Wenn Drachen aussterben

Lu versetzt die Spieler*innen in eine Situation, die sie bewältigen müssen. (Foto: Cyril Holtz)

14. Dezember 2021

Von und

Im Rollenspiel Dungeons and Dragons (DnD) geht es häufig um Kampf und Gewalt. Zu einseitig, findet die Berner DnD-Initiative. Sie sucht nach Wegen, das Spiel progressiver zu gestalten.

Ob eine Welt in Anlehnung an das antike Rom oder ein dystopisches Tokio in der Zukunft: Dem Spiel Dungeons and Dragons (DnD) sind kaum Grenzen gesetzt. «Du brauchst nur Würfel, Stift und Papier», erklärt Lu, Kulturschaffende und leidenschaftliche DnD-Spielerin. Das Rollenspiel lebt von der Vorstellungskraft der Teilnehmer*innen und ihrem Wunsch, eine Geschichte zu erzählen. Umso schwieriger, die wenigen Regeln und die vielen Möglichkeiten zu erklären.

«Als queere Person of Color fand sie sich in einem Raum mit neun weissen Männern und einem sexistischen Szenario wieder»

 

Lu ist Gründerin der DnD-Initiative, einer Web-Plattform für Spieler*innen und Interessierte im Raum Bern. Wir treffen Lu in der Brasserie Lorraine. Geduldig führt sie uns in die DnD-Welt ein und beantwortet unsere Fragen. Nach zwei Stunden verstehen wir vom Spiel ähnlich wenig wie zuvor und sind uns einig: zurück auf Feld eins. Lu verweist uns für mehr Informationen auf Youtube-Channels und ihren Spotify-Podcast und lädt uns zu einem DnD-Abend ein.

Fehlstart ins Abenteuer

Auf das Spiel, das in den 70er Jahren in den USA entstanden ist, wurde Lu beim Theater an der Uni aufmerksam. Ein Mitstudent lud sie zu einer Runde DnD ein, die aber ein schnelles Ende fand. Als queere Person of Color fand sie sich in einem Raum mit neun weissen Männern und einem sexistischen Szenario wieder. «Nach einer halben Stunde stand ich auf und ging». Langsam tastete sie sich aber an das Spiel heran.

Tablet und Smartphones sind das neue Pen und Paper. (Foto: Cyril Holtz)

 

Die meisten Geschichten und Szenarien interessieren Lu nicht – einem Drachen beispielsweise ist sie bisher nur einmal begegnet. Denn es geht auch anders. «Das Setting kann progressiv sein», erklärt sie. Statt von Drachen, Rittern und Kämpfen kann die Geschichte von einer friedfertigen Welt mit Charakteren auf der Suche nach einer eigenen Identität handeln. Wichtig sind gegenseitiges Vertrauen und Respekt. Das einzige, wofür sich DnD schlecht eigne, seien Liebesgeschichten.

Beyond DnD: Mehr als ein Spiel(eabend)

In der WG im Ostring herrscht muntere Stimmung. Alle haben Snacks und Getränke mitgebracht, als ob demnächst eine WG-Party steigen würde. Auf dem Tisch steht ein Lautsprecher. Lu checkt den Sound, es laufen «random viking tracks». Sie ist Spielleiterin und Geschichtenerzählerin und geht als erstes die Ereignisse des letzten Treffens durch – ein Kampf unter Wasser, zehn Gebote, ein brennendes Haus und schlafende Leute. Gleichzeitig klärt sie mit den Spieler*innen, in welcher Situation ihre Charaktere sich zuletzt befanden. Die Spieler*innen helfen mit ihren persönlichen Notizen mit, das Szenario zu rekonstruieren und aufleben zu lassen.

«DnD ist ein wenig wie strukturiertes Improtheater.»

 

Von Pen und Paper gibt es nur noch wenige Spuren. Sie wurden mehrheitlich durch Smartphones und Tablets ersetzt; die Spieler*innen halten das Geschehen und die Entwicklung ihrer Charaktere auf der Online-Plattform «D&D Beyond» fest. Da gibt es zum Beispiel Sarya, eine 16-jährige Elfin und Druidin, die gerne zur Schule geht; Ariana, ein Hobbit auf der Suche nach ihren Eltern, die Wächter eines Tempels waren; oder Lucky Paw, ein nicht-binäres Wesen, das in einer behüteten, pazifistischen Kommune aufgewachsen ist, aber mit einem Dolch durch die Welt wandert. Den Spieler*innen steht es völlig frei, die Geschichte sowie Stärken und Schwächen ihrer Charaktere am Anfang festzulegen.

«DnD hat viel mit Theater gemeinsam», sagt Lu. Aber im Unterschied dazu gibt es bei DnD keinen vorgegebenen Verlauf der Geschichte – fast ein wenig wie «strukturiertes Improtheater». Das läuft so ab: Die Leitungsperson, die sich das Szenario und ein Ziel für die Teilnehmer*innen ausgedacht hat, konfrontiert die Spieler*innen mit einer Situation – ein Ort, an dem sich die Gruppe befindet, Personen oder Wesen, die sich dort befinden, Situationen, die sich abspielen. Die Spieler*innen könnten sich zum Beispiel in einer grossen Stadt vor einem verlassenen, alten Haus wiederfinden, bei einer Oase in der weiten Wüste, oder auf einem fernen Planeten.

Die Spieler*innen verhandeln die nächsten Schritte. (Foto: Cyril Holtz)

 

Dann liegt der Ball bei den Spieler*innen. Jemand kann vorschlagen, durch das Fenster des verlassenen Hauses zu blicken, oder einfach hineinzugehen. Andere können sich dieser Handlung anschliessen, draussen warten oder im (fiktiven) Grundbuch nachschauen, wer zuletzt dort gewohnt hat. Wichtig ist, dass sie sich so verhalten, wie es ihr Charakter tun würde, und nicht so wie sie selbst. Ebenfalls wichtig: Kooperation. Das Team erkundet das Szenario gemeinsam.

«Die Leitungsperson ändert das Szenario: Plötzlich steht ein knurrender Hund vor dem Charakter.»

 

Die Leitungsperson legt für jede Handlung einen Zahlenwert fest und die Spieler*innen würfeln. Die Punktezahl – kombiniert mit Fähigkeitspunkten, die für eine Handlung hilfreich sein können – entscheiden darüber, ob die Handlung gelingt oder nicht. Möchte sich ein Charakter in das Haus schleichen und in einem alten Schrank ein Dokument holen, muss beispielsweise der Wert 15 erreicht werden. Würfelt die Person die Zahl 12 und verfügt über 8 Geschichklichkeits-punkte, hat sie Erfolg. Scheitert sie, ändert die Leitungsperson das Szenario: Dann steht etwa plötzlich ein knurrender Hund vor dem Charakter.

Die Würfelsammlungen der Spieler*innen sind bunt und beeindruckend – auch wenn sie nur einen einzelnen Würfel für das Spiel brauchen. Vor Spielbeginn werfen sie gespannt die unterschiedlichen Würfel. Jener Würfel, der wiederholt die gewünschte Zahl zeigt, ist der Glücksbringer des Tages und kommt zum Einsatz.

Plattform zur Vernetzung

Auf die Idee, eine webbasierte DnD-Initiative zu gründen, kam Lu während der Pandemie, als sich die Spielrunden ins Internet verlagerten. Lu liess sich dabei von internationalen Projekten inspirieren. Zentrales Anliegen der DnD-Initiative ist es, Spieler*innen im Raum Bern besser zu vernetzen. Mit dem Spotify-Podcast möchte Lu zudem zur Diversifizierung des Spiels beitragen.

«Auch queere Kampagnen, Stereotypen oder heteronormative Charaktere werden thematisiert.»

 

Mit unterschiedlichsten Gästen spricht sie darin über die Parallelen von Poetry Slam, Prosa und DnD, über Stil oder Kunst und Künstlichkeit im Spiel. Auch queere Kampagnen, Stereotypen oder heteronormative Charaktere werden thematisiert. Mit ihrer Idee gelangte sie Anfang 2021 unter anderem an die Gemeinde Köniz und die Burgergemeinde Bern, welche das Projekt mit Fördergeldern unterstützen.

Im Ostring sind Sarya, Ariana, Lucky Paw und ihre Weggenoss*innen bereit für das nächste Abenteuer. Als es losgeht, fühlt es sich an wie im Casino oder an einer Auktion. Würfel fallen, ein wildes Stimmengewirr erfüllt den Raum, Dramen spielen sich ab und Verhandlungen werden geführt. Am Tischende die Erzählerin, welche die Stränge zusammenhält, dem Geschehen ansonsten aber freien Lauf lässt. Niemand weiss, wie der Abend endet – was zählt, sind die Fantasie der Teilnehmer*innen und der Zufall.

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