Wohin strömt das Streaminggeld?

Illustration: Lisa Linder

07. Mai 2022

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Nachdem Digitalisierung und Raubkopien die Musikbranche in den Nullerjahren vor grosse Probleme stellte, setzt sie dank Streaming heute wieder eine Menge Geld um. Nur ein Bruchteil davon landet bei den Künstler*innen.

Ich weiss noch, wie lange ich vor den Regalen im Ex-Libris stand und die neusten CD-Eingänge durchstöberte. Lange überlegte ich mir, welche CD ich in meine Sammlung aufnehmen wollte und mein Taschengeld wert war. Seit der Erfindung von Streaming-Plattformen ist meine Sammlung auf ein unerschöpfliches Mass angewachsen. Obwohl ich durch mein monatliches Abo unter dem Strich wohl mehr für Musik bezahle als früher, beklagen viele Musikschaffende, dass sie sich mit den Einnahmen von Streaming-Plattformen kaum über Wasser halten können. Das erstaunt umso mehr, betrachtet man die wachsenden Gesamteinnahmen im Musikmarkt seit einigen Jahren.

So sind die globalen Einnahmen um 18.5% und der Bereich des bezahlten Streamings gar um 21.9% gestiegen. Das zeigt der neuste «Global Music Report» der International Federation of the Phonographic Industry (ifpi), dem Branchenverband der Musiklabels. Von diesem Wachstum profitieren aber nicht alle gleich. Insbesondere kleine Produzent*innen, Musiker*innen und Labels sehen nur wenig von diesen Gewinnen, während die Major-Labels und Internetgiganten wie Spotify, Apple oder Amazon Rekordeinnahmen verzeichnen. «Labels haben je nach Plattform dreibis viermal höhere Anteile an den Streaming-Einnahmen, im Vergleich zu Urheberrechtsinhaber*innen», gibt Michael Wohlgemuth zu bedenken. Er arbeitet als Jurist für die Schweizer Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik SUISA.

Verstärkt durch die Corona-Pandemie hat sich in den letzten zwei Jahren in diversen westlichen Ländern ein breiter Protest gegen die Schieflagen im Musikstreaming-Markt formiert, vereinzelt wurde auch die Politik aktiv. So hat beispielsweise ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss in Grossbritannien die wichtigsten Akteur*innen des digitalen Musikmarktes zum Thema angehört. Der dazu im Juli 2021 publizierte Bericht betonte, dass politischer Handlungsbedarf bestünde. Besteht auch in der Schweiz Handlungsbedarf?

Schieflagen im Streaming-Markt

Das Musikstreaming ist mittlerweile zur wichtigsten Einnahmequelle der globalen Musikindustrie geworden. Wurden 2011 noch 4% der Gesamteinnahmen durch Streaming generiert, waren es 2021 bereits 65%. Noch drastischer präsentiert sich das Bild in der Schweiz, wo das Streaming mit 82% der Gesamteinnahmen den Markt deutlich dominiert. Weshalb dies für alle «Nicht-Ed-Sheerans» der Welt nicht nur positive Effekte hat, macht eine einfache Rechnung klar: Interpret*innen auf Spotify können mit ca. 0.4 Rappen pro Stream rechnen. Demnach müsste ein*e Interpret*in rund 1’000’000 Streams pro Monat erlangen, um ein Gehalt von 4’000 CHF zu erhalten.

«Die Vergütungen von Urheber*innen sind noch nicht dort, wo sie sein sollten.»

Dass Künstler*innen so wenig für ihre Inhalte erhalten, liegt an den tiefen Royalties, also den Gebühreneinnahmen, die Inhaber*innen von geistigem Eigentum bei dessen Verwendung oder Konsum erhalten. «Es fliesst zu wenig von dem auf StreamingPlattformen erwirtschafteten Geld zu den Künstler*innen zurück», sagt Helge Van Dyk, der selbst Produzent und Inhaber eines Labels ist. Die Gründe für tiefe Royalties sind vielfältig. Entscheidenden Einfluss haben aber auch die Plattenfirmen. So werden aufgrund des viel komplexer gewordenen Marktes von den grossen Labels immer umfassendere Verträge mit Künstler*innen abgeschlossen. Dies führt dazu, dass die Urheber*innen immer weniger Rechte haben: «Es kann sein, dass heute ein*e Musiker*in je nach Vertrag nicht einmal mehr selbst bestimmen kann, ob sie oder er auf bestimmten Streaming-Plattformen erscheint oder nicht», erklärt Van Dyk.

Hinzu kommt, dass sich die Gebühreneinnahmen von Urheber*innen deutlich von jenen der Labels unterscheiden. «Die Vergütungen von Urheber*innen sind noch nicht dort, wo sie sein sollten», sagt SUISAJurist Wohlgemuth. Dass grosse Labels weiterhin dreibis viermal höhere Anteile an den Streaming-Einnahmen erhalten, sei zwar auch deshalb so, weil die Major-Labels heute Co-Owner von Plattformen wie Spotify sind, in erster Linie aber auf zwei andere Gründe zurückzuführen: Einerseits, so Wohlgemuth, sei dies historisch gewachsen: «Die Major-Labels waren die ersten, die mit Streaming-Plattformen Verhandlungen aufgenommen haben, weshalb sie heute eine bessere Stellung haben.» Andererseits dominiere auf Seiten der Musiknutzer*innen bis heute die Ansicht, dass Label-Rechte mehr Wert hätten als jene von Urheber*innen, sagt der Jurist.

Illustration: LIsa Linder

Neben den tiefen Royalties leiden weniger bekannte Künstler*innen zudem unter dem momentan vorherrschenden Vergütungssystem. Die grosse Mehrheit von Streaming-Anbietern folgt heute dem sogenannten Pro-Rate-System. Dieses ist so angelegt, dass alle Streaming-Einnahmen in einen Pot fliessen, von dem Künstler*innen jeweils anhand ihres tatsächlichen Marktanteils ausgezahlt werden. Wurden auf einer Plattform also 1’000’000 Streams verzeichnet und 10’000 waren von einer bestimmten Künstlerin, dann erhält diese 1% der im Pot enthaltenen Einnahmen. Diese Methode folgt also der Logik: je mehr Streams ein*e Interpret*in generiert, umso mehr Anteil an den Einnahmen erhält sie oder er. Was beim ProRate-System nicht berücksichtigt wird, ist das Hörverhalten einzelner Konsument*innen. Dies führt dazu, dass bekannte und viel gehörte Künstler*innen auch von Abonnent*innen profitieren, die diese selbst gar nicht hören.

Zur Veranschaulichung ein kurzes Beispiel: Abonnent*in A und Abonnent*in B zahlen je 10 Franken für ihr Streaming-Abo. Während Abonnent*in A mehrheitlich die angesagtesten Mainstream-Musiker*innen hört, läuft bei Abonnent*in B immer dieselbe unbekannte Künstlerin in Dauerschleife. Von den zehn Franken landen aber nur wenige Rappen bei der unbekannten Künstlerin, der Grossteil geht an die Mainstream-Musiker*innen. Abonnent*in A unterstützt durch ihr Abo also jene Künstler*innen, deren Musik sie konsumiert, Abonnent*in B hingegen nur teilweise.

Vereint gegen Monopole

Tiefe Royalties, ungleiche Anteile an den Einnahmen und ein nach dem Mainstream ausgerichtetes Verteilsystem führen dazu, dass weniger bekannte oder für Nischen produzierende Musiker*innen und Produzent*innen es schwer haben, ein ausreichendes Einkommen durch Streams zu erlangen. Das System zu ändern ist jedoch schwierig, was unter anderem damit zusammenhängt, dass wenige grosse Unternehmen den Markt dominieren. So kann wie in vielen globalisierten Märkten auch beim Musikstreaming kaum von einem fairen Wettbewerb die Rede sein. Laut der Datenplattform Statista hielten im Jahr 2021 Spotify, Apple und Amazon zusammen 61% Marktanteil, während sich eine Vielzahl kleiner Plattformen die restlichen 39% aufteilen.

Die dadurch faktisch entstandene Monopolstellung einzelner Streaming-Giganten beschäftigt auch den Smooth-Jazzer Greg Manning: «Es sind die grossen drei Player, die einschenken. Der Rest ist Peanuts.» Michael Wohlgemuth spricht ebenfalls von einer ungleichen Marktstellung. Als Jurist beim Joint Venture Mint, das aus der US-amerikanischen Musikrechte-Organisation SESAC und der SUISA besteht, handelt Wohlgemuth Lizenzierungsverträge mit den Streaming-Diensten aus.

«Die freie Marktwirtschaft funktioniert hier nicht. Sie ist gegen die Künstler*innen und schafft Monopole.»

Gerade kleinere Verlage und einzelne Urheberrechtsinhaber*innen könnten kaum alleine mit den marktdominierenden Plattformen verhandeln, erklärt er. Eine gute Lösung gegen diese Übermacht sei für kleinere Player, sich in Verwertungsgesellschaften oder sogenannten Hubs zu organisieren, sagt der Verhandlungsexperte. Diese vertreten die Rechte verschiedenster Komponist*innen, Textautor*innen und Musikverleger*innen gemeinsam. «Der dadurch grösser werdende Musikkatalog, das heisst die Sammlung von Rechten an musikalischen Werken, verbessert die Verhandlungsposition und somit das Verhandlungsresultat», meint Wohlgemuth. Denn je wichtiger (auch umfassender) die Rechte, die ein Hub vertritt, umso entgegenkommender seien auch die StreamingvDienste.

Deutlich wird hier, wie in vielen anderen globalisierten (digitalen) Märkten, dass die vollkommen deregulierte Marktwirtschaft offensichtlich nicht zu einem fairen Wettbewerb oder fairer Bezahlung führen muss. «Die freie Marktwirtschaft funktioniert hier nicht. Sie ist gegen die Künstler*innen und schafft Monopole», kritisiert Jazz-Musiker Manning.

Strengere Regeln für Plattformen

Neben der Bildung von Hubs, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken, gibt es weitere Lösungsansätze, um gegen die ungleiche Verteilung der Streaming-Einnahmen vorzugehen. So wird beispielsweise seit einiger Zeit über andere Vergütungssysteme debattiert. Als besonders attraktiv für weniger bekannte Musiker*innen wird dabei das User-Centric-System gehandelt. Bei dieser benutzerorientierten Methode würden die Einnahmen, die ein*e Abonnent*in generiert, an jene Künstler*innen verteilt, die auch effektiv von ihr*ihm gehört wurden.

Moritz Faccin, ehemaliger Director Strategic Marketing von Universal Schweiz, anerkennt zwar, dass das heutige System die bekannten Künstler*innen bevorzugt, betont zugleich aber: «So wie es momentan ist, ist es grundsätzlich fair, einfach und deshalb gut nachvollziehbar.» So würde beispielsweise das User-Centric-System die Verteilung komplizierter machen, was zu mehr Intransparenz führen könnte. Wohlgemuth, der die Interessen unterschiedlich grosser Künstler*innen vertritt, sieht dies ähnlich. «Es wäre aber interessant, hybride Formen zu testen, die Elemente des Pro-RataSystems mit jenen des User-Centric-Systems kombinieren», so Wohlgemuth.

«Es sind die grossen drei Player, die einschenken. Der Rest ist Peanuts.»

In der Schweiz hat zudem das neue Filmgesetz auch eine Debatte um die Regelungen des Musikstreamings geführt. So hat der Neuenburger SP-Nationalrat Baptiste Hurni im Frühjahr 2021 eine Interpellation eingereicht, die dem Bundesrat die Frage stellte, inwiefern die für das Filmgesetz vorgesehenen gesetzlichen Vorgaben auch für Plattformen des Musikstreamings anwendbar wären. Die Antwort des Bundesrats fiel, gelinde gesagt, vage aus und hielt fest, man würde andere Modelle als im Filmbereich prüfen.

Inwiefern eine «Lex Spotify» zielführend ist, bleibt jedoch umstritten. So gibt Wohlgemuth zu bedenken, dass staatliche Vorschriften, wie sie im neuen Filmgesetz vorgesehen sind, zu Wettbewerbsnachteilen im internationalen Markt führen könnten. Wichtig seien vielmehr strengere Regeln für Plattformbetreiber, wie beispielsweis die Plattformhaftung in der EU und in der Schweiz. Dies führt zu einer Hebelwirkung. So ist es heute viel einfacher, Plattformen, die sich nicht an Lizenzverträge halten oder Lizenzen gar nicht erst anfragen, in Haftung zu nehmen. Rechteinhaber scheuen es heute deshalb auch nicht mehr, ihre Rechte einzuklagen», erklärt Wohlgemuth.

«Kunst muss man sich leisten können»

Auch wenn bereits vieles besser ist als noch vor ein paar Jahren, bestehen weiterhin deutliche Schieflagen im Musikstreaming Markt. Es zeigt sich einmal mehr, dass die vollkommene Deregulierung von globalisierten Märkten eklatante Profitunterschiede und Marktkonzentrationen schafft. Tiefe Royalties führen dazu, dass viele kleinere Künstler*innen sich nur schwer über Wasser halten können, während Internetgiganten wie Apple oder Spotify wachsende Einnahmen verzeichnen. «Ich verstehe nicht, wie der Mittelmann zum Milliardär werden kann, während die meisten Musiker*innen am Hungertuch nagen», fragt sich Manning. Die Frage scheint berechtigt.

Zudem führt die Jagd nach Streams auch dazu, dass sich Musiker*innen stärker am Mainstream orientieren müssen, da sie nur so zu genügend Einnahmen kommen. «Kunst muss man sich leisten können», sagt van Dyk. Auch wenn es zur Musik gehört, sich an Trends zu orientieren, scheint das heutige Vergütungssystem auf StreamingPlattformen entscheidenden Einfluss auf das Musikschaffen ganz grundsätzlich zu haben. So sind die Anreize heute gross, nur noch Singles zu veröffentlichen, anstelle eines ganzen Albums: «Es herrscht eine Kultur der Singles», stellt Manning fest.

Um Musikschaffende von solchen Zwängen zu befreien und die Verteilungskämpfe fairer zu gestalten, braucht es auch in der Schweiz umfassende Debatten. Darüber, ob die Rahmenbedingungen im Streaming-Markt angepasst werden müssten und darüber, wie Kulturpolitik im Zeitalter der digitalen Distribution gelingen kann.

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