Lieber Experte #3
Illustration: Tobias Bolliger, www.tobiasbolliger.ch
Sibylle (25) aus Baden (AG) fragt:
Wieso trägt man(n) Krawatte?
Liebe Sibylle,
Wendest du dich nicht auch ensetzt ab, wenn dir auf der Strasse ein Mann mit entblösster Knopfleiste entgegenkommt? Nein? Ich auch nicht. Aber es gab mal eine Zeit, in der dieser Anblick selbst sittlich gefestigten Menschen die Schamesröte ins Gesicht getrieben hat. Also sagte man sich: «Da muss etwas drüber, über das widerliche Ding!» Denn die Knopfleiste des Mannes war einst das, was der Nippel heute für Facebook ist: Eines jener berüchtigten «No-Gos»s (der Scheinanglizismus «No-Go» ist übrigens auch ein No-Go, tamisiechnomau!). Andere Zeiten, andere Sitten, möchte man sagen. Mit dem Unterschied, dass die Krawatte eine jener autoaggressiven Modeerscheinungen ist, die auf unerklärliche Weise bis heute überlebt haben. Selbst für den nicht gerade regelmässig krawattierten Experten ist der Windsorknoten als Kulturtechnik irgendwo zwischen dem Öffnen eines Bieres mit einem Feuerzeug und dem fachgerechten Vermummen mit einer Kufiya zu verorten – irgendwann kommt der Moment, in dem man verdammt blöd aus der Wäsche schaut, wenn man ihn nicht beherrscht. Von uns Männern erwartet «man» in gewissen Milieus und zu gewissen Anlässen, dass wir unsere Hemden bis zum Adamsapfel zuknöpfen und uns dann einen Strick um den Hals binden. Einen praktischen Nutzen hat dieses Kleidungsstück nicht. Nicht einmal ein Birebitzeli. Es muss wohl ein gesellschaftlich-symbolischer Imperativ sein, der diese Erwartungshaltung an die Männerwelt formuliert. Was diesen betrifft, hat der Experte zwei Theorien zur Hand. Die erste wurde vom (sehr empfehlenswerten) Youtuber lindybeige formuliert: Was wäre die Krawatte für Aliens, die auf der Erde vorbeischauten? Eine bewusst zur Schau gestellte Angriffsfläche, eine Herausforderung, mit der Alphatierchen ihre Überlegenheit zu demonstrieren pflegen – eben ein Strick um den Hals. Wer tut denn so was?! Das ist doch doof und ergibt erst «Sinn», wenn man annimmt, dass da Testosteron im Spiel ist. Die zweite Theorie stammt vom Experten höchstpersönlich und geht in die entgegengesetzte Richtung: Die Krawatte symbolisiert ausgleichende Gerechtigkeit, eine Solidaritätsgeste an das andere Geschlecht. Der Anzug ohne Krawatte ist als Kleidungsstück relaitv komfortabel, ja fast alltagstauglich. Das reicht irgendwie nicht, wenn man sich «in Schale» wirft, da muss man(n) noch etwas leiden. Ist der formelle Zirkus dann vorüber, kann er sich erleichtert die Krawatte lockern, während sie ein Paar Schuhe aus der Handtasche holt, deren primärer Zweck tatsächlich die Fortbewegung ist. Du darfst dir, liebe Sibylle, gerne eine dieser Theorien aussuchen. Oder beide. Oder auch keine.
Angemessen zugeknöpfte und verschnürte Grüsse,
Dein Experte