«Mir scheint die Debatte in Europa manchmal absurd»

Interview_Bolliger

Monika Bolliger (r.). Bild: zvg

13. März 2016

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Monika Bolliger ist NZZ-Nahostkorrespondentin und seit Anfang dieses Jahres in Beirut im Libanon stationiert. Der bärner studizytig erzählt sie von ihren persönlichen Erfahrungen, von der Arbeit als Korrespondentin im arabischen Raum und wirft einen Aussenblick auf die Schweiz. 
Das Interview wurde per E-Mail geführt.

Frau Bolliger, seit Anfang dieses Jahres berichten Sie aus Beirut, zuvor waren Sie in Kairo und Jerusalem stationiert. Bedeutet so ein Standortwechsel mehr als Zügelstress?
Man muss sich in ein neues Umfeld integrieren, neue Kontakte knüpfen. Das gilt für die Arbeit wie für das Private. Für mich ist Beirut privat wie beruflich der ideale Standort. Es ist nahe an Syrien, geographisch und kulturell. Weil ich in Syrien gelebt habe, liegt es mir sehr am Herzen. Ich fühle mich in der Levante zuhause und kann auf früheren Kontakten und Freundschaften aufbauen. Auch bei der Berichterstattung ist momentan der Fokus auf Syrien.

Nach Ihrem Wegzug aus Jerusalem hat sich die Israel-Korrespondenz der NZZ merklich verändert. Welchen konkreten Einfluss haben Korrespondierende auf die Berichterstattung?
Traditionell bestimmen bei uns die Korrespondenten, welches Thema sie wie gewichten, in Absprache mit der Redaktion. Manchmal wünscht auch die Redaktion ein bestimmtes Thema, und manchmal, jedoch eher selten, werden Vorschläge abgelehnt.

Manchmal fällt es mir nicht leicht, sachlich zu bleiben, weil mir das Elend, das die Region beherrscht, persönlich nahe geht.

Der Libanon ist als Nachbarland direkt vom syrischen Konflikt betroffen und beherbergt eine enorme Zahl an Flüchtlingen. Wie nehmen Sie die Situation in Beirut wahr?
Die Situation der Syrer ist prekär, sie haben keine Arbeitsbewilligungen und ihr Aufenthaltsstatus ist unsicher. Die Libanesen beklagen sich, dass ihr Land überlastet sei – verständlicherweise, denn jeder Vierte in Libanon ist heute Syrer. Dabei sind nicht nur die überlastete Infrastruktur, der Druck auf dem Arbeitsmarkt oder die Mietpreise ein Problem, sondern auch das fragile politische System Libanons und die Möglichkeit, dass der syrische Krieg auch Libanon in den Abgrund reisst. Zugleich wollen die Machthaber hier keinen neuen Bürgerkrieg, und auch die ausländischen Mächte, die in Libanon Einfluss haben, wollen das Land soweit stabil halten. Bisher ist die Situation erstaunlich ruhig geblieben.

Wie fliesst das Thema Sicherheit in Ihren Lebensalltag ein?
Ich verhalte mich in Beirut nicht viel anders als in Zürich – ausser, dass ich nicht allein in der Nacht in irgendwelche Vororte gehen würde, die ich nicht kenne. Und natürlich gibt es Gebiete aus-serhalb der Stadt, in die man nicht einfach so allein hinfährt. Aber im Grossen und Ganzen ist Beirut relativ sicher. Man muss immer daran denken, dass die Wahrscheinlichkeit, in einem Verkehrsunfall umzukommen, wesentlich grösser ist als die, Opfer eines Bombenanschlags zu werden.

Unterscheiden Sie bei Ihren Recherchen zwischen persönlichen und beruflichen Erfahrungen?
Persönliche Beziehungen dürfen nicht die Berichterstattung bestimmen. Aber manche Dinge über ein Land lernt man nur durch Freundschaften mit seinen Bewohnern. Manchmal fällt es mir nicht leicht, sachlich zu bleiben, weil mir das Elend, das die Region beherrscht, persönlich nahe geht, nicht zuletzt, weil Freunde von mir direkt betroffen sind.

Gibt es ein Erlebnis, das Sie bei Ihren Recherchen in Jerusalem, Kairo oder Beirut geprägt hat?
Mich beeindrucken die vielen jungen Syrer, die ich in den letzten Jahren interviewt habe. Was sie durchgemacht haben und welchen Mut sie an den Tag legten – das kann man sich in der Schweiz gar nicht vorstellen. Eine Syrerin erzählte mir von den ersten friedlichen Protesten in Damaskus, die sie als die glücklichsten Momente ihres Lebens bezeichnete. Dann erwähnte sie fast beiläufig, sie habe später, als die Gewalt zunahm, Blutkonserven in die Vororte geschmuggelt. Denn in den Spitälern riskierten die Regimegegner, von den Sicherheitskräften verhaftet und getötet zu werden. Das war 2012, sie war damals erst 23. Ich habe unglaublichen Respekt für diese Leute. Umso unerträglicher finde ich es, wenn sogenannte Linke, die in Europa in der bequemen Stube sitzen, Asads Regime verharmlosen, weil das in ihre Weltsicht passt.

«Die einen sehen in den Flüchtlingen einen Haufen von Terroristen und Vergewaltigern, die anderen reden naiv jedes Problem klein.»

In der Schweiz ist der syrische Konflikt täglich in den Medien. Heiss diskutiert werden insbesondere die Folgen der Zuwanderung. Wie nehmen Sie diesen Diskurs von aussen wahr?
Ich merke, dass ich sehr weit weg bin. Mir scheinen die Debatten in Europa manchmal absurd aus der Perspektive von hier, wo so viel mehr Flüchtlinge sind und das Land trotz allen Warnrufen nicht kollabiert ist. Aber ich verstehe schon auch die Schwierigkeiten und Ängste. Der Diskurs ist extrem emotional aufgeladen, und das verwischt den Blick auf die Realität. Die einen sehen in den Flüchtlingen einen Haufen von Terroristen und Vergewaltigern, die anderen reden naiv jedes Problem klein. Man sollte genauer hinschauen. Die Menschenströme Richtung Europa sind eine Herkulesaufgabe, die sich nur bewältigen lässt, wenn alle konstruktiv nach Lösungen suchen. Und man sollte mehr mit Flüchtlingen reden statt über sie.

Verfolgen die Menschen in Jerusalem, Kairo und Beirut auch, wie in Europa mit der Krise umgegangen wird? Wie wird das wahrgenommen?
Die einen finden, das privilegierte Europa sollte mehr tun, klagen über Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, sagen, der Westen sei mitverantwortlich für die katastrophale Lage im heutigen Nahen Osten. Andere meinen, Europa halse sich nur Probleme auf.

Unterdessen scheinen die Berichterstattungen aus Libyen und Ägypten in den Hintergrund gerückt zu sein. Konkurrieren die Konflikte im arabischen Raum um Medienpräsenz?
In Libyen und Ägypten dreht sich vieles im Kreis. Aber ich finde vor allem, Jemen erhält zu wenig Aufmerksamkeit. Jemen ist ein humanitäres Desaster. Jemen interessiert die Leute kaum, ich merke das, wenn ich es auf Twitter erwähne. Es ist kompliziert und weit weg. Weil das Land kaum mehr zugänglich ist und es keine grösseren Entwicklungen gibt, die man als «Neuigkeiten» also News einstufen könnte, bleibt es schwer, «Aufhänger» für Artikel zu finden. Das klingt zynisch, aber so funktionieren News – es muss eine relevante, neue Entwicklung sein. Ausserdem ist es ist sicher auch so, dass die Leute übersättigt sind und nicht jeden Tag von dieser Region hören wollen – und dass wir auch oft nicht die Kapazitäten haben, alles zu berücksichtigen. All das wäre natürlich Anlass, die Funktionsweise der Medien grundsätzlich zu hinterfragen.

«Tätlich belästigt wurde ich bisher nur einmal im Leben – in Paris, von einem mitteleuropäisch aussehenden Mann.»

Die Kölner Silvesternacht führte unter anderem zur Diskussion über «die Stellung der Frau im arabischen Raum». Was für Erfahrungen machen Sie als junge, westliche Frau in der Region?
Ich erlebe im persönlichen Umgang immer wieder Sexismus, mehr als in Europa, aber auch dort gibt es reichlich. Ägypten war sehr unangenehm. Auf der Strasse wurde ich permanent angesprochen und angestarrt. In Beirut gehe ich dagegen entspannt aus dem Haus. Überhaupt empfinde ich es in der Levante viel angenehmer als in Ägypten. Der Umgang ist respektvoller. Tätlich belästigt wurde ich bisher nur einmal im Leben – in Paris, von einem mitteleuropäisch aussehenden Mann. Die Diskussionen nach Köln fand ich etwas hysterisch.

Nehmen Sie an den nationalen Abstimmungen vom 28. Februar teil? (Anm. d. Red.: Das Interview wurde vor den Wahlen geführt.)
Es ärgert mich wahnsinnig, dass ich das im Moment nicht kann. Mein neuer Wohnort wurde nach dem Umzug von Kairo nach Beirut nicht rechtzeitig registriert. Darum wurden meine Abstimmungsunterlagen nach Kairo geschickt. Ob sie dort ankamen, ist noch eine weitere Frage – die letzten habe ich nicht erhalten. Ich hoffe, dass genug Leute ihre Verantwortung wahrnehmen und nein stimmen. Alles andere wäre ein Desaster.

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