Experte #26

Illustration Experte

Illustration: Tobias Bolliger, www.tobiasbolliger.ch

13. Dezember 2021

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Olaf (28) aus Olten fragt: Ich lebe nun schon einige Jahre in Olten, allmählich gefällt es mir hier. Erliege ich dem Stockholmsyndrom?

Lieber Olaf, hui! Da hast du einen unordentlichen psychogeografischen Salat angerichtet. Ich will dir aber gerne helfen, den Essig vom Batavia zu trennen. Lass mich dir dafür als kleines hors-d’œuvre eine Geschichte erzählen.

Als die schwedische Bankangestellte Kristin Enmark 1973 während eines Banküberfalls Opfer einer Geiselnahme wurde, bat sie um ein Gespräch mit Nils Bejerot, seines Zeichens Psychiater und Verhandlungsführer der Polizei. Enmark wollte sichergehen, nicht zum Kollateralschaden in der Strategie der Polizei zu werden. Bejerot schlug ihr Gesprächsangebot aus. Einer der Bankräuber hingegen versicherte ihr immer wieder, am Ende würde alles gut gehen. Dies führte dazu, dass Enmark den Eindruck gewann, den Bankräubern läge mehr an der Sicherheit der Bankangestellten als der Polizei. Als Enmark nach dem Überfall wiederholt Bejerots Vorgehen kritisierte, fand dieser die einzig logische Erklärung dafür: Die Frau muss sich zu den Bankräubern emotional oder sexuell angezogen gefühlt haben. Die Diagnose, die später als Stockholmsyndrom bekannt werden sollte, fällte er selbstverständlich ohne auch nur einmal mit der Betroffenen gesprochen zu haben.

Diese Geschichte lehrt uns, lieber Olaf, zwei Dinge: 1. Die Polizei gewichtet zu oft den Schutz von Eigentum und Kapital höher als den Schutz der Menschen. 2. Das angeschlagene Ego eines Mannes, der von einer Frau kritisiert wurde, ist eine denkbar schlechte Grundlage für eine psychologische Diagnose. So wird das Stockholmsyndrom bis heute von der Fachwelt nicht anerkannt. Es handelt sich vielmehr um eine, von Medien verbreitete, populärwissenschaftliche Diagnose.

Was uns zu deinem Problem bringt. Obwohl Olten beileibe nicht die schönste Stadt nördlich der Alpen ist, rührt ihr schlechter Ruf hauptsächlich von der Berichterstattung. Du fühlst dich vermutlich nicht emotional und hoffentlich nicht sexuell zu dieser Stadt hingezogen. Womöglich fühlst du dich da einfach aufgehobener als beispielsweise in Zürich oder Bern, wo sich hinter der rotgrünen Fassade oft die menschenfeindlichen Abgründe der Aufwertungspolitik auftun.

Mit küchenpsychologisierenden Grüssen
Dein Experte


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