Freunde und Helfer vor Gericht
Illustration: Alice Fankhauser
Es ist der 26. Mai 2013. In Bern steigt die dritte Ausgabe der berüchtigten «Tanz dich frei»-Demo. Als H. kurz nach ein Uhr morgens den Bahnhofplatz überqueren will, ist die Polizei bereits dabei, die Demonstration aufzulösen. Die Stadt ist in Tränengas eingenebelt, von der Tanz kundgebung bleiben einzig Panik und Chaos. Mit Mehrzweckwerfern bewaffnete Polizisten versuchen die Demonstrierenden aus der Innenstadt zu vertreiben. Um 1:17 Uhr fällt der Schuss: Ein Polizist schiesst H. Gummischrot ins Gesicht. Knapp drei Jahre später schauen wir zurück: Was heisst es, vor Gericht gegen die Polizei anzutreten?
Freunde bringen H. nach dem Vorfall ins Spital. Den Weg zur «Insel» legen sie zu Fuss zurück. Ein Krankenwagen wäre unmöglich bis zu ihnen durchgekommen, die Polizei hat die Stadt komplett abgeriegelt. An den Weg erinnert sich H. später nicht mehr. Er schaut nur zu Boden und hält sich die Hand vors linke Auge, daraus fliesst Flüssigkeit. Er wird noch in der gleichen Nacht operiert.
H. meldet den Vorfall vorerst nicht der Polizei. Zu tief sitzt der Schock über die Ereignisse, zudem muss er den Verlust seiner Lehrstelle als Metallbauer verarbeiten. Da in diesem Beruf Augenverletzungen gehäuft vorkommen, darf er ihn nicht weiter ausüben: zu gross ist die Gefahr, dass er sich am gesunden Auge auch noch verletzt und damit erblindet. Erst als H. bei der SUVA seine Arbeitsunfähigkeit anmeldet, wendet sich diese mit einem Strafverfolgungsbegehren an die Behörden. Daraufhin eröffnet am 22. Oktober 2013 die Staatsanwaltschaft, vertreten durch Stephan Neuhaus, eine Untersuchung gegen unbekannte Täterschaft wegen schwerer und eventuell fahrlässiger Körperverletzung. Mit Unterstützung der Opferhilfe nimmt sich H. einen Anwalt. Es ist der Beginn eines dreijährigen Rechtsstreits, der H. viel Zeit und Kraft kosten wird. H.s Anwalt, Josef Mock, hat schon früher für Klienten gegen die Polizei prozessiert. Er weiss, dass das nicht einfach ist. Doch einen Fall wie den von H. hat auch er noch nie erlebt.
Gegen das Opfer ermittelt
Das Verfahren beginnt mit der Befragung von H. und seinem Freund B., der am Abend hinter ihm gestanden hatte, als der folgenschwere Schuss fiel. Am 6. Dezember 2013 werden die beiden auf die Polizeiwache am Waisenhausplatz bestellt. Mock begleitet seinen Klienten. Zu dessen Verwunderung werden H. und B. gleichzeitig und getrennt zum Vorfall befragt. H. wird von einem Polizisten ins Kreuzverhör genommen. Er muss angeben, welchen Weg er lief, wo genau er und B. gestanden hatten, wo sie vor der Demo gewesen waren und was sie zuvor bei H. zu Hause gegessen hatten. Flankiert wird die Einvernahme teilweise von absurd wirkenden Fragen. H. wird beispielsweise gefragt, ob nicht jemand das Gummigeschoss mit der Hand geworfen haben könnte.
Mock wird während des Verhörs schnell klar, dass die Polizei versucht, H. in Widersprüche zu verwickeln. Ab und zu interveniert er deshalb, um H. mit gezielten Fragen klärende Antworten zu entlocken. «Die Polizisten suchten nach Unstimmigkeiten in den Aussagen. Es bestand offensichtlich kein Interesse, den Fall aufzuklären – es wurde gegen das Opfer ermittelt», sagt Anwalt Mock. Wieder und wieder wird H. zu genauen Uhrzeiten und Details befragt. Von Anfang an fühlt er sich als Täter behandelt.
Am 5. Februar 2014 kommt der Anzeigenrapport der Polizei. Irritiert stellt Mock fest, dass offenbar der Leumund seines Klienten geprüft wurde. Unter anderem wird erwähnt, H. sei «bei der Kantonspolizei wegen […] Steinwürfen gegen das Generalsekretariat der SVP verzeichnet.» Eine solche «Verzeichnung» zu erwähnen ist unzulässig, da es in diesem Belangen nie zu einem Verfahren, geschweige denn einer Verurteilung gekommen ist und es sich damit auch um keine Vorstrafe, sondern nur um eine polizeiliche Vermutung handelt. «Hier gilt die Unschuldsvermutung. Es ist tendenziös, wenn man so etwas in den Polizeirapport schreibt», sagt Mock. Zudem ist H. Kläger und nicht Angeklagter. Die Prüfung seines Leumunds ist alles andere als üblich. Der Rapport wird später selbst in einer Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in Zweifel gezogen. So sei «eine gewisse Abwehrhaltung» der Polizei zu erkennen und die Aussagen von H. seien «besonders kritisch hinterfragt worden».
Für die Staatsanwaltschaft ist mit der Befragung von H. und B. und dem Polizeirapport alles getan. Der Täter könne nicht gefunden werden. Am 11. Februar 2014 verfügt sie die Sistierung des Verfahrens mit der Begründung: «Weiterführende verhältnismässige Beweismassnahmen bieten sich nicht an.»
Zurück zum Tatort
Für H. ist diese Sistierung verheerend. Nicht nur muss er sich damit abfinden, dass der Schütze ungeschoren davonkommt. Wichtiger ist die Tatsache, dass ihm die Beweise fehlen, um die Polizei für den Vorfall verantwortlich zu machen – so wird niemand für die entstandenen Kosten aufkommen. Und diese haben es in sich: Nebst den medizinischen Kosten für Notfallversorgung und mehrere Augenoperationen fallen Erwerbsausfälle an, zudem ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, ob H. auch noch eine posttraumatische Belastungsstörung vom Ereignis davonträgt.
Mock lässt die Begründung der Sistierung nicht gelten. Noch sieht er die Beweismassnahmen nicht als ausgeschöpft. Zudem weiss auch er um die fatalen Konsequenzen der Sistierung für H. In einer Beschwerde verlangt er vom Staatsanwalt, die drei leitenden Polizisten als Zeugen einzuvernehmen und einen sogenannten «Augenschein» durchzuführen, bei welchem der Tathergang nachgestellt und dokumentiert wird. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Zwar wird die Einvernahme der leitenden Polizisten abgelehnt, doch der Augenschein wird angeordnet. Das Verfahren wird wieder aufgenommen.
Am 2. November 2014 treffen sich die Parteien an der Ecke beim Loeb-Lebensmittelladen. Es ist ein kalter Sonntagmorgen, inzwischen liegen Tanzkundgebung und Gummischrot bereits 17 Monate zurück. Anwesend sind der Staatsanwalt, einige Herren vom kriminaltechnischen Dienst der Kantonspolizei sowie drei leitende Polizisten, die an der Kundgebung das Kommando über eine Einsatzgruppe hatten. H. wird begleitet von B., seinen Eltern und seinem Anwalt.
Während H. und B. ausführen, wo sie zum Zeitpunkt des Schusses gestanden haben, übergibt ein Sachbearbeiter der Polizei H.s Anwalt ohne weitere Kommentare eine DVD. Darauf sind Videoaufnahmen, welche während der «Tanz dich frei»-Demonstration aus einem Helikopter gemacht wurden. Wieso das Beweismittel erst zu diesem Zeitpunkt auftaucht, ist unklar. Jedenfalls wird sich später zeigen, dass die Aufnahmen nicht nur die Aussagen von H. und B. bestätigen – darauf ist zudem auch das Mündungsfeuer eines Mehrzweckwerfers zu sehen, welcher in Richtung der beiden abgefeuert wird.
Die drei anwesenden Gruppenführer verneinen während des Augenscheins übereinstimmend, den Einsatz von Gummigeschossen in Richtung Christoffelgasse angeordnet oder beobachtet zu haben. Der Staatsanwalt sistiert das Verfahren wenige Wochen später zum zweiten Mal. Auch wenn die aufgetauchten Helikopteraufnahmen neue Erkenntnisse gebracht haben – der fehlbare Polizist ist darauf nach wie vor nicht eindeutig zu erkennen. In der Begründung schreibt der Staatsanwalt: «Nachdem sämtliche Gruppenführer geltend machen, während der interessierenden Zeitspanne weder den Einsatz des Mehrzweckwerfers angeordnet noch festgestellt zu haben, […] ist nicht davon auszugehen, dass sich die Person, welche […] den Mehrzweckwerfer eingesetzt hat, identifizieren lässt.» Und wieder steht da: «Weiterführende verhältnismässige Beweismassnahmen bieten sich nicht an.»
Keiner erkundigt sich nach dem Opfer
Mock gelangt daraufhin erneut mit einer Beschwerde ans Obergericht und verlangt, die Strafuntersuchung Staatsanwalt Neuhaus zu entziehen und einer ausserkantonalen Strafbehörde zu übertragen, da die bisherigen Ermittlungen «äusserst einseitig» geführt worden seien – soweit sie überhaupt angestrengt wurden. Weiter fordert er die Einvernahme der Polizisten, die zur Tatzeit beim Loeb-Lebensmittelladen postiert gewesen sind.
«Welcher Polizist verrät schon den anderen?»
Die Beschwerdekammer des Obergerichts antwortet am 27. Februar 2015. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen: Während das Ausstandsgesuch abgelehnt wird und somit Stephan Neuhaus für den Fall zuständig bleibt, wird die Einvernahme der Polizisten angeordnet.
Zwischen April und Juni 2015 werden sämtliche Polizisten der betroffenen Einsatzgruppen befragt. Bei der ersten Einvernahme tritt Staatsanwalt Neuhaus das Befragungsrecht gleich an Mock ab mit der Begründung, er hätte keine weiteren Fragen. Die darauf folgenden Verhöre wird er jedoch wieder selber führen. Laut Mock treten die Polizisten sehr unterschiedlich auf. Einige geben ihre Stellungnahmen «sehr souverän und ohne persönliche Animositäten» zu Protokoll, andere sind sichtlich genervt, dass sie verhört werden – schliesslich hätten sie an diesem Abend unter schwierigen Umständen für Ruhe und Ordnung gesorgt. Zum Erstaunen des Anwalts erkundigt sich keiner der Polizisten nach H.s Gesundheitszustand, bis auf einen – der wohlgemerkt heute nicht mehr bei der Polizei arbeitet. Die Befragten sagen wenig, die Aussagen führen allesamt ins Leere und es werden keine brauchbaren Informationen gewonnen. «Es war von Anfang an anzunehmen, dass die Polizisten nichts aussagen, was einen Kollegen in die Pfanne hauen würde. Welcher Polizist verrät schon den anderen? Dennoch hatte ich bei einigen das Gefühl, sie hätten noch viel mehr zu der Sache sagen können», erzählt der Anwalt.
Dies stellt die letzte Episode im Strafprozess dar. Da keine neuen Erkenntnisse gemacht wurden, wird das Verfahren ein drittes Mal sistiert. Diesmal wird die Opferschaft keine weitere Beschwerde einreichen. Die Sistierung ist allerdings nicht gleichbedeutend mit der endgültigen Beendigung des Verfahrens, dazu muss dieses formell vom Staatsanwalt geschlossen werden. Deshalb verweisen sowohl Stephan Neuhaus wie auch die Pressestelle der Kantonspolizei gegenüber der bärner studizytig darauf, dass es sich um ein laufendes Verfahren handle und sie sich deshalb nicht im Detail dazu äussern könnten.
Unwürdige Polizeiarbeit
Heute ist H. äusserlich nichts mehr anzusehen. Die Ärzte haben ganze Arbeit geleistet. Doch wenn es draussen hell ist, trägt H. immer eine Sonnenbrille. Die linke Pupille funktioniert nicht mehr. Schwierig ist das Lesen von Texten. Wenn er sich zu lange auf die Buchstaben fokussiert, dann wandert sein linkes Auge automatisch zur Seite. Sowieso konnten die Ärzte nur die Ästhetik seines linken Auges rekonstruieren. Das Sehvermögen ist auf 16% gesunken. Dort wird es bleiben.
Im Gespräch wird schnell klar, dass H. während der drei Jahre jegliches Vertrauen in die Polizei verloren, ja eine gewisse Abneigung entwickelt hat. Schaut man auf die Strafuntersuchung zurück, kann man dies durchaus nachvollziehen. Auch wenn der Kanton aufgrund des Videobeweises schlussendlich für die Kosten aufkommen wird, musste sich der junge Mann während des Verfahrens viel gefallen lassen. Und dies wohlgemerkt als Opfer, das Auge und Lehrstelle verloren hat. Zumal auch die Polizeibeamten den Vorfall nicht vergessen haben: Schon öfters wurde H. seither ohne Begründung kontrolliert und mit Namen angesprochen.
«Weiterführende verhältnismässige Beweismassnahmen bieten sich nicht an.»
Trägt H. einen Teil der Mitschuld? An der Tanzkundgebung 2013 haben bekanntlich viele Jugendliche im Alkohol- und Adrenalinrausch Grenzen überschritten. Ausserdem ist da die «Verzeichnung» aus dem Polizeirapport. Auch H.s Vater stellt sich diese Frage, obwohl er von Beginn weg hinter seinem Sohn stand. Als er während des Augenscheins miterlebt, wie die Polizisten mit H. umgehen, legt er die letzten Zweifel ab. Schlussendlich gilt es festzuhalten, dass auf dem Video der Tat kein fehlbares Verhalten von H. zu sehen ist. Dass er von der Polizei einer Straftat verdächtigt wird, ist in der Sache irrelevant. Wird ein Zivilist durch Gummischrot schwer im Gesicht verletzt, muss man von den Strafverfolgungsbehörden verlangen können, dass der Vorfall sauber und des Opfers würdig aufgerollt wird – davon kann beim Fall von H. nicht die Rede sein.