Vermutlich sind wir alle rassistisch

Illustration: LIsa Linder

04. März 2022

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Über seine Zeit als Freiwilliger an der bosnisch-kroatischen Grenze mag unser Gastautor nicht schreiben. Stattdessen über das, was nachher kam. Ein Erfahrungsbericht über das Zurücksein in Bern.

Obwohl sich eigentlich nichts verändert hat, ist alles anders. Wir sitzen endlich wieder einmal zu viert am Familientisch. Mein Bruder stellt interessiert und eigentlich behutsam einige Fragen, auch die Eltern hören einigermassen gespannt zu. Ohne dass ich es geahnt hätte, breche ich in Tränen aus. Das ist ungewöhnlich. Noch viel mehr ist Weinen angemessen. Jemensch schlägt vor, vielleicht über ein anderes Thema zu reden. Ich schüttle den Kopf: Ich will die Frage unbedingt beantworten, warum ich an der bosnisch-kroatischen Grenze keine Frauen auf der Flucht angetroffen habe. Aber es gelingt mir zwischen Tränen und Luftschnappen kaum, verständliche Laute zu bilden.

Irgendwann empfehle ich statt einer ausführlichen Antwort den Bericht von Parwana Amiri «Meine Worte brechen eure Grenze – Briefe an die Welt aus Moria». Dieser Bericht – wenn auch aus Griechenland und nicht aus Bosnien – beschreibt das tragische Erleben von Menschen auf der Flucht sowieso besser, als ich es mir zusammenreimen und schildern kann.

Ich war nur sechs Wochen in Bosnien. Dort hat der Arbeitsalltag die Grausamkeit der Situation zur Normalität gemacht.

Erst hier in Bern wird mir nach und nach bewusst, wie absurd die Lebensumstände an der Grenze zu Europa sind. Immer wieder tauchen Erinnerungen auf, immer wieder sehe ich in ihnen neue Dimensionen, die ich vor Ort nicht erkannt hatte. Ich weine regelmässig. Vielleicht immer dann, wenn ich Emotionen zulasse und mich dem kalten, pragmatischen Schweizer*innengroove nicht anpasse.

Wie viel es zu Rassismus zu sagen gibt, kann ich als weisse Person vermutlich weder erfassen noch erklären.

Tatsächlich irritiert mich vieles am Alltag in Bern. Menschen sind beschäftigt mit ihren eigenen Leben und halten sich für mehr oder weniger zufrieden. Für mich kommt es leider – und zum Glück – nicht mehr in Frage, mich von den unangenehmen Seiten des Seins abzulenken und ein «gewöhnliches» Leben zu führen. Gefühlt unterscheidet mich das von vielen Mitmenschen: Ich empfinde sie als kalt, unempathisch und fremd. Besonders gross wird mein Unmut beispielsweise beim Sammeln von Unterschriften gegen die Finanzierung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.

Abgesehen von einigen Passierenden, die auf mich und meine Freund*innen zukommen und sofort unterschreiben, haben viele gerade Dringenderes zu tun. Haben Dringenderes zu tun, obwohl Organisationen wie das Border Violence Monitoring Network dokumentieren, wie Frontex systematisch Menschenrechtsverletzungen und illegale Pushbacks begeht.

Illustration: LIsa Linder

An der EU-Grenze werden Menschen geschlagen, ausgeraubt und verschleppt. Da drängt sich bei mir die Frage auf, wie es aussehen würde, wenn ich hier und jetzt der nächstbesten Person ihr Telefon und ihre Schuhe wegnehmen und sie irgendwo aussetzen würde. Vermutlich wären viele, die jetzt keine Zeit haben, dann doch der Meinung, solches Verhalten sei ein Problem – insbesondere wenn es durch Steuergelder finanziert wird.

Aber ja, Wut und Verzweiflung helfen weder Menschen auf der Flucht noch mir weiter. Trotzdem ist es oft schwierig für mich, nicht in solchen Gefühlen zu versinken. Dazu trägt bei, dass zwei Zusammenhänge für mich unbestreitbare Fakten sind. Erstens ist für mich klar, dass alle Steuerzahlenden schuldig sind, wenn sie sich nicht aktiv gegen menschenrechtswidrige behördliche Ausgaben wehren.

Nur durch eine Unterscheidung zwischen «uns» und «den Anderen» ausserhalb der Grenze ist eine Abwertung und ein derartiges Wegsehen denkbar.

Berner*innen, die das Verhalten von Frontex akzeptieren, sind somit meiner Meinung nach für die an der Grenze verübte Gewalt verantwortlich. Zweitens steht für mich fest, dass ein Ignorieren von solch drastischen Zuständen nur deshalb möglich ist, weil wir alle Rassismus von klein auf gelernt und verinnerlicht haben. Nur durch eine – oft unbewusste und extrem mächtige – Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ ausserhalb der Grenze, die einzig und allein daran erkennbar sind, dass sie nicht weiss sind, ist eine Abwertung und ein derartiges Wegsehen denkbar. Leider habe ich nicht den Eindruck, dass diese Zusammenhänge von einer Mehrheit mitgedacht werden.

Deshalb: Wut und Verzweiflung tauchen immer wieder auf. Ich will eine stillschweigende
Selbstfreisprechung von Verantwortung nicht akzeptieren. Unser Rassismus, genauso wie das Leiden und die Befindlichkeit anderer, gehen uns etwas an. Auch wenn diese ‚Anderen‘ Menschen sind, die nicht durch einen europäischen Pass privilegiert sind.

Illustration: LIsa Linder

Auch in Zukunft in irgendeiner Form regelmässig aktivistisch unterwegs zu sein, ist dementsprechend auf jeden Fall meine Absicht. Dabei ein gesundes Mass von Engagement und Abgrenzung zu finden, wird in den nächsten Wochen eine Herausforderung sein. Neben dieser wichtigen Arbeit nach aussen will ich mich aber unbedingt auch kritisch mit meinem eigenen Rassismus und meinen Privilegien beschäftigen.

Wie viel es zu diesem Thema tatsächlich zu sagen gibt, kann ich als weisse Person vermutlich weder erfassen noch erklären. Stattdessen werde ich – in einem ersten Schritt, der vielleicht oft unterschätzt wird – zu diesem Thema schweigen. Stattdessen bietet es sich an, denjenigen zuzuhören, die vom Thema eine echte Ahnung haben. Eine solche Person könnte beispielsweise Tupoka Ogette mit ihrem Buch ‚Exit Racism‘ sein. Die Stimmen sind auf jeden Fall da. Vielleicht müssen wir uns endlich zusammenreissen und die faule Gewohnheit überwinden, sie immer wieder zu überhören.

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gggg
11. März 2022 8:26

❤️ Danke für den Bericht, der traurig macht und gleichzeitig motiviert sich zu engagieren und gemeinsam hinzusehen – bei uns selbst – und da strukturell alles falsch läuft