Fast ein Jahr vertraglich verliebt
Schmetterlinge im Bauch gab es keine, Gefühle aber schon. Sie waren fast ein Jahr vertraglich verliebt: Jeanne und Mike.
Jeanne und Mike lieben sich nicht und haben sich nie geliebt. Trotzdem führten sie eine Beziehung.
Wieder eine Zeremonie, dieses Mal aber ohne Liebeschanson und Britney Spears. Mike und Jeanne sind zusammengekommen, um ihre Trennung formell zu beschliessen. Sie trägt ein Blumenkleid, er einen schwarzen Pullover. Auf dem Tisch in Jeannes Küche liegen zwei ausgedruckte Trennungsvereinbarungen. «Endlich hast du meinen Namen richtig geschrieben», sagt Mike und lacht. Er ist sichtlich erleichtert.
Knapp ein Jahr lang führten Jeanne und Mike eine Beziehung auf Vertragsbasis (siehe Artikel «Vertraglich verliebt» in der studizytig #23). Zuvor hatten sie sich nur zweimal kurz getroffen, um die Bedingungen des «Vertrags einer qualitätsvollen Liebesbeziehung» zu besprechen.
Bei der Idee handelt es sich um eine künstlerische Performance von Jeanne. Ein Spiel mit den sozialen Normen. Was bei vielen Paaren unausgesprochen galt, hielt Jeanne explizit und überspitzt im Vertrag fest. Sie wollte herausfinden, ob sich durch einen solchen Rahmen echte Gefühle erzeugen lassen – mit einem unbekannten Menschen.
Freiwilliger Zwang
«Es war ein anstrengendes Jahr», sagt Jeanne. Auch wenn sie beide freiwillig beschlossen hatten, die Regeln des Vertrages zu befolgen, wurden diese schnell zu einer Belastung. Unter anderem schrieb der Vertrag vor, dass sie viermal im Monat Geschlechtsverkehr haben mussten. «Mit der Zeit fügten wir eine Klausel hinzu, laut der es auch als sexuelle Handlung galt, wenn wir nackt nebeneinander schliefen.»
Schmetterlinge im Bauch gab es keine, Gefühle aber schon – glaubt Jeanne. Am ehesten beschreibt sie ihre Beziehung zu Mike als Vertrauensverhältnis. Dass sie weder denselben Freund*innenkreis hatten, noch dieselben Orte besuchten, habe geholfen, sich zu öffnen.
Ob die Gefühle wirklich mit Mike zu tun hatten, weiss Jeanne bis heute nicht. Einmal gestand er ihr, sie betrogen zu haben. Statt Eifersucht oder Schmerz zu empfinden, war Jeanne enttäuscht, dass er sich nicht an den Vertrag gehalten hatte.
Künstlerisches Interesse und Sensationsgier: Die Performance polarisierte und faszinierte.
Sie entschied sich, ihm eine Szene zu machen. «Je wütender ich mich gab, desto wütender wurde ich wirklich», sagt sie. Danach: einen Abend Funkstille, gefolgt von einer Paartherapie und einem Monat Pause. Geplant gewesen wären gemeinsame Ferien.
Zahlreiche Medien berichteten von dem Experiment. Ihre Erlebnisse teilte Jeanne auf Instagram. Über 4000 Personen folgen dem Account mit dem Namen «relation_amoureuse_de_qualité». «Es gab Leute, die sich aus künstlerischer Perspektive dafür interessierten, andere aus Sensationsgier», sagt Jeanne.
Viele fühlten sich verpflichtet, die Posts zu kommentieren und Stellung zu beziehen. Manche Leute schrieben Jeanne Nachrichten zu ihren eigenen Liebesgeschichten und Trennungen. Die Performance polarisierte und faszinierte.
Wenig gemeinsame Nenner
Wenn Mike auf die Erfahrung zurückblickt, spricht er von gemischten Gefühlen. «Ich war sehr frustriert mit dieser unnatürlichen Beziehung.» Als Grund nennt er Meinungsverschiedenheiten. «Mir wurde klar, dass ich mit einer Person mit solchen Ansichten keine Zeit mehr verbringen will.»
Auch Jeanne berichtet, dass manche Themen schnell vom Tisch waren. Sie führte das menschliche Verhalten vor allem auf soziale Normen zurück, er auf biologische Faktoren. Als sie ihr einjähriges Kennenlernen im Restaurant feiern wollten, kamen sie wieder darauf zu sprechen. «Wir haben uns angeschrien, ich habe bezahlt und bin gegangen», sagt Jeanne.
Am nächsten Tag – am 12. November 2021 – eröffnete Mike ihr, dass er das Experiment abbrechen will. «Ich glaube, ihm ging es schon vor dem Streit nicht gut», sagt Jeanne. Sie bedauert, ihn in diese Situation gebracht zu haben. Trotzdem hätte sie die Performance aus künstlerischem Interesse gerne zu Ende geführt.
Mittlerweile haben die beiden keinen Kontakt mehr – auch das eine Vorgabe des Vertrags.
In der Küche von Jeanne gehen sie gemeinsam Klausel 12.1.3 durch. Sie regelt detailliert die Trennung. Unter anderem schuldet Mike Jeanne über 300 Franken, weil er den Vertrag vorzeitig auflösen wollte. Ein letztes Mal bricht Mike zur Enttäuschung von Jeanne eine Regel. Er weigert sich, das Geld zu bezahlen.
Mittlerweile haben die beiden keinen Kontakt mehr – auch das eine Vorgabe des Vertrags. Entweder nach einem Jahr heiraten, oder sich nie mehr sehen. Antworten auf ihre Fragen haben weder Mike noch Jeanne erhalten.
«In Bezug auf Liebe habe ich in dieser Performance nichts gelernt», sagt Mike. Wenn überhaupt, sei er noch viel verwirrter als zuvor. Auch Jeanne hat mehr Fragen zum Thema Liebe als vor der Performance. Mit dem gesammelten Material – Tagebüchern, Nachrichten, Fotos und Kommentare – hat sie noch viel vor. Eine Beziehung in dieser Form gehört aber nicht mehr dazu.
Unter diesem Link kannst du die Anfänge des Beziehungs-Experiments nachlesen.