Die Stimme

Illustration: Lisa Linder

04. März 2022

Von

Eine Kurzgeschichte vom Rande der Stadt.

Ihm gegenüber sassen zwei junge Frauen, die begannen, ihre Cheeseburger Royal aus der braunen MacDonalds-Tüte auszupacken. Einen, zwei, drei, vier. Dann die Pommes, die sie einzeln mit ihren langen, schwarz und silber lackierten Fingernägeln aus dem Karton klaubten und in den Mund stopften. Kein anderes Geräusch war in der S-Bahn zu hören, nur das Rascheln des Papiers und das Schmatzen der beiden Mädchen. Der Geruch nach Fett und Salz schwappte zu Stefan herüber.

Als die Kleinere der beiden seinen Blick trotzig erwiderte, wandte er schnell den Kopf ab und starrte hinaus. Jetzt, im Winter, war es schon dunkel, wenn er seine Schicht antrat. Manchmal schneite es, dann blieben die Schneeflocken an den Scheiben der S-Bahn kleben oder wirbelten in den Fluss, der unter der hohen Bahnbrücke, über die sie fuhren, langsam dahinfloss. Meistens aber, wie heute, drückte die Nebeldecke auf das Flachland, wich das Grau des Tages dem Grau der Nacht.

Sie fuhren nun direkt auf den Bahnhof zu. Worblaufen. Auf einem der Bahnsteige stand ein magerer Tannenbaum, der im Fahrtwind der S-Bahnen zitterte und mit einigen flackernden Lichterketten geschmückt war. Dahinter erhob sich, zwischen den Gleisen nach Nordwesten und denen nach Nordosten, ein rostrotes Hochhaus, die Farbe bereits etwas verblichen. Nur noch in wenigen Fenstern brannte Licht. «Metrohaus» stand in grossen Lettern an der Frontseite des Hochhauses, obwohl die Stadt Bern, zu der sich der Vorortsbahnhof noch zählte, keine Metro besass und auch nie eine besitzen würde.

Die wenigsten verweilten hier länger als nötig.

Die S-Bahn fuhr ein. Er wusste, wie sie von oben aussahen, die orangen Waggons, die Leute, die klein und unbedeutend aus ihnen ausstiegen, abends so müde wie morgens. Er warf einen letzten Blick auf die beiden Mädchen, die bei ihrem zweiten Cheeseburger angelangt waren und nun lautstark darüber stritten, wer schon mehr von den Pommes gegessen hatte. Dann nahm er seinen Rucksack und stieg aus.

Draussen drang Stefan der Geruch nach Gülle in die Nase. Ein warmer Wind blies über die Bahnsteige und rüttelte am Tannenbaum. Die mit ihm ausgestiegenen Reisenden – eine Mutter mit ihren zwei Kindern, Laserschwerter in den Händen, ein älterer Mann an Stöcken und ein Jugendlicher in Adidas-Trainern – verschwanden schnell in der Unterführung.

Die wenigsten verweilten hier länger als nötig. Aber Stefan hatte es nicht eilig. Steckte sich eine Zigarette in den Mund, liess sie unschlüssig auf und ab wippen. Dann steckte er sie wieder weg. Noch fünf Minuten bis zu seiner Schicht. Es war Freitag. Morgen würde Mipps kommen. Beim Gedanken an ihn wurde es ihm eng um die Brust. Um das Wochenende freizuhalten, hatte er in den letzten Wochen so viele Nachtschichten wie möglich übernommen.

Vier Wochen war es her, dass Mipps ihn gefragt hatte, weshalb er eigentlich so wenig Zeit für ihn habe. Um sogleich mit leiser, entschuldigender Stimme anzufügen: «Mama sagt, du musst viel arbeiten.» Als würde er das natürlich verstehen. Stefan konnte sich genau vorstellen, wie sie Mipps mit ihrer beruhigenden Die-Welt-ist-gut-Stimme erklärte, weshalb er seinen Vater nur alle paar Wochen zu Gesicht bekam. Dabei stimmte das nicht einmal ansatzweise.

Stefan spürte, wie ihn die Wut überkam, stopfte die Zigarettenpackung zurück in seine Steppjacke und lief zum Eingang des Hochhauses. Die Glastür öffnete sich von allein. Drinnen war es ebenso kalt wie draussen, aber es roch nicht nach Gülle, sondern nach staubigen Teppichen und kaltem Schweiss. Neben dem Fahrstuhl begann das Treppenhaus. Seit er hier zu arbeiten begonnen hatte, nahm er nur noch die Treppe. Ausserdem würde es ihm guttun, sich kurz zu bewegen, die Wut rausschwitzen, bevor er die ganze Nacht am Bürotisch sitzend verbringen würde. Es waren neun Stockwerke. Stefan nahm jede Stufe mit Bedacht. Zufrieden stellte er fest, dass sie ihn nur noch leicht ausser Atem brachten.

Als er ins Büro eintrat, wartete Betti bereits hinter der Tür, in ihren schwarzen Lederhosen, die Tasche mit Leopardenmuster eng an sich gedrückt. «Hier bist du ja», sagte sie vorwurfsvoll. «Meine Schicht beginnt erst in einer Minute», antwortete er und drängte sich an ihr vorbei. «Du weisst genau, dass wir zehn Minuten früher da sein sollen.» Er warf seine Steppjacke auf den Schreibtisch, stellte seinen Rucksack neben dem Stuhl ab. «Nicht, dass ich etwas verpasst hätte, oder?», gab er gereizt zurück und nervte sich, dass Betti es jedes Mal schaffte, ihn aus der Ruhe zu bringen.

Sie hatte ihn von Anfang an nicht gemocht – schon, als er vor einem halben Jahr zum ersten Mal hier zur Tür hereingekommen war. «Es geht ums Prinzip», mit diesen Worten und ohne eine Antwort abzuwarten, schloss sie die Tür hinter sich. Stefan hörte, wie der Lift hochfuhr. Sollte sie doch steckenbleiben. Er liess einen Kaffee heraus, setzte sich auf den Bürostuhl und das Headset auf. Das Einzige, was er an diesem Job mochte, war der Ausblick. Aus dem Fenster sah man weit über Gleise, Busdepot und Recyclinghof hinweg, man thronte richtiggehend über den dahinterliegenden Feldern, der Kläranlage und dem Fluss, in dem manchmal die Fischer in ihren Gummistiefeln standen und der Kälte trotzten. Vielleicht würde er sich eines Tages selbst eine Angelrute kaufen. Stefan nahm einen Schluck Kaffee, verbrannte sich die Zunge.

Sollte sie doch steckenbleiben.

Der erste Anruf kam rein. Das ging ja schnell, dachte er sich und nahm ihn entgegen, bevor der nervtötende Klingelton lospiepsen konnte. «Guten Abend, Sie sind hier bei Zentrale Schober. Wie kann ich Ihnen helfen?» Am anderen Ende meldete sich eine ältere Frau. Im Hintergrund rauschte die Leitung. Sie klang verunsichert: «Hallo? Können Sie mir helfen? Hallo?» «Machen Sie sich keine Sorgen, ich kann Ihnen gleich helfen», antwortete Stefan und bemühte sich, gelassen zu klingen. «Ich stecke fest», nun sprach die Frau lauter, vielleicht hatte sie Angst, er könnte sie sonst – über das Rauschen der Leitung hinweg – nicht verstehen, «Schon seit zwanzig Minuten. Und niemand hört mich!»

Stefan korrigierte seinen Eindruck. Die Frau klang vielmehr empört denn verängstigt. Als wäre er persönlich schuld an ihrer Situation. «Ich schicke sofort unseren technischen Dienst vorbei», er warf einen Blick auf den Bildschirm, «Werkweg 23, stimmt das?» Die Frau bejahte und Stefan versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl aussah. Älter, rot gefärbte Haare, Katzenliebhaberin. Ehemalige Kettenraucherin, aber jetzt umgestiegen auf E-Zigaretten. Früher vielleicht einmal Schauspielerin gewesen. Oder Parfumverkäuferin. Für Mipps dachte er sich immer kleine Geschichten zu den Menschen aus, die ihn anriefen. Die Astronautin auf dem Weg zur Raumfahrtsmission. Ein Entfesselungskünstler, der sich selbst wieder aus dem Lift befreien konnte. Und letzten Monat ein Prinz, der im hauseigenen Schlosslift steckengeblieben sei. «Wissen Sie, in welchem Stockwerk Sie sich etwa befinden?», fragte er.

«Irgendwo zwischen dem dritten und vierten», gab sie zurück. Mipps hatte grosse Augen gemacht: «Ein echter Prinz hat dich angerufen?» Stefan tippte alle Informationen ein und schickte den Auftrag los. «Machen Sie sich keine Sorgen, in zwanzig Minuten ist jemand bei Ihnen», versicherte er ihr, «Und sonst rufen Sie einfach nochmals auf diese Nummer an.» Sie brummte etwas vor sich hin und legte auf. Stefan entspannte sich etwas. Kein schlechter Anfang.

Oft wurden die Anrufer richtiggehend panisch und schrien ins Telefon. Nachts schien die Möglichkeit näher, man könnte nun doch, entgegen aller Vernunft und Wahrscheinlichkeiten, einfach auf diesen zwei Quadratmetern steckenbleiben, niemand würde einen hören, die angsterfüllten Hilferufe, das laut pochende Herz, die röchelnden Laute, wenn man langsam verdurstete. Und er? Für ihn galt Regel Nummer eins: Immer höflich bleiben.

Illustration: Lisa Linder

Schon wieder wurde ein Anruf zugestellt. Stefan nahm rasch einen Schluck Kaffee und klickte auf «Anruf annehmen». Eine ruhige, bestimmte Männerstimme meldete sich: «Guten Abend. Bin ich hier richtig bei Schober?» Es war eine Stimme der Sorte, wie sie Stefan immer gerne gehabt hätte, intelligent, charismatisch, perfektes Sprechtempo, eine, die im gebügelten Hemd daherkam, mit einigen angenehm tiefen Basstönen zwischen den gut gesetzten Konsonanten, die Stimme eines Mannes, dem man gerne zuhörte, und den die Frauen gerne küssten.

Es hätte die Stimme eines Talkshowmoderators oder Nachrichtensprechers sein können, denn sie kam ihm bekannt vor, als hätte er sie irgendwo schon einmal gehört. «Sie sind hier richtig. Wie kann ich Ihnen helfen?» – «Nun – ich stecke in einem Lift fest, was sonst?», die gebügelte Stimme hatte allerdings einen leicht genervten Unterton. Immer höflich bleiben. «Ich werde gleich jemanden vorbeischicken. Wissen Sie in etwa, auf welchem Stock Sie sich befinden?» Entweder Talkshowmoderator oder Unternehmensberater, dachte Stefan, dunkelblond, breitschultrig, zurück aus New York von einer Konferenz oder geradewegs aus dem Studio, Feierabend. Mipps würde er sagen: Pilot. «Ich denke im ersten. Der Lift ist, kurz nachdem er losgefahren war, steckengeblieben.»

Abwesend tippte Stefan die Informationen ins System ein. Woher er die Stimme des Mannes wohl kennen konnte? Vielleicht war er auch ein bekannter Politiker. Oder Hörbuchsprecher. Einer von den Bären-Gutenachtgeschichten, die Mipps zurzeit so gerne mochte. Plötzlich stöhnte der Mann genervt auf: «Scheisse, das Licht…». «Alles in Ordnung?», Stefan ging nochmals kurz die Informationen durch, die er eingegeben hatte. Störung, Liftnummer, Adresse. Zuvor hatte er nur kurz darübergeschaut, aber nun blieb sein Blick an der Adresse hängen. Sandrain 8. Sein Hals war plötzlich sehr trocken.

Irgendwo am anderen Ende der Leitung, genauer, am Sandrain 8, erklärte die Stimme genervt: «Das Licht ist soeben auch noch ausgefallen.» Stefan antwortete nicht, starrte nur auf den Bildschirm. Mipps konnte sich die Adresse nie richtig merken. Strandrain, sagte er oft und verschluckte das R, sodass es tönte wie Standrain. Wenn das hiess, was es heissen könnte… Stefan spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoss, wie in ihm alles zu einem harten, winzigen Klumpen zusammengepresst wurde, sein Magen, sein Herz, seine Lunge, ein schwarzer, schmutziger Klumpen aus Hass und Scham und Wut. Die Sprachnachricht auf ihrem Handy, damals. Er hätte sie nicht anhören dürfen und er wusste bis heute nicht, was er schlimmer fand. Dass er ihr von Vornherein her nicht vertraut, oder dass er damit richtig gelegen hatte. Die Stimme in der Sprachnachricht hatte ihn auf der Stelle eifersüchtig gemacht. Sie klang intelligent, warm und war angenehm tief. Gebügelt. Und sie fragte nach der nächsten Gelegenheit für ein Treffen.

Er konnte nicht klar denken.

«Hören Sie mich noch?», die entnervte Stimme des Mannes holte Stefan aus seinen Gedanken zurück. Er zwang sich zu antworten. Immer höflich bleiben. «Ich höre Sie noch.» – «Nun ist auch noch das Licht ausgefallen. Ich sitze hier also im Stockdunkeln, es ist elf Uhr nachts und ich möchte nach Hause, haben Sie verstanden?» – «Selbstverständlich», sagte Stefan und versuchte, die Stimme am Telefon mit der Stimme in seinem Kopf abzugleichen. Wann bist du wieder ein Wochenende alleine zuhause? Wäre schön, dich bald wieder zu sehen.

Die Sekunden zogen sich in die Länge. Der Mann im Fahrstuhl schwieg und wartete auf eine Antwort. Wahrscheinlich dachte er, dass der Angestellte der Firma Schober furchtbar schwer von Begriff sein musste. Stefan wippte unruhig mit dem Fuss auf und ab. Er konnte nicht klar denken. «Einen Moment», sagte er noch, dann drückte er auf «Anruf beenden» und riss sich das Headset vom Kopf. Ihm war viel zu heiss. Schnell lief er zum Fenster und öffnete es. Gülle und Wind schlugen ihm entgegen.

Möglich, dass der Mann im Lift und der Mann damals nicht dieselben waren. Gut möglich sogar, dass er sich täuschte, dass die perfekt gebügelte Stimme ihn täuschte. Es gab sicherlich viele Menschen mit einer ähnlichen Stimme. Er liess das Fenster offen und durchquerte das Zimmer mit grossen Schritten. Frischer Kaffee. Der braune Saft rann dünnflüssig aus der Maschine. Genau genommen wusste Stefan nicht einmal, was aus dieser Affäre geworden war. Sie hatten nie darüber gesprochen. Und Mipps hatte er nie danach gefragt, ob es einen neuen gab, auch wenn er oft kurz davor gewesen war.

Er fluchte und liess den gefüllten Kaffeebecher stehen, wo er war. Ein Anruf wurde zugestellt. Reflexartig eilte Stefan zum Bürotisch, entschied sich dann doch anders, blieb vor dem Bildschirm stehen. «Sandrain 8» stand im Infokästchen, das zusammen mit dem Anruf wieder erschienen war. Er liess den Klingelton zehn Sekunden piepsen, dann drückte er auf «Anruf ablehnen». Sie hatten sich nicht sofort getrennt, damals. Sogar noch ein paar Mal miteinander geschlafen. Aber sie hatte keinen Laut von sich gegeben, als sie kam, nur verschämt zur Seite geschaut, unsicher, wo sie hingehörte, vielleicht, oder unsicher, was sie mit ihm anfangen sollte. Dann doch die Trennung, Scheidung vor dem Gericht, volles Programm. Sie, die das Sorgerecht für Mipps erhielt. Er, der seine frühere Stelle verlor.

Schon wieder das Piepsen. Er versuchte, sich Stimmen vorzustellen, Mipps Stimme oder auch ihre Stimme… hoch, undeutlich, kalt. Aber es gelang ihm nicht. Die Stimmen blieben nichts mehr als blosse Erinnerungen. Es piepste noch immer. Stefan setzte das Headset wieder auf und nahm den Anruf entgegen. Kurz knisterte die Leitung, dann fragte dieselbe gebügelte Stimme mit einem verwirrten Unterton: «Hallo?» Das Hallo dröhnte unangenehm laut ins Stefans Ohren. Immer höflich bleiben. «Guten Abend, entschuldigen Sie, wir hatten eine kleine Störung.» Es fiel ihm nicht schwer, zu lügen.

Er hörte sich selbst zu, wie er einem Fremden zuhören würde. «Aber ich schicke Ihnen gleich einen Techniker vorbei. Ist in zwanzig Minuten bei Ihnen.» Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Schickte nach einem kurzen Zögern die Informationen an den Technischen Dienst. Ging langsam zum Fenster und sah hinaus. Ihm war übel. Den faden Geschmack von billigem Käse im Mund. Sein Hals trocken. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm zwei Züge. Dann warf er sie hinunter und schaute ihr nach, wie sie neun Stockwerke fiel und fiel, bis sie im Dunkel der Tiefe fast verschwand, ein kleiner, glühender Punkt zwischen den Bahnschienen, der noch kurz glimmerte und dann erlosch.

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