Streifzüge von Essouira bis Fès

07. Mai 2022

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Auf ihrer Reise wollte unsere Autorin Marokko während des Ramadans erkunden. In vier Städten machte sie sich einen Eindruck des Landes im heiligen Monat.

Es ist Samstag, zwölf Uhr vierunddreissig. Voller Vorfreude auf die bevorstehende Reise steige ich in den Zug nach Genf. Am Flughafen herrscht Chaos – es ist der erste Tag der Frühlingsferien. Menschen verschiedenster Herkunft nerven sich über die langsame Sicherheitskontrolle. Die Luft im Eingangsbereich des Duty-Free-Shop stinkt gleichermassen nach Parfum und dem Schweiss der Reisenden. Natürlich fliegt mein Flugzeug am hinterletzten Gate, doch da ich – für mich komplett untypisch – sogar etwas früh dran bin, kann ich, in meiner Gedankenwelt schlendernd, erste Bilder davon basteln, was mich in meiner Destination erwarten wird.

Von vier Uhr früh bis kurz nach Sieben

Der Flug dauert gut zwei Stunden. Endlich von der Maskenpflicht befreit, trete ich hinaus in die marokkanische Abendsonne, welche die Szenerie in mattgelbes Licht taucht. Mir stehen knapp zehn Tage zur Verfügung um Bekanntschaft mit dieser Kultur zu schliessen. Meine Reise fällt in eine Zeit, in der die Hauptreligion des Landes, der Islam, noch präsenter ist als sonst: Es ist Ramadan.

Zum ersten Mal deutlich wird dies im Taxi zu meinem Hotel in Marrakesch. Autos und Motorräder kurven und überholen, die mir bekannten Verkehrsregeln ignorierend, im dichten Abendverkehr Richtung Zentrum.

Ftour, zu Deutsch «Fastenbrechen», ist der wichtigste Moment des Tages.

Dass dieser waghalsige Fahrstil gerade um diese Zeit, kurz vor neunzehn Uhr, Hochkonjunktur hat, habe damit zu tun, so erklärt mir der Taxifahrer, dass der Moment des ftour bald beginne. Ftour, zu Deutsch «Fastenbrechen», ist der wichtigste Moment des Tages, an dem alle – möglichst im Kreise ihrer Liebsten – das erste Mahl des Tages zu sich nehmen.

Dabei ist es wichtig, möglichst im Moment des Sonnenuntergangs mit dem Fasten zu brechen. Das Fasten beginnt bereits um vier Uhr früh; daher sind die meisten Leute sehr bestrebt, pünktlich wieder einen Schluck Wasser zu sich zu nehmen.

Bald werde ich aber merken, dass Ramadan abgesehen von der jeweils spürbaren Hektik kurz vor sieben ziemlich viel Ruhe in die marokkanische Gesellschaft, in die Gassen des sonst so brummenden und vollgestopften souk in Marrakesch bringt.

Von Schokoladenkuchen und Ziegenköpfen

Die ersten Tage verbringe ich in Marrakesch. Die bei uns wohl bekannteste Stadt ist weder Hauptstadt noch bei den Einheimischen besonders beliebt. In der medina, der Altstadt, setzen die Menschen «nach» Corona wieder auf den Tourismus. Die Gassen haben viel Buntes und Spannendes zu bieten. In der Hauptstrasse, die vom souk, dem Markt, bis zum Hauptplatz Jeema el-Fna in der medina führt, sind die Geschäfte gepflegt und die Waren säuberlich aufgestapelt.

Als ich am zweiten Tag die Hauptstrasse in meinem Viertel in die andere Richtung losmarschiere, brav gekleidet in einem bodenlangen Rock und langärmligen Hemd, weht mir schon nach hundert Metern ein Geruchskarussell von Brot, Gewürzen, Javelwasser und Staub entgegen.

Foto: Lisa Linder

Plötzlich findet sich neben dem Schaufenster des Damenkleidergeschäfts, das mit Kopftüchern in allen Farben tapeziert ist, eine Vitrine mit Süssigkeiten aus Kinderträumen. Der Schokoladenkuchen neben dem mit Sahne gefüllten Berliner ist grösser als meine Faust. Im nächsten Eingang werden Gemüse und Früchte feilgeboten, daneben Hausschuhe aus Kamelleder.

Hier bin ich die einzige Frau ohne Kopftuch. Ich merke, wie mir die Blicke der Menschen, von Männern wie Frauen, ungewohnt ungehemmt zugewandt werden. Als mir durch die schmierige Vitrine einer Metzgerei vier abgehackte Ziegenköpfe entgegengrinsen, wird mir etwas mulmig.

Auf dem Rückweg freue ich mich aber, doch noch einen authentischeren Eindruck der Stadt gewonnen zu haben als auf dem grossen souk, der vor allem Mini-Moscheen als Kühl-schrankmagnete, überteuerte lederne babuschs – Hausschuhe – und «orientalische» Pluderhosen für Tourist*innen anbietet.

Von traditionellen Alarmen und alarmierenden Traditionen

Nach vier Tagen trifft meine Freundin aus der Schweiz ein. Gemeinsam reisen wir mit dem Bus weiter nach Essouira. Die kleine windige Küstenstadt am Atlantik ist bekannt für die Fischerei und als Wahlheimat westeuropäischer Pensionär*innen, vorwiegend aus Frankreich, welche hier ihr tägliches Couscous bei Chez Omar geniessen.

Plötzlich geht ein schriller Alarm los, der vom Wind über die ganze Stadt getragen wird.

Dazu gehört auch unser AirBnB-Host, auf dessen Dachterrasse wir am ersten Abend den Sonnenuntergang geniessen. Plötzlich geht ein schriller Alarm los, der vom Wind über die ganze Stadt getragen wird. Erst nach ein paar Sekunden dämmert uns, dass dies die hier gängige charmante Art ist, das Fastenbrechen einzuläuten.

Wir sind aber nicht nur für Dachterrassen und den tatsächlich besten Couscous der Region nach Essouira gekommen. Wir haben hier auch eine besondere Verabredung. Am nächsten Morgen stehen wir zeitig auf und machen uns auf in die Neustadt zum Verein Bayti. Der Eingang ist eine einfache Tür, hinter der ein dunkles mit marokkanischen Kacheln dekoriertes Treppenhaus beginnt.

Wir stehen nun im ersten Stock des örtlichen Hauptsitzes des Vereins, vor der Tür des Koordinationsbüros. Ein Mann telefoniert in einem kleinen Raum voller alter PCs; das Informatikzimmer, wie wir später erfahren werden. Er redet schnell und aufgeregt, nickt uns aber freundlich zu. Die Kommunikation mit dem Verein war verwirrend, über drei Ecken und per Whats-App. Daher wissen wir nicht genau, wen wir suchen und wer uns erwartet.

Oft waren die Kinder in Strassengeschäfte oder kleinere kriminelle Delikte wie den Tabakhandel verwickelt gewesen.

Im Büro stehen zwei Frauen, eine in traditioneller Kleidung mit Kopftuch und eine mit schwarzem Businessblazer und offenem Haar. Obwohl beide etwas überrascht über unser plötzliches Erscheinen sind, heissen sie uns herzlich willkommen. Als wir erwähnen, dass wir für ein Interview gekommen seien, bietet Nagète, die Frau mit Kopftuch, an, uns einige Fragen zu beantworten, solange Hassan Elkadiri, der Mann am Telefon und Koordinator des Vereins, noch beschäftigt ist.

Sie erzählt uns, dass sich der Verein Bayti seit seiner Gründung 1995 zur Aufgabe gemacht habe, sich um Kinder in schwierigen Lebenssituationen zu kümmern. Dabei lag das Hauptziel zu Beginn darin, etwas gegen das Elend der damals in Essaouira vielerorts anzutreffenden Strassenkinder zu unternehmen. Oft seien diese Kinder in Strassengeschäfte oder kleineren kriminellen Delikten wie den Tabakhandel verwickelt gewesen.

Der Verein Bayti leistet seit 1995 Sozialhilfe für Strassenkinder und mittellose Familien. Foto: Lisa Linder

«Meist waren es Kinder von alleinstehenden Müttern, welche als ‹uneheliche› Kinder aus Scham der Mütter nach der Geburt nirgendwo registriert wurden. Dies wird durch die noch immer gängige Hausgeburt im Kreise von Schwestern und Müttern erleichtert», meint Nagète. «Damit existierten die Kinder auf Papier nicht. Und wer auf dem Papier nicht existiert, darf auch nicht zur Schule gehen.» In Marokko ist Sexualkontakt ohne Ehevertrag noch heute ein Kriminaldelikt. Aussereheliche Kinder gelten rechtlich als nicht existent.

Von der Strasse ins Hamam, vom Hamam in die Schule

Hassan Elkadiri hat in der Zwischenzeit sein Telefonat beendet. Ersetzt sich hinter seinen Schreibtisch und steigt sogleich in das Gespräch ein. «Das Hauptziel der Organisation war es, die Kinder von der Strasse zu holen. Als erster Schritt hat man versucht, den Kindern ihren Eigenwert wiederzugeben.»

Dazu nutzten die Freiwilligen des Vereins, welcher damals noch keinen Hauptsitz hatte und daher «direkt auf der Strasse» arbeitete, wie es Hassan beschreibt, eine traditionelle marokkanische Institution: das Hamam. Die Helfer*innen hätten die Kinder auf der Strasse angesprochen und sie ins Hamam begleitet.

Dort sollten sie sich den Strassendreck vom Leibe waschen lassen. «Die Kinder schliefen teils in Mülltonnen, in Hinterhöfen im Dreck, sie stanken und hatten kein richtiges Körpergefühl mehr», beschreibt Elkadiri die Situation der Kinder.Nach dem Reinigen im Hamam, einer Prozedur, die wiederholt mit den Kindern angegangen wurde, habe der Verein versucht, die Kinder durch Sport weg von der Strasse zu locken.

Bayti ist für die Kinder wie ein Zuhause, der Aufenthaltsraum mit bunten Fliessen ihr zweites
Wohnzimmer. Foto: Lisa Linder

In Zusammenarbeit mit örtlichen Sportvereinen hätten sie ein Programm für die Kinder geschaffen, das sie wegbringt vom Alltag auf der Strasse und gleichzeitig zur Verbesserung ihres Körpergefühls beitrug. Elkadiri verbildlicht den Erfolg mit folgendem Kommentar: «Natürlich beendeten die Kinder ihr Herumstrolchen auf der Strasse nicht von heute auf morgen, aber es wurden immer wieder kleine Erfolge sichtbar. So schlief ein Kind, dass vorher in einer Mülltonne gehaust hatte, nach dem Hamam dann eher vor einer Bank oder Postfiliale.»

Ein weiteres Ziel des Vereins war es, die Kinder wieder in die Obhut von vertrauenswürdigen Erwachsenen, zum Beispiel zu Verwandten, zu begleiten. Der Verein selbst hatte in den ersten Jahren nach der Gründung 1995 keinen fixen Standort, geschweige denn ein Kinderheim. Ausserdem versuchte er, auf das Recht auf Bildung, auch für Kinder «ausserhalb des Gesetzes», aufmerksam zu machen.

Von Nichts zu stetigem Ringen um immerhin ein bisschen

Erst 1999 wurde die Arbeit des Vereins öffentlich anerkannt. Doch die Finanzierung bleibe die grösste Schwierigkeit, sagt der Koordinator Elkadiri. Dies habe nicht zuletzt damit zu tun, dass Marokko in den Augen der UNO im Vergleich zu den Nachbarländern ein wohlhabendes Land sei. Die Gelder müssen deshalb immer noch hart erkämpft werden. Dazu hatte der Verein auch schon mit dem Schweizerischen Christlichen Friedensdienst zusammengearbeitet.

Unterstützung durch den Staat zu erhalten, sei sehr schwer. Dieser erkenne die Probleme nicht, obwohl er doch nach Elkadiris Meinung der erste Gewinner bei der Verbesserung lokaler sozialer Verhältnisse sei. Von nichts zu stetigem Ringen um immerhin ein bisschen: Nagète, Asma, die Frau im Blazer und der Koordinator sind neben der Köchin im Haus die einzigen offiziell Angestellten des Vereins. Alle anderen Helfer*innen leisten ihren Beitrag freiwillig. Daher sei es auch immer schwierig, das Angebot und die Ressourcen des Vereins zu planen, erklärt Elkadiri.

Hassan Elkadiri ist Koordinationsleiter von Bayti in Essouria und einer der vier Festangestellten vor Ort. Foto: Lisa Linder

Der Verein hat immer mindestens eine*n deutsche*n Freiwillige*n, welche*r im Rahmen des in Deutschland gängigen Sozialen Jahrs, das meist als Zwischenjahr nach dem Abitur absolviert wird, für ein Jahr nach Essaouira kommt und bei Bayti arbeitet.

Diese Unterstützung sei für den Verein von grossem Wert, so Elkadiri, und die jungen Menschen brächten immer viel Motivation und Initiative mit. Im Gegensatz zur Grossstadt Casablanca, wo der Verein Bayti seinen Hauptsitz hat, ist das Strassenkinderelend in Essaouira glücklicherweise eine Seltenheit geworden.

Darum geht es heute mehr um die Prävention. Gefährdete Kinder werden von Lehrern, Verwandten oder sogar den eigenen Müttern beim Verein gemeldet. Diese Kinder und ihre Familien erhalten vom Verein teils finanzielle Unterstützung, meist aber vor allem Rechtsschutzbegleitung, Familienbegleitung und Hilfe bei der Arbeitssuche.

Das Haus ist ein Zufluchtsort für Kinder geworden.

Nach dem Gespräch mit dem Koordinator dürfen wir uns im gesamten Haus umschauen. Eigentlich ist es eine Tagesstätte, in der der Verein heute sein lokales Büro hat. Sie verfügt über einen Aufenthaltsraum, ein Informatikzimmer und ein winziges Klassenzimmer, in dem sich die Pulte eng aneinander quetschen.

Das Haus ist ein Zufluchtsort für Kinder geworden. Hier machen sie nach der Schule Hausaufgaben, spielen Spiele und erhalten Nachhilfeunterricht von freiwilligen Helfer*innen, oft Expats. Auch eine winzig kleine Küche hat das Haus, in der die femme de ménage täglich für circa fünfzig Personen Mittagessen kocht (ausser während Ramadan). In einer engen Gerümpelkammer stapeln sich Spiele und Bastelmaterialien für die Kinder bis zur Decke. Alles in dem Haus ist eng, doch das Kinderlachen schallt durch das schmale, buntgekachelte Treppenhaus in alle Räume.

France, eine pensionierte Französin, die wir bei der Hausbesichtigung auf der Treppe treffen, erklärt uns, die Kinder in ihrem Französischnachhilfeunterricht seien unglaublich motiviert. Seit zehn Jahren komme sie nun schon hierher und schätze die familiäre Atmosphäre im Haus. Die Kinder, die gleich darauf von oben die Treppe herunterpoltern, begrüssen France jeweils mit einer Umarmung und lassen sich von ihr übers Haar streichen oder auf die Stirn küssen. Das Leben hier in Marokko sei für viele Familien sehr schwer, auch wenn Marokko international kaum als Sorgenkind angesehen sei, meint France.

Zuletzt sprechen wir noch mit Yassir und Amale, beide kommen in die Tagesstätte für Nachhilfeunterricht. Es sei toll hier, meint Yassir. Er sei im ersten Jahr des Gymnasiums und er komme hierher, um sich besser auf diePrüfungen vorzubereiten. Auch die Neuntklässlerin Amale mag das Umfeld. Die Kinder aus der Nachhilfegruppe seien ihre Freund*innen geworden.

Freiwillige von dort und hier

Schliesslich verabschieden wir uns von den Kindern und treten wieder hinaus in die Sonne. Der Verein scheint bereits viel erreicht zu haben, doch der Weg bleibt steinig. Das Projekt lebt von der tapferen Energie der lediglich vier offiziell Angestellten und der freiwilligen Helfer*innen. Einer dieser unbezahlten Helfer ist Momo. Er ist dreissig und arbeitet als Surflehrer und Touristenführer in Essaouira.

In seiner Freizeit geht er regelmässig bei Bayti vorbei und unternimmt etwas mit den Kindern. Beispielsweise geht er mit ihnen an den Strand Fussballspielen oder organisiert einen Ausflug. Momo weiss, dass es viele Kinder in Marokko nicht einfach haben und Bayti für sie ein zweites Zuhause ist.

Kinder spielen in ihrer Mittagspause im Aufenthaltsraum bei Bayti und tauschen sich aus. Foto: Lisa Linder

Die Schweizer Studentin Jasmine war vergangenen Winter ebenfalls vor Ort und übernahm spontan Hausaufgabenhilfe. Einen Vorfall beschreibt sie als sehr schwierig: «Als ein schüchterner Junge eines Morgens mit violetten Wangen zu Bayti kam, antwortete er auf die Frage, wer ihm dies angetan habe, mit leiser Stimme: Mein Vater. Fassungslos standen wir alle daneben, aber so richtig reagiert hat niemand. Dies war so ein Moment, wo ich merkte, wie hilflos ich eigentlich war. In Marokko gibt es keine KESB.»

Der Einsatz sei aber insgesamt sehr bereichernd gewesen. Nur die Kopfläuse, die sie danach mit nach Hause gebracht habe, hätten nicht unbedingt sein müssen.

Casablancas verwelkte Blüte

Vier Tage verbrachten wir in Essaouira. Nun fahren wir mit dem Bus zurück nach Marrakesch,dann mit dem Zug nach Casablanca. Während der gut sechsstündigen Reise ziehen am Fenster staubige Landschaften vorbei. Das einzige Grün, das wir sehen, sind vereinzelte Sträucher, die der heissen Sonne trotzen.

Die Häuser sind gross, der Verkehr dicht, laut und ziemlich aggressiv – das Leben in Casablanca ist hektisch.

Schon auf der Taxifahrt zum Hotel wird klar, dass diese Stadt nicht für ihren Charme berühmt sein kann. Die Häuser sind gross, der Verkehr dicht, laut und ziemlich aggressiv – das Leben in Casablanca ist hektisch. Nach der Ankunft beschliessen wir, zur Moschee Hassan II, dem Wahrzeichen der Stadt, zu laufen.

Eine gute Stunde dauert der Weg vom Parc de la Ligue Arabe in der Nähe unseres Hotels bis ans Meer zum Gotteshaus mit dem zweithöchsten Minarett der Welt. Der Markt in der medina wuselt, doch Touristinnen scheinen wir fast die einzigen zu sein. Die Häuser der medina sind heruntergekommen.

Anders als in Marrakesch wird kein sauberer Schein gewahrt für Besucher*innen aus dem Westen. In der Neustadt trotzen alte Prachtbauten dem Zerfall. Die Räume hinter den Fenstern scheinen oft leer und ihre braun gefleckten Fassaden nehmen ihnen ihre letzte Würde.

Casablanca war bereits während dem französischen Protektorat in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts zum Wirtschaftszentrum ausgebaut worden. Seither scheint die Stadt kaum durch stadtplanerische Gesamtpläne am Wachstum gehindert und schon gar nicht ästhetisiert worden zu sein.

Von gruseligen Gassen und Türen

Die letzte Destination, die wir bereisen wollen, ist Fès. Die erste marokkanische Königsstadt mit der ältesten medina des Landes wird sich für uns noch als mind game herausstellen. Wir betreten die Altstadt durch das Bab Boujeloud, das blaue Tor. Auf den ersten Metern scheint hier noch alles ganz ungefährlich und austauschbar mit den Gassen der medina Marrakeschs. Nach einiger Zeit merken wir jedoch, wie jede Gasse, die von der Hauptstrasse abgeht, ziemlich unfreundlich ausschaut. Sie sind sehr eng und teilweise überdacht, so dass sich der Blick im Dunkeln verliert.

Wir haben uns für die Nacht noch keine Unterkunft organisiert und sind mit der Absicht gekommen, vor Ort Ausschau nach etwas Nettem zu halten. Zwischen dem ganzen Krims und Krams der Läden können wir aber weder Hauseingänge noch offizielle Anschriften ausmachen. Schliesslich schauen wir auf der Offline-Karte nach und entscheiden uns für ein Gasthaus, welches anscheinend in der Nähe liegt.

Der Kamelkopf hängt an einem Eisenhanken mitten auf dem Markt rum,
Verwendungszeck bleibt unklar. Foto: Lisa Linder

Meine Freundin zuckt mit den Schultern und biegt in einen engen Durchgang ein, der von der Hauptgasse abgeht. Ich folge ihr. Die Gasse ist superschmal und führt ohne jegliche Nebengassen an gruseligen, heruntergekommenen Hauseingängen vorbei. Nach drei Kurven stehen wir vor einer grossen blauen Tür. «Soll ich klopfen?», fragt meine Freundin.

Der Eisenring klingt hell in der Gasse wider. Wir warten. Als nichts passiert, klopfen wir nochmals. «J’arriiiiiiiive», ruft es hinter der Tür hervor. Kurz darauf öffnet eine Frau mittleren Alters die kleine Pforte der Tür und winkt uns hinein. Wir klettern geduckt ins Haus, in dem uns ein grosser, heller Innenhof empfängt. Die Frau stellt sich als Amina vor. Wir haben Glück, für diese Nacht ist noch ein Zimmer frei.

Amina murmelt auch etwas von einer Dachterrasse. Sie steigt die steile, enge Treppe empor und bedeutet uns, ihr zu folgen. Und jetzt kommts, das Credo, welches ich für alle Reisenden in Marokko beliebt machen will: Beurteile ein marokkanisches Haus nie nach seinem Eingang, wenn du die Dachterrasse noch nicht kennst. Diese verlassene, schäbige blaue Tür hatte uns doch tatsächlich den Zugang zum besten Blick über die gesamte medina von Fès gewährt!

Beurteile ein marokkanisches Haus nie nach seinem Eingang, wenn du die Dachterrasse noch nicht kennst.

Am nächsten Tag erkunden wir die Altstadt mit einem offiziellen Stadtführer, ohne den wir komplett verloren gegangen wären. Er führt uns so gezielt durch die schmutzigen Gassen, dass uns nach den vielen Farben der Wollfärbereien, dem Gestank von frisch gegerbtem Leder und dem abgetrennten Kamelkopf, der wie selbstverständlich vor einer Metzgerei in der Gasse aufgehängt ist, der Kopf schwirrt.

Auf dem Rückweg zum Bab Boujeloud, dem prächtigen Eingang der Altstadt, rennen uns plötzlich viele Schulkinder entgegen. Es ist gerade Schulschluss und die Kinder springen rufend und lachend durch die Gassen, nach Hause zu ihren eigenen kleinen Dachterrassenparadiesen. Strassenkinder gibt es glücklicherweise auch in Fès kaum noch.

Von Geisterstunden und Schlaraffenländern

Nun ist bereits der letzte Tag vor unserer Abreise angebrochen. Auf Instagram erzählen mir Bilder von den überfüllten Frühstückstischen meiner Bekannten vom vergangenen Osterwochenende. Wir ernähren uns hier gefühlt von Brot und Zuckergebäcken. Wegen Ramadan gebe es kaum frische Früchte, meint die Dame beim Frühstücksbuffet im Hotel.

Ramadan wird im Internet auch mit der christlichen Weihnachtszeit verglichen. Eine Zeit der Besinnung, hingegen nicht die Zeit der unkontrollierten täglichen Plätzchenvernichtung, wie sie in meiner Familie typisch ist. Es ist die Zeit des Verzichts. Klar lese ich auch, dass nach Sonnenuntergang dafür umso deftiger geschlemmt werde, doch davon bekommen wir noch kaum etwas mit.

Als wir in den Zug von Fès zurück nach Casablanca steigen, redet eine junge Frau nervös auf einen Kontrolleur ein, bis dieser abwinkt und sie einsteigen lässt. Offensichtlich gestresst hetzt sie zu ihrem Abteil. Unsere Plätze befinden sich ebenfalls dort. Der Zug fährt an und nach kurzer Zeit fragt sie mich auf Englisch nach einer Powerbank für ihr Handy. Ihr Ticket sei auf dem Handy und sie habe keinen Akku mehr.

In Casablanca müsse man genau wissen, wo es was zu finden gäbe.

Ich kann ihr leider nicht weiterhelfen, aber wir kommen ins Gespräch. Zeinab, so heisst die frisch gebackene Designerin und Kunstschaffende, hat einen kecken Kurzhaarschnitt, kein Kopftuch, Sommersprossen und eine runde, goldene Brille. Auf die Frage, was wir denn in Casablanca noch machen wollen, haben wir keine Antwort.

Die Stadt scheine uns eher unsympathisch und leblos, wir hätten wirklich keine Pläne für den letzten Abend. Zeinab lacht. In Casablanca müsse man genau wissen, wo es was zu finden gäbe. Ab da sprudelt es Tipps und Ideen aus ihr und sie schnappt sich direkt mein Handy, um mir auf Google verschiedene Orte zu zeigen. Darunter auch ein Restaurant unweit unseres Hotels, welches wir aufzusuchen beschliessen.

Kein einziges Auto weit und breit, nicht ein Mensch.

In Casablanca angekommen, machen wir uns um Viertel vor Sieben auf den Weg. Im Licht der Dämmerung gehen wir an der arabischen Nôtre Dame vorbei, die wie eine Science-Fiction Version ihrer Schwesterkirche in Paris dominant und beinahe Angst einflössend in den Himmel ragt.

Es ist ruhig auf der grossen Boulevardstrasse. Nein, nicht ruhig – es ist still. Kein einziges Auto weit und breit, nicht ein Mensch. Wir schlendern durch die grösste Stadt Marokkos, wo allein im Zentrumsviertel mehr als drei Millionen Menschen leben. Stille. Hätten wir die Stadt nicht auch schon zu einer anderen Tageszeit gesehen, man könnte meinen, die letzten Überlebenden nach der Apokalypse zu sein. Die Geisterstunde des Ramadans lässt die Millionenstadt stillstehen.

Eine Viertelstunde später finden wir endlich die Strasse, die Zeinab uns geschildert hat. Und siehe da, wir haben das Leben wiedergefunden. Ein typisches ftourRestaurant an der Ecke ist voll mit lachenden Menschen, die das All-you-can-eat-Buffet stürmen. Eine Band spielt. Wir werden an den letzten leeren Tisch gewiesen. Es ist jetzt neunzehn Uhr fünfundzwanzig.

Gleichzeitig mit uns kommt ein amerikanisches Touristenpaar, die vermutlich einzigen anderen Nicht-Moslems, ins Restaurant. Sie werden an unseren Tisch platziert. Als blutige Anfänger*innen holen wir uns vom Buffet erst mal einen Salat. Doch viel ist gute zehn Minuten später nicht mehr übrig.

Auf leeren Magen so viel essen, wie soll das gehen?

Das Buffet, welches von Sushi über Pizza, Spiesschen und traditionellen Tajines bis hin zu Hörnchen mit Speck alles zu bieten hatte, ist in diesen zwanzig Minuten seit Fastenbrechen leergeräumt worden. Nur die Beschriftungen am Tischrand zeugen vom einstigen Schlaraffenland. Beim Anblick der akrobatisch gestapelten Tellern auf den Tischen der Gäst*innen wird einem nicht nur vom bezeugten Foodwaste schlecht.

Als die Kellner merken, dass die Tourist*innen das Spiel nicht geschnallt hatten, bringen sie uns in aller guter Absicht zwanzig verschiedene Teller voller Speisen, welche sie wohl noch in der Küche zusammenkratzen konnten. Auf leeren Magen so viel essen, wie soll das gehen?

Aber die lokalen Gäst*innen können nicht nur essen, sie können kurz darauf auch sehr ausgelassen zu offenbar allbekannten Hits tanzen, welche die Band zum Besten gibt. Die Leute stehen auf, singen mit – so ausgelassen, wie es bei uns die meisten erst nach einigen alkoholischen Mutmachern vermögen. Hier trinkt man Wasser und Fruchtsaft.

Das ganze Restaurant ist ein Fest, wild wird getanzt und gelacht. Bis kurz vor einundzwanzig Uhr. Dann, wie nach einer inneren Uhr, packen die meisten Leute zusammen und machen sich auf den Heimweg. So viel Leben hätten wir in der zerfallenden Metropole nicht mehr erwartet. Mit geblähten Bäuchen und voller neuer Eindrücke aus diesen knapp zwei Wochen suchen wir unseren Weg zurück über die langsam wiederbelebten Strassen der Stadt.

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