man diese Möglichkeit aber nicht. Film ist ein audiovisuelles Medium und benutzt somit – rate mal – auditive und visuelle Inputs, um ein Gesamtwerk zu erschaffen. Wenn aber einer dieser Kanäle nicht zugänglich ist, geht die Hälfte des Films verloren. Und da kommen die Untertitel wieder ins Spiel. Wenn man schwerhörig oder Taub ist, gibt es bei vielen Filmen die Option audiobeschreibende Untertitel anzuzeigen. Neben einer Übersetzung oder Transkription der Dialoge, wird auch auf andere auditive Inputs verwiesen, zum Beispiel, dass gerade <dramatische Musik> erklingt.

Doch muss ein Film audiovisuell sein? Ist es nicht möglich, einen dieser beiden Kanäle zu umgehen? Wenn man keine Bilder benutzt, bekommt man ein Hörspiel. Wenn man keine gesprochene Sprache einfügt, bekommt man: Plemja.

Die Lücken füllen

Plemja, ukrainisch für Sippe oder Stamm, ist ein ukrainischer Film von Myroslaw Slaboschpyzkyj aus dem Jahre 2014. Der englische Titel lautet deshalb The Tribe. Ganz zu Anfang des Films wird folgender Text eingeblendet:

«This film is in sign language. There are no translation, no subtitles, no voice-over.»

Das heisst, es wird keine Art von gesprochener Sprache verwendet, und es werden auch keinerlei Bemühungen seitens der Filmmachenden gemacht, das Gesprochene für ein hörendes Publikum verständlich zu gestalten. Als ich Plemja zum ersten Mal sah, war ich es, der mit einer ganzen Dimension des Films konfrontiert war, die ich zuerst nicht verstand. Ohne Untertitel blieb mir keine andere Wahl, als ukrainische Gebärdensprache zu lernen.

Oder den Film einfach so schauen. Ich habe den Film einfach so gesehen. Und ihn trotzdem verstanden.
Ich habe gemerkt, wie ich quasi gezwungen wurde, mich auf alle visuellen Hinweise zu konzentrieren, die ich bekommen konnte. Obwohl ich keine der Dialoge in Gebärdensprache verstand, konnte ich gut mitverfolgen, worum es in der Szene jeweils geht.

In Plemja wird die Frage der Inklusion komplett umgangen.

 

Das hat etwas sehr Interessantes mit sich gebracht: Ich habe angefangen, selbst Sätze einzufügen. Ich habe langsam angefangen, die Lücken zu füllen und wurde mit der Zeit immer übermütiger. Öfters habe ich mir ganze Dialoge ausgedacht, nur um mir in der nächsten Szene gleich wieder zu widersprechen. Aber auch diese Missverständnisse haben mich den Charakteren nur näher gebracht.

Obwohl es keine gesprochene Sprache gibt, fiel mir auf, dass der Film alles andere als still ist. Es gibt zwar keinen Soundtrack, keine <dramatische Musik>, dafür aber alle möglichen Geräusche im Hintergrund. Das Atmen der Schauspieler*innen, das Stöhnen nach einem Faustschlag in den Magen, die Motoren der Lastwagen. Trotz dieser Geräusche ist der Film in erster Linie eine Einladung, die Welt und soziale Interaktionen aus einer Tauben Perspektive zu betrachten.

Es geht nicht um Inklusion

Aber worum geht es in Plemja überhaupt? Der Film erzählt die Geschichte eines Jungen, der in ein Internat für Gehörlose kommt. Dort wird er sofort in die soziale Dynamiken der Schule hineingezogen, und in die Gang aufgenommen, die das Leben im Internat mit Gewalt und Brutalität kontrolliert. Die Gang ist kriminell: Sie dealt Drogen und zwingt Mitschülerinnen in die Prostitution.

Die Themen und Probleme, die im Film angesprochen werden, sind seine grosse Stärke und heben ihn stark von anderen Filmen, in denen es um Gehörlosigkeit geht, ab. Mittlerweile gibt es eine Handvoll Filme, die sich um die Taube Gemeinschaft drehen. Neuere Filme wie Coda (2021), Sound of Metal (2020), aber auch La Famille Bélier (2014) und Jenseits der Stille (1996). Doch beschäftigen sich diese alle zumindest teilweise mit der Interaktion zwischen der normativen, hörenden Welt und der Tauben Gemeinschaft. Inklusion in die Mehrheitsgesellschaft ist immer ein Thema. So ähneln sich irgendwie diese Geschichten auch alle ein wenig.

Das Atmen der Charaktere, das Stöhnen nach einem Faustschlag im Magen, die Motoren der Lastwagen.

 

In Plemja wird die Frage der Inklusion komplett umgangen. Es geht nicht darum, Taube Leute zu glorifizieren. Sie sind genauso komplex wie normative Leute und haben daher die gleiche Kapazität für komplexe Leben und das Anrecht auf komplexe Geschichten. Taube Charaktere können sowohl Protagonist*innen als auch Antagonist*innen sein, sie können gut, sowie auch schlecht handeln. Natürlich sind Botschaften von Akzeptanz erwünscht, aber es sind nicht die einzigen Geschichten, die man über Taube Leute erzählen kann. Stattdessen kann man es auch Plemja handhaben und sagen: wir drehen einfach einen Kriminalfilm.

 

Text: Timothy Schneider

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