«Eine Prise Glitzer hat noch nie geschadet»

Foto: Ronnie Zysset

17. Januar 2023

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Im Gespräch mit der bärner studizytig erzählt Michel von Känel wie Kitsch mit Drag zusammenhängt und wie diese queere Kunstform an sich funktioniert.

 Michel, was ist eigentlich Drag? Ein Hobby, eine Philosophie, ein Lifestyle, eine Identität, eine Rebellion?

Drag kann alles sein. Drag-Artists spielen mit «Geschlecht» und das kann auf ganz vielen Ebenen passieren: Indem mensch an Shows auftritt oder dann im stillen Kämmerlein zuhause beim Stylen und Schminken. Drag kann aber auch politisch oder aktivistisch sein – Drag-Queens waren schon immer Galionsfiguren der Pride. Drag ist ein Sammelbegriff für ganz viele unterschiedliche Untergruppen von Drag-Kunst: Dazu gehören Drag-Queens und Drag-Kings, es gibt aber auch Drag-Artists, die sich nicht in der binären Struktur King-Queen verordnen. Für mich persönlich ist Drag in erster Linie eine Kunstform.

Und wieso nennt sich diese Kunstform «Drag»?

Es gibt zwei Theorien, woher der Begriff stammt. Die bekannteste kommt vom Shakespearean Theatre. Bei Shakespeare durften nur Männer im Theater mitspielen. Da er aber auch Frauenrollen in seinen Stücken hatte, sagt man, dass er in seinen Notizen zu diesen Rollen jeweils den Ausdruck «Drag» notiert habe, was bedeutete «dressed as a girl». Die andere Theorie kommt vom Wort «drag» selbst – was so viel wie schleppen bedeutet –, weil Drag-Queens oft lange Kleider tragen, die sie hinter sich herschleppen.

Ein Mann kann auch feminin sein und ein Kleid tragen.

 

Drag wird in der Regel als eine Kunstform verstanden, die von als männlich gelesenen Personen gemacht wird. Du hast gesagt es gibt auch Drag-Kings?

Zum einen gibt es Frauen, die Drag-Queens sind. Also Frauen, die sich nach wie vor feminin präsentieren, aber ihre femininen Attribute übertreiben. Es gibt aber auch Frauen, welche sich als Drag-Kings verkleiden und männliche Stereotype und Gesellschaftsvorstellungen aufgreifen und mit diesen spielen.

 Also können alle Menschen Drag machen?

Drag ist überwiegend eine queere Kunstform und findet vor allem in queeren Kontexten statt. Sie kommt aber immer mehr auch in den Mainstream. Drag kann von allen gemacht werden: Mann, Frau, non-binäre Personen etc. Da gibt es keine Grenzen. Es gibt auch straighte Drag-Queens, da kenne ich selbst ein paar, die das machen.

 

Foto: Michael Schmid

 

Drag ist ein Ausdruck von Geschlecht. Wie unterscheidet sich das von Geschlechtsidentität?

Ich zum Beispiel definiere mich ganz klar als Mann. Im Drag kann ich meine feminine Seite nach aussen zeigen, aber nicht meine Geschlechtsidentität. Drag ist jedoch ein Ausdruck davon, wie ich Geschlecht wahrnehme: Für mich muss ein Mann nicht die typischen männlichen Attribute haben. Ein Mann kann für mich auch feminin sein, kann ein Kleid tragen. Drag und die Geschlechtsidentität können sich allerdings auch gegenseitig beeinflussen. Es gibt Artists, die durch Drag herausgefunden haben, dass sie lieber eine Frau wären und im falschen Körper sind. Es kann sowohl helfen, die eigene Geschlechtsidentität als auch eigene Stereotypen zu hinterfragen.

 

Die Gesellschaft hat bestimmte Erwartungen davon, wie eine Frau zu sein hat.

 

Du beschreibst Drag als übertriebene Form von Geschlechtsperformances. Ist es auch ein «sich darüber lustig machen»?

Oft wird fälschlicherweise angenommen, Drag habe einen misogynen Touch. Dabei ist es eine Hommage an die Femininität und die Frauen an sich. Queere Männer werden oft auf Femininität reduziert, welche in der Gesellschaft wiederum oft als schwach angesehen wird. Drag kehrt dies um und definiert sie als Stärke, die es zu zelebrieren gilt. Drag will der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Denn die Gesellschaft hat bestimmte Erwartungen davon, wie eine Frau auszusehen hat: sie muss immer hohe Schuhe tragen, eine Sanduhrfigur haben und so weiter. Wir Drag-Artists versuchen an dieses Ideal einer Frau heranzukommen, indem wir ein Korsett tragen, uns einen künstlichen Hintern mit Schaumstoff basteln oder Silikonbrustplatten kaufen. So versuchen wir das, was als Ideal einer Frau verstanden wird, zu imitieren, obwohl dies absolut unrealistisch ist und genau das wollen wir auch aufzeigen.

 

Wir wollen dieses «too much»!

 

Und wie bist du dazu kommen, Drag zu machen?

Ich bin in einem kleinen Dorf im Aargau aufgewachsen, in Teufenthal. Dort kannte man Drag natürlich nicht. Aufmerksam darauf wurde ich erstmals durch RuPaul’s Drag Race, ich konnte mir aber noch nicht vorstellen, es selbst zu machen. Ein Freund von mir, der damals Drag machte, hat mich mal geschminkt. Da habe ich gemerkt, dass ich mich eigentlich sehr wohl in dem Make-Up fühle.

Dann habe ich einfach alles gekauft, was ich zum Start brauchte und geübt, geübt, geübt. Relativ schnell kam dann das Heaven Drag Race auf mich zu und fragte mich an, ob ich Lust zum Mitmachen hätte. Dadurch kam dann der Ball ins Rollen und seither werde ich immer wieder für Shows angefragt.

Was nimmst du für dich selbst aus deinen Performances mit in den Alltag?

Da Drag oft von femininen Personen gemacht wird, die in der Gesellschaft immer für ihre Weiblichkeit abgewertet werden, ist an diesem Abend genau das Gegenteil der Fall. Genau das, wofür du jeden anderen Tag der Woche belächelt wirst, wird an diesem Abend gefeiert. Und daraus schöpft man viel Energie, die man in den Alltag mitnehmen kann. Auch, dass dies nicht nur bei einem selbst passiert, sondern, dass auch bei den Zuschauer*innen etwas ausgelöst wird, das treibt einen an weiterzumachen.

Wie können wir uns eine Drag-Show vorstellen?

Das ist ganz unterschiedlich. Drag-Shows sind sehr verschieden aufgebaut. Man kann es sich ein wenig vorstellen wie ein Varieté. Wenn ich an einer Varieté auftrete, kann es sein, dass neben mir noch Burlesque-Tänzer*innen, Feuerkünstler*innen oder Akrobat*innen dabei sind. Es gibt aber auch Shows, bei denen wirklich nur Drag-Artists auftreten, wobei jede wieder eigene Talente mitbringt, zum Beispiel singt,  tanzt oder auch Comedy macht. Die Verbindung zwischen den einzelnen Auftritten ist dann Drag als Ästhetik. In Zürich ist es oft so, dass eine queere Party stattfindet und Künstler*innen zum Beispiel um zwei Uhr morgens auftreten und das Highlight des Abends bilden.

Wie sieht so ein typischer Showabend bei dir aus?

Die Vorbereitung fängt bereits zuhause an: Koffer packen, die Show noch einmal üben, die Songs zusammenstellen… Ich nähe oft auch meine Kostüme selber.  Dann fahre ich an den Auftrittsort. Ich schminke mich erst vor Ort, weil es in der Schweiz einfach immer noch zu riskant ist, im ÖV in Drag herumzufahren. Das Schminken geht dann jeweils ca. zweieinhalb bis drei Stunden. Dazwischen hat man noch einen Soundcheck, Lichtcheck. Nach der Show bleibe ich meistens noch ein wenig da und mische mich unter die Leute, feiere mit ihnen, wenn es eine Party ist.

Du nennst dich als Drag-Queen «Paprika». Wer ist «Paprika» und wofür steht sie?

«Paprika» ist für mich etwas zwischen einer Kunstfigur und mir selbst. Ich sage immer, dass «Paprika» der Name ist, den ich meiner femininen Seite gegeben habe. Und diese kommt als «Paprika» noch 100mal stärker zum Ausdruck, als wenn ich als Michel unterwegs bin. Ich schlüpfe also nicht in eine Rolle, ich spiele als «Paprika» nicht jemand anderes.

 

Es ist eine Identität, die schon in mir drinnen ist, und die ich durch «Paprika» nach aussen trage.

 

Es ist eine Identität, die schon in mir drinnen ist, und die ich durch «Paprika» nach aussen trage. Es gibt aber schon gewisse Unterschiede zu meinem persönlichen Charakter. So bin ich sehr introvertiert, was man vielleicht manchmal nicht so merkt [schmunzelt]. Im Gegensatz dazu wirke ich als «Paprika» extrem extrovertiert. Aber auch der Gang und die Haltung meiner Person verändern sich, wenn ich als «Paprika» unterwegs bin, weshalb ich auch von den Menschen ganz anders wahrgenommen werde.

Aber «Paprika» selbst schlüpft auf der Bühne in Rollen. Welche Geschichten erzählen deine Performances?

Es geht mir in den Performances darum, Motive aus der Kindheit aufzugreifen und Wünsche zu erfüllen. Es sind oft Wünsche, die viele queere Personen hatten. Gerade das Motiv der Meerjungfrau ist bei vielen präsent, weil wir uns von der Gesellschaft oft nicht akzeptiert fühlten und deshalb in eine Fabelwelt flüchteten. Für solche Wesen wie Meerjungfrauen konnten wir uns immer begeistern und uns mit ihnen identifizieren, weil sie eben auch anders sind.

Wir spüren, du machst das alles mit grosser Leidenschaft. Gibt es aber auch negative Aspekte in der Drag-Szene?

Ja, es gibt natürlich auch negative Aspekte. Als Drag-Queen wirst du in der Community oft schlecht bezahlt, weil du als Selbstverständlichkeit angesehen wirst. Trittst du hingegen in einem «hetero-Place» auf, verdienst du viel mehr. Ich mache es nicht wegen dem Geld, hauptberuflich bin ich Lehrer. Aber für Künstler*innen, die davon leben wollen, ist das ein negativer Aspekt. Innerhalb der Szene ist man zudem immer noch mit gewissen Stereotypen konfrontiert.

 

Foto: Ronnie Zysset

 

Was für Stereotype?

Sobald man Drag-Queen ist, wird zum Beispiel davon ausgegangen, dass man automatisch auch eine sehr feminine Person ist. Aber die wenigsten Drag-Queens, die ich kenne, sind so. Oder man wird auf Drag reduziert. Ich habe Kollegen, die als Drag-Queen gefeiert sind und wenn sie dann als «Typen» unterwegs sind, gefragt werden, weshalb sie nicht in Drag herumlaufen. Dabei geht vergessen, dass es auch noch eine Person hinter dieser Kunstfigur gibt.

Wie reagieren deine Schüler*innen darauf, dass du Drag machst?

Meine Schüler*innen haben noch nie negativ reagiert. Ich denke, sobald das Ganze enttabuisiert oder entmystifiziert wird, ist es meistens überhaupt kein Problem mehr.

Wenn, dann erlebe ich eher, dass Schüler*innen anderer Klassenlehrpersonen einen Kommentar machen. Meistens sind es aber nicht schlimme Sachen, höchstens ein bisschen Provokation, irgendwer ruft mir «Paprika» hinterher oder so. Aber ich habe auch schon Anderes gehört, «hey du gehörst vergast» zum Beispiel. Es ist keine heile Welt, aber ich kann das eigentlich gut abschirmen und mir selbst sagen: hey, diese Leute kennen mich halt einfach nicht, haben Angst vor dem, was ich mache, weil sie gar nicht wissen, was ich mache und darum finden sie das komisch.

 

Ich wäre schon mal sehr zufrieden, wenn die Mehrheit wüsste, was der Unterschied zwischen Sexualität und Geschlechtsidentität ist.

 

Belastet dich das?

Schon. Aber gewissermassen verstehe ich das sogar. Wenn ich beispielsweise zurückdenke an meine Jugend. Ich fand Drag eigentlich auch immer etwas Komisches und habe mich gefragt, weshalb sich ein Mann denn so verkleiden muss. Und als ich mich dann frisch geoutet hatte, habe ich mich gefragt, weshalb wir uns unbedingt immer so öffentlich mit diesen Regenbogenflaggen zeigen müssen, ob das wirklich sein muss. Das ist internalisierte Homophobie, die ich selbst zuerst überwinden musste. Ich sehe es als Lehrer nun als meine Aufgabe, die Kinder zwar nicht politisch zu beeinflussen, aber ihnen doch ein bisschen die Augen zu öffnen. Das Verheimlichen von queeren Identitäten ist noch viel zu oft der Fall, ich will das aufbrechen und normalisieren – obschon ich normal in diesem Kontext immer ein schlimmes Wort finde. Aber ihr wisst, was ich meine (lacht).

 

Das Verheimlichen von queeren Identitäten ist Gang und Gebe.

 

Inwiefern willst du Augen-öffnen?

Bei Vorstellungsrunden erzähle ich, dass ich Drag mache. Es sind nicht alle begeistert davon, dass das in die Schule hineinkam. Aber ich finde es wichtig. Es gibt viele queere Schüler*innen, die sich mir anvertraut haben. Und das während andere Lehrpersonen überhaupt nicht wissen, dass sie queer sind. Die Schulen müssen besser auf diese Kinder und queere Personen generell eingehen, indem sie aktiv Massnahmen ergreifen, um ein entsprechendes Umfeld zu schaffen. Oft sagen Schulen: «Wir akzeptieren alle». Aber das reicht nicht.

Hast du konkrete Vorschläge für solche Massnahmen?

Ja. Es ist beispielsweise sehr wichtig, dass die angehenden Lehrpersonen für dieses Thema sensibilisiert werden. Ich wäre schon mal sehr zufrieden, wenn die Mehrheit wüsste, was der Unterschied zwischen Sexualität und Geschlechtsidentität ist.

 

Michel während dem Interview mit der bsz

 

Jetzt kommen wir noch auf unser Jubiläumsthema zu sprechen: Kitsch. Wie verstehst du Kitsch und was hat das mit Drag zu tun?

Kitsch täuscht etwas vor. Kitsch ist das sehnsüchtige Streben nach einem Ideal, das es gar nicht gibt. Das hat immer etwas Künstliches. Bei Drag ist es ähnlich: Drag täuscht auch etwas vor, was nicht existiert. Ich kann zum Beispiel so tun als wäre ich eine Prinzessin, möglichst hübsch und super reich.

Vor allem aber ist Kitsch für mich Kunst. Und das kommt ja immer auch auf die Interpretation an, für eine Person ist das (noch) Kunst, für die andere (schon) Kitsch. Genau so ist Drag «too much» und überdramatisch für einige, berührt aber andere genau am richtigen Ort. Aus Kitsch kann so plötzlich eine Message entstehen. Allein schon die Regenbogenfahne ist unglaublich kitschig. Aber dahinter steckt eine grosse Symbolik

 Also spielt Drag damit, «too much» zu sein und als kitschig abgestempelt zu werden?

Ja, es geht genau darum, ein bisschen zu viel zu sein. Denn das waren queere Personen schon immer für die Gesellschaft: zu bunt, zu maskulin/feminin. Es waren diese Personen, die «zu» waren, denen wir heute unsere Rechte verdanken.

Würdest du auch sagen, dass das eine Form von Empowerment und Reclaiming ist?

Definitiv! Drag entstand im Ball-Room, dort haben Schwarze den Mittelstand imitiert, indem sie sich beispielsweise als Politiker*innen verkleideten. Es ging dabei immer um ein Reclaiming von Etwas, das nicht zugänglich ist.

Die Welt braucht mehr Kitsch!

 

Also würdest du sagen, dass Kitsch gesellschaftliche Grenzen sprengen kann?

Ja, auf jeden Fall.

Siehst du eine Grenze, wo Kitsch nicht mehr angebracht ist und du sagen würdest «das ist mir zu kitschig»? Ist auch für dich irgendwann ein «too much» erreicht?

Natürlich gibt es auch schlechten Geschmack [lacht]. Ich finde Kitsch als Statement sehr schön. Aber immer Glitzer im Gesicht zu tragen, finde ich selbst nicht so ästhetisch. Glitzer gehört jedoch zur queeren Kultur und kann in diesem Zusammenhang als Empowerment wirken. Bei einer Pride finde ich beispielsweise, dass es kein «too much» gibt, weil wir ja genau diese Perspektive bekämpfen wollen. Im Privatleben hingegen, wenn ich beispielweise meine Wohnung einrichte, kenne ich ganz klare strikte Grenzen (lacht).

Braucht unsere Gesellschaft mehr Kitsch? Und wenn ja, welche Rolle spielt dabei Drag?

Ja, die Welt braucht mehr Kitsch. Da die Welt vor allem in Richtung grau, Beton und Asphalt geht, ist vielleicht Kitsch genau das, was einen Gegenpol setzen kann. Auch gegen den Minimalismus-Trend und die Geradlinigkeit. Und ich finde, es braucht diesen Gegenpol in der Gesellschaft. Eine Prise Glitzer hat noch nie geschadet… [lacht]​

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