Regeln oder geregelt werden

(Illustration: Lisa Linder)

06. Oktober 2022

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Würdest du abtreiben, wenn du auf einmal ungewollt schwanger wärst? Und wer bestimmt, ob dir diese Frage überlassen ist? Abtreibungsaktivist*innen und -gegner*innen greifen die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln mit hitziger Überzeugung auf und eine junge Frau teilt ihre eigene Story.

Ein Mensausfall, möglicherweise ein paar weitere Anzeichen und dann… ein positiver Schwangerschaftstest. Was für einige einen grossen Glücksmoment bedeutet, heisst für andere das Wahrwerden einer ihrer grössten Befürchtungen. Letzteres war die Situation der zwanzigjährigen Bernerin Louisa*. Vor sechs Monaten stand sie mit einem solchen Test in der Hand in ihrem Badezimmer, erschüttert über ihre Situation und ein schummriges Gefühl im Bauch gegenüber dem, was sie jetzt erwartete.

In der Schweiz gilt seit März 2001 die Fristenlösung, die einen straffreien Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche erlaubt. Laut Bundesamt für Statistik entschieden sich im Jahre 2021 sechs von tausend Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch. Dies ist im internationalen Vergleich ziemlich tief. Davon betroffen sind in der Schweiz aber immerhin ca. zehntausend Frauen jährlich und die Frage, ob man sich für oder gegen eine Schwangerschaft entscheiden würde, haben sich die meisten Frauen schon mindestens einmal gestellt (BFS 2022).

Termin steht fest

Als Louisa merkte, dass sie schwanger war, machte sie sofort einen Termin mit ihrer Frauenärztin ab und wurde bei einem Beratungsgespräch über die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten informiert. «Für mich war die Entscheidung von Anfang an eindeutig; ich konnte und wollte zu dem Zeitpunkt kein Kind bekommen. Ich fühlte mich auf allen Ebenen – körperlich, emotional, wie auch finanziell –  überhaupt nicht ready und wusste, es würde nicht gut kommen, wenn ich die Schwangerschaft jetzt austragen würde», erzählt Louisa. Somit vereinbarte sie nach einigem Hin und Her einen Termin im Lindenhofspital, um den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zu initiieren.

Sie erhielt grosse Unterstützung von ihren Eltern, ihren Freund*innen und ihrem Freund und trotzdem berichtet sie, dass der Schwangerschaftsabbruch ein psychisch und physisch schwieriger Prozess war. Einerseits waren da diese neuen Unterleibsschmerzen und eine höhere emotionale Vulnerabilität, die sie verspürte, andererseits gab es immer wieder unsensible Bemerkungen von Bekannten, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Trotz allem wiederholt Louisa, dass dieser Entscheid der Beste war, den sie in der Situation hätte treffen können.

Ich fühlte mich überhaupt nicht ready und wusste, es würde nicht gut kommen.

Verbotenes Abbrechen

Diese Möglichkeit ist längst nicht überall selbstverständlich. Am 24. Juni 2022 hat das höchste US-Bundesgericht das nationale Recht auf Abtreibung abgeschafft, was in einigen Staaten voraussichtlich zu Abtreibungsverboten oder zu Einschränkungen führen wird. Laut dem internationalen «Center for Reproductive Rights» sind in den meisten europäischen Ländern Schwangerschaftsabbrüche in den ersten Wochen bis Monaten der Schwangerschaft legal und zugänglich. Spätabbrüche sind unter gewissen medizinischen Umständen meist ebenfalls möglich. Aber in Ländern wie Liechtenstein, Malta, Monaco und San Marino gelten noch heute hoch-restriktive Abtreibungsgesetze. Vor zwei Jahren wurde auch in Polen ein komplettes Abtreibungsverbot gesetzt, worauf lauter Protest von polnischen Aktivist*innen sowie internationalen Unterstützer*innen entflammte.

Das Recht auf eine selbstbestimmte Entscheidung in der Schweiz sei, laut SP-Grossrätin Meret Schindler, auch mit der Fristenlösung noch lange nicht ausreichend gesichert. «Immer wieder müssen wir über dieses grundlegende Recht abstimmen. In meiner Lebensspanne von knapp 36 Jahren gab es dazu bereits vier Abstimmungen», kritisiert sie in einem Interview. Für sie ist klar, dass die Rechte und Bedürfnisse der schwangeren Person den ganzen Prozess hindurch im Vordergrund stehen sollten. Gegenüber dazu beziehen sich die Argumente von Abtreibungsgegner*innen überwiegend auf die Rechte des neuen Lebens. «Schliesslich sind es die körperlichen und psychischen Ressourcen der Frau, die während der Schwangerschaft gebraucht werden und damit sollte auch sie die Entscheidung treffen, ob sie dazu im Stande ist oder nicht», meint Schindler.

 

(Illustration: Lisa Linder)

Initiative ergriffen

Aktuell bestehen einige Initiativen zur Erschwerung von Schwangerschaftsabbrüchen in der Schweiz. Eine davon ist die «Einmal-darüber-schlafen»-Initiative der SVP, nach der Ärztinnen und Ärzte ihren schwangeren Patient*innen mindestens einen Tag Bedenkzeit nach dem Beratungsgespräch geben müssten. Dies soll als Hürde für ungewollt schwangere Personen agieren, welche einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen möchten, indem dieser Prozess um einen Schritt verlängert wird. Initiativen wie diese, werden in der Schweiz von einer sehr aktiven Pro-Life-Bewegung unterstützt und gefördert.

Die Bewegung hat einen christlich geprägten Hintergrund, versucht aber vermehrt aus säkularer statt biblischer Sicht gegen Abtreibung zu argumentieren. Beispielsweise wird betont, dass nicht nur die Bibel, sondern auch die Wissenschaft bezeugt, dass ein menschliches Leben bei der Befruchtung der Eizelle anfängt. Demnach bestünde kein Grund, weshalb dem Kind nicht schon von diesem Zeitpunkt an dasselbe Recht auf Leben wie allen anderen zustehen sollte.

Die grösste Schweizer Pro-Life Aktion ist der jährliche «Marsch fürs Läbe». «Dieser Marsch», so die neue Geschäftsleiterin Monika Hoffmann, «dient als Sammelzentrum für Menschen, die sich für die Sache engagieren und die durch den Marsch ein Zeichen für das Leben setzen wollen. Wir als Organisation sowie unsere Trägervereine setzen uns für einen unbedingten Lebensschutz ein, von Anfang an». In anderen Worten: dass Abtreibungen in unserer Gesellschaft immer seltener, bis gar nicht mehr geschehen sollten.

Ob Abbruch oder nicht, die Gesellschaft wird zur solidarischen Veränderung aufgefordert.

 

Moral statt Biologie

Nur wie begründet man solch eine schwarz-weiss Definition vom Mensch-Sein oder Mensch-werden? Als sei das Menschwerden ein augenblickliches Geschehnis und nicht ein hochkomplexer, langfristiger Prozess. Wie zuvor erwähnt, wird in Pro-Life Kreisen oft argumentiert, dass die Wissenschaft auf ihrer Seite stehe und dass das Leben biologisch gesehen eindeutig zu diesem Zeitpunkt beginnt. Aber können biologische Beobachtungen jemals vorgeben, was moralisches Handeln in einer Situation bedeutet?

Sie geben uns Auskunft über die Struktur und den Bestand der Materie, also in diesem Fall des Körpers. Bei der Frage aber, wann ein Mensch mit allem was dazu gehört, beginnt, da sind wir als Gesellschaft auf uns gestellt. Es wird von uns ein ausdifferenzierter Moraldiskurs gefordert, bei dem wir kollektiv aushandeln müssen, ab welchem Punkt die Rechte eines neu geformten Lebens oder eben Zellhaufens, über den Bedürfnissen einer Mutter stehen sollten. Dabei dürfen wir uns nicht in der Theorie verlieren, sondern sollten uns konstant den realen Auswirkungen dieses Diskurses auf die Betroffenen bewusst sein.

Die Option, sich für einen Abbruch zu entscheiden, hatte einen ausschlaggebenden Effekt auf Louisas Lebensentwicklung. Sie schildert: «Seit dem Abbruch habe ich so vieles unternommen und erlebt, was mit einem Kind im Arm niemals möglich gewesen wäre oder zumindest nicht in dem Ausmass. Auch wenn mich das Ganze Ereignis im Nachhinein manchmal noch emotional mitnimmt, spüre ich nach wie vor, dass ich und mein Freund unserer Lage dem Kind nicht das hätten geben können, was es gebraucht hätte. Und dass es wirklich der beste Entscheid für alle Betroffenen gewesen ist». Louisa erzählt von dem Moment, in dem das ganze Physische vorbei war und sie eine nie zuvor erfahrene Erleichterung verspürte. Fast am wichtigsten ist für sie rückblickend die Tatsache, dass sie diesen bedeutenden Entscheid komplett selbstbestimmt treffen konnte.

Können biologische Beobachtungen jemals vorgeben, wie moralisch zu handeln ist?

Aufruf zum Wandel

Bei der Frage, was sich Monika Hoffmann und Meret Schindler für schwangere Personen wünschen würden, kam von Seiten der Abtreibungsbefürworterin sowie der Abtreibungsgegnerin auf unterschiedliche Weise der Anstoss, dass diese Personen kräftiger von der Gesellschaft getragen werden sollten. Monika Hoffmann meint, dass weniger Druck auf Frauen gemacht werden sollte und auf die verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten hingewiesen werden sollte, sodass sie sich nicht zu einem Abbruch gezwungen fühlen. Schindler betont, dass, wenn man sich tatsächlich um das Wohl des Kindes kümmert, man sich für eine anständige Elternzeit sowie für bessere Renten einsetzen müsste. Dies gilt vor allem für Mütter, da sie demographisch am stärksten unter Altersarmut leiden.

Ob Abbruch oder nicht, die Gesellschaft wird zur Veränderung aufgefordert. Zu einem Wandel hin zu mehr Solidarität und Unterstützung für schwangere Personen und dass ihre Entscheidung für oder gegen einen Abbruch immerhin nicht aus finanziellem oder sozialem Druck getroffen werden müssen, sondern aus selbstbestimmter Überzeugung.

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