«Wir wären gerne anders bekannt geworden»
Foto: Jonas Fux
Julia Richers widmet sich seit Langem der Dekonstruktion des Feindbilds «Osteuropa». Nun reaktiviere der Krieg alte Denkmuster. Ein Interview über westliches Desinteresse, Journalismus in Kriegszeiten und die Zukunft der Osteuropa-Studien.
Frau Richers, wie erlebten Sie den Beginn der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar?
Ich erfuhr um sechs Uhr morgens durch eine Nachricht auf dem Handy vom Beginn dieses Angriffskriegs, also etwa zwei Stunden nach den ersten Bombardierungen. Meine erste Reaktion – und so ging es wohl uns allen – war eine totale Schockstarre.
Auch Sie als Expertin waren also überrascht?
Ich gehörte zu denjenigen, die bis zum Schluss gehofft hatten, dass Putin seine Drohungen nicht in die Tat umsetzen
würde. Mit einem Angriffskrieg in den Dimensionen, die wir jetzt sehen, hatte die Mehrheit der Osteuropa-Forschenden nicht gerechnet.
Zur Person: Julia Richers studierte Geschichte und Anglistik in Budapest und Basel. Sie ist seit 2015 ordentliche Professorin für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte sowie Studienleiterin der Osteuropa-Studien Bern-Fribourg. Sie forscht unter anderem zu Erinnerungskulturen und Gedächtnisorten in Osteuropa sowie zur Geschichte Russlands, Ungarns und des Karpatenraums.
Was änderte sich ab dem Tag des Einmarschs für Sie und für Ihre Kolleg*innen?
Anfangs wurden wir völlig überrannt von Medienanfragen. Ausserdem waren wir damit beschäftigt, Informationen von den diversen Grenzposten zu übersetzen, um überhaupt zu verstehen, was an der polnischen, ungarischen und rumänischen Grenze passiert.
Inwiefern waren Ihre Lehrveranstaltungen betroffen?
Ich kann nach einem so einschneidenden Ereignis nicht einfach zum «courant normal» zurückkehren. Meine Kolleg*innen und ich versuchten, über die aktuellen Ereignisse zu informieren und besprachen mit den Studierenden, wie in der momentanen Situation unterschiedliche Informationsquellen – vieles kommt ja über soziale Medien – eingeschätzt werden müssen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Studierenden für Ihre Geduld mit den Umstellungen der Lehrinhalte bedanken.
Sie führen zusammen mit ukrainischen Kolleg*innen an einer Lemberger Universität einen Kurs durch. Wie ist dieses Projekt vom Krieg betroffen?
In den ersten Tagen hatten wir Schwierigkeiten, die ukrainischen Studierenden überhaupt zu erreichen. Mittlerweile wissen wir, dass sich die jungen Männer fast alle freiwillig für den Militärdienst gemeldet haben. In der Ukraine und in Osteuropa generell werden Akademiker zwar nicht automatisch eingezogen, aber der soziale Druck ist gross.
Warum stehen gerade Akademiker*innen unter besonderem gesellschaftlichem Druck?
Universitäten werden – zum Glück – selten direkt von politischen Ereignissen tangiert, und gerade in Osteuropa befinden sich Akademiker*innen oft in einem «geschützten Raum». Wie gesagt werden in der Ukraine, wie übrigens auch in Russland, Akademiker*innen nicht automatisch eingezogen, damit der universitäre Bereich weiterlaufen kann. Hier in der Schweiz würden Sie als junge Männer im Kriegsfall wahrscheinlich eingezogen werden…
Viele junge Ukrainer*innen unterbrechen nun ihr Studium, um Militärdienst zu leisten oder um das Land zu verlassen. Welche Folgen wird das langfristig nach sich ziehen?
Es besteht die Gefahr, dass es einen Ausfall von Bildung, sozusagen eine verlorene Generation geben wird. Das betrifft übrigens nicht nur Studierende, sondern auch Kinder. Gerade im Osten der Ukraine sind viele Schulen und Universitäten zerstört, was die Wiederaufnahme des Unterrichts erschweren wird. Somit ist die Sorge berechtigt, dass mehr als nur ein, zwei Semester ausfallen werden.
Was wird in Bern und in ganz Europa von Hochschulen unternommen, um eine solche verlorene Generation zu verhindern?
Es gibt verschiedene Modelle, um diesen Bildungsausfall aufzufangen: von virtuellen Unis bis zur Öffnung von Kursen für Menschen aus der Ukraine. Ausserdem nehmen viele Unis sie als Gaststudierende unkompliziert auf. In Bern sind mir bisher dreissig Studierende bekannt, die das Angebot nutzen. Dass der europäische Bildungsbereich in dieser Situation zusammensteht, finde ich toll.
«Man hat sich einfach damit abgefunden, dass die Krim auf Karten schraffiert ist.»
Durch den Krieg in der Ukraine steht Osteuropa plötzlich im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sehen Sie als Forscherin dieses grosse Interesse positiv?
(überlegt) Wir, die wir im Bereich Osteuropa lehren und forschen, hätten uns eine andere Aufmerksamkeit gewünscht. Wir wären gerne durch ein anderes Thema bekannt geworden, denn dieser Krieg bringt in keiner Weise Vorteile.
Welche Art von Aufmerksamkeit hätten Sie sich gewünscht?
Nach der Auflösung der Sowjetunion dachte man in Westeuropa – um hier einen genauso diffusen Begriff zu verwenden wie «Osteuropa» – die osteuropäische Familie würde sich nahtlos in das «Haus Europa» einfügen. Man hat sich nicht die Mühe gemacht, Osteuropa in seiner inneren Dynamik, seinen Konfliktlinien ernst zu nehmen und zu verstehen, nicht einmal nach der Annexion der Krim im Jahr 2014. Ich finde das tragisch. Ganz ehrlich, hat es eine breite Öffentlichkeit interessiert, dass schon seit acht Jahren Krieg herrscht auf ukrainischem Territorium? Nicht wirklich. Man hat sich einfach damit abgefunden, dass die Krim auf Karten schraffiert ist.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für die Zukunft der Osteuropa-Studien?
Die Aufgabe der Osteuropa-Studien ist es jetzt, eine Expertise im Umgang mit Russland und mit der Ukraine aufzubauen und die Perspektive für ein gemeinsames europäisches Haus aufzuzeigen.
Im Kalten Krieg hingegen lag die Aufgabe der Osteuropa-Studien darin, den Feind besser zu verstehen.
Das stimmt, doch davon haben wir uns 1991 ganz klar verabschiedet. Wir werden alles unternehmen, dass sich das Fach nicht in diese Richtung zurückentwickelt.
«Die Geschichte zeigt, dass nach jeder Krise wieder ein Dialog möglich ist.»
Und wie wollen Sie das verhindern?
Ich sah und sehe meine Hauptaufgabe darin, das Feindbild «Osteuropa» zu dekonstruieren. Nicht nur durch den Aussenblick, sondern auch durch Quellen aus diesen Ländern, durch Selbstzeugnisse und -verortungen. In dieser Hinsicht fühle ich mich um dreissig Jahre zurückkatapultiert. Für die Osteuropa-Studien ist die aktuelle Situation tragisch. Russland hat sich für Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – von uns isoliert. Doch die Geschichte zeigt zum Glück, dass nach jeder Krise, nach jedem Krieg wieder ein Dialog möglich ist. Aber es ist ein harter Weg.
Wie steht es um die Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftler*innen?
Während beispielsweise Deutschland sämtliche Kontakte gekappt hat, geht die Schweiz einen moderateren Weg in der Zusammenarbeit mit der russischen Wissenschaft. Denn wer, wenn nicht das letzte intellektuelle Potential Russlands, sollte gegebenenfalls in einer Zeit nach Putin die kritische Masse ausmachen? Wir dürfen die russischen Wissenschaftler*innen nicht vergessen. Viele sind in den Westen geflüchtet und werden nicht ohne Weiteres zurückkehren können, an ihrem vormaligen Institut auftauchen und sagen: «Hier bin ich wieder.»
Aber die Zusammenarbeit weiterzuführen, nachdem fast alle russischen Universitäten öffentlich Putin unterstützt haben, ist doch problematisch.
Vielleicht sind die Universitäten als Hort des kritischen Denkens so stark unter Druck, dass sie praktisch gezwungen wurden, Putin zu unterstützen. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Rektorate mittlerweile so stark von Putin-Vertrauten durchdrungen sind, dass diese ihn tatsächlich unterstützen. Doch das heisst nicht, dass die Dozierenden der gleichen Ansicht sind.
Und wie sieht die Zusammenarbeit mit ukrainischen Wissenschaftler*innen aus?
Mit unseren ukrainischen Kolleg*innen sind wir seit Jahren verbunden. Über dieses Netzwerk erfahren wir unter anderem, was an den Universitäten in Charkiw, Mariupol, Dnipro oder Lemberg passiert.
Auf welche journalistischen Beiträge greifen Sie zurück, um die Übersicht über die Lage zu behalten?
Ich verbringen die frühen Morgenstunden mit einer «Presseschau» verschiedener englisch-, französischund deutschsprachiger sowie osteuropäischer Medienkanäle. Von besondere Interesse für das deutschsprachige Publikum ist die Internetplattform «Dekoder», die Beiträge aus russischen, belarussischen und ukrainischen Medien ins Deutsche übersetzt und kontextualisiert. Ausserdem ist «Meduza», eine russische Internetzeitung im Exil in Riga, auch in englischer Sprache verfügbar.
«Osteuropa hat eine andere historische Entwicklung durchlaufen als Westeuropa.»
Lesen Sie auch von der russischen Regierung kontrollierte Medien?
Immer seltener. Denn es ist frustrierend, ja erschütternd, wie in diesen Medien über die Ukraine berichtet wird. «Ria Novosti», die grösste Presseagentur Russlands, veröffentlichte am 3. April einen Artikel darüber, «was Russland mit der Ukraine tun sollte». Dieser Artikel macht schlicht sprachlos. Er skizziert einen mehrstufigen Plan zur Ausradierung der Ukraine als Staat über die nächsten Jahrzehnte. Und das ist ein staatliches Medium!
Glaubt die russische Bevölkerung dieser Propaganda? Bei vielen Aussagen ist es doch offensichtlich, dass sie aus der Luft gegriffen sind.
Dass Behauptungen verfangen, die auf uns haarsträubend wirken, kann man teilweise damit erklären, dass Osteuropa eine andere historische Entwicklung durchlaufen hat als Westeuropa – darauf weise ich als Historikerin unablässig hin. Zum anderen scheinen die Leute der Propaganda irgendwann zu glauben, wenn sie ihr ständig ausgesetzt sind.
Reagiert die Bevölkerung heute anders auf die Propaganda als früher?
In der Sowjetunion wurde die Propagandazeitung «Prawda» oft gegen den Strich gelesen. Wenn man nämlich darauf achtete, wie berichtet wird und worüber nicht geschrieben wird, konnte man tatsächlich etwas «Wahrheit» herauslesen. Man hatte eine gewisse Resilienz der Propaganda gegenüber aufgebaut und ging zum Teil auch humorvoll damit um. Das scheint heute verloren gegangen zu sein. Viele sitzen den Behauptungen des Kremls auf.
«Mit den Begriffen ‹ukrainisch› und ‹russisch› sollte in der Berichterstattung sorgfältig umgegangen werden.»
Eigentlich ist doch der Zugang zu alternativen Medien heute viel einfacher als in der Sowjetunion.
Genau. Und trotzdem berichten einige Russ*innen im Ausland, dass ihre eigenen Eltern ihnen in Bezug auf den Krieg weniger Glauben schenken als der Propaganda aus dem Fernsehen. Warum man früher der «Prawda» misstraut hat, heute aber dem «Perwy Kanal», dem grössten russischen Fernsehsender, glaubt, kann ich mir als Historikerin nicht erklären. Diese Unterschiede zu erklären, wäre eine wichtige medienwissenschaftliche Aufgabe.
Sie erwähnten, der Westen nehme Osteuropa als einheitlichen Block wahr, interessiere sich nicht für die inneren Feinheiten. Spiegelt sich das auch in der Berichterstattung über die Ukraine wider?
Zwischen der Berichterstattung heute und derjenigen über die Euromaidan-Proteste und die Annexion der Krim ist eine massive Verbesserung erkennbar. Damals ärgerte ich mich wahnsinnig über völlig falsche Behauptungen, zum Beispiel über die Herkunft des Faschismusvorwurfs an die Ukraine, den Putin schon damals erhob.
Mit der jetzigen journalistischen Situation sind sie also zufrieden?
Weitgehend. Es ist aber ein Problem, dass an vielen Orten gar keine Journalist*innen präsent sein können. In Schweizer und anderen Medien liest man darum oft am Ende einer Meldung, dass die Angaben «nicht von unabhängiger Seite überprüft» werden können. Das ist nicht ideal, aber die Alternative wäre, gar nicht über den Krieg zu berichten. Ausserdem sollte in der Berichterstattung sorgfältig mit den Begriffen «ukrainisch» und «russisch» umgegangen werden.
«Historische Ereignisse an einzelnen grossen Männern aufzuhängen, ist ein Trugschluss.»
Wie meinen Sie das?
Wenn über Russland berichtet wird, gibt es den Reflex, den Kreml mit ganz Russland gleichzusetzen. Dabei geht vergessen, dass es in Russland Oppositionelle gibt, die lange Haftstrafen oder sogar ihr Leben riskieren. Wer die russische Polizei schon aus der Nähe erlebt hat, möchte möglichst nicht mit ihr in Kontakt kommen. Wir sollten also vorsichtig damit sein, per se alles Russische zu verurteilen. Andererseits ist es Fakt, dass grosse Bevölkerungsteile Putin unterstützen.
Wie sind Ukrainer*innen mit russischer Muttersprache von der Verurteilung alles Russischen betroffen?
Diese Menschen dürfen nicht vergessen gehen. Viele Ukrainer*innen wechseln situativ zwischen Ukrainisch und Russisch. Gerade in der Ostukraine ist Russisch als Erstsprache völlig normal. Bisher war diese Bilingualität in der Ukraine kein Stein des Anstosses, sondern eine Selbstverständlichkeit, auch nach der Annexion der Krim. Besonders in der Westukraine wird nun jedoch alles Russische per se sehr kritisch gesehen.
Eine andere mediale Vereinfachung ist die Reduzierung des Kriegs auf Putin und Selenskyj als Protagonisten.
Historische Ereignisse an einzelnen grossen Männern aufzuhängen, ist ein riesiger Trugschluss. Den Zweiten Weltkrieg können wir auch nicht einfach mit Hitler erklären. Darum sehe ich die mediale Konzentration auf diese zwei Personen kritisch.
Hat die mediale Fokussierung auf Putin und Selenskyj nicht auch eine gewisse Berechtigung? Medien müssen komplexe Sachverhalte vereinfacht erklären, um diese einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Klar, das Herunterbrechen der Komplexität ist für Medien unumgänglich – das ist auch der dankbare Unterschied zwischen Journalismus und Wissenschaft. Und natürlich trägt Putin die Hauptverantwortung, doch hinter ihm steht ein Machtapparat, den er nicht allein aufgebaut hat. Man darf auch die Oligarchen nicht vergessen, die bis jetzt weiter zu Putin halten, oder die Mitglieder der Duma, die praktisch einstimmig das neue Mediengesetz verabschiedeten.
Und welche Assoziationen kommen Ihnen zu diesen beiden angeblichen Protagonisten in den Sinn?
(überlegt) Bei dieser Frage würde ich gerne einen Joker einsetzen (lacht).