Sexpositiv?

Praktisches Alltagswissen angewandt an der Kunststoffbanane. Foto: zvg

02. Oktober 2021

Von

Aus dem Sexualkundeunterricht wissen viele vor allem um die Geschlechtsorgane, Krankheiten und Prävention einer Schwangerschaft. Was zwischen dem ersten Kuss und dem Akt sonst noch alles liegt, und auch Platz haben darf, ist kaum ein Thema. Hemmungen über den Austausch zum Zwischendrin sind noch immer gross

«Wie sich Schmetterlinge küssen will ich wissen, will ich wissen… will ich wissen…», so beginnt die erste Strophe eines Primarschulliedes, welches vielleicht noch die eine oder der andere aus der Schulzeit kennt. Wie küssen sich denn Schmetterlinge? Respektive, was passiert da noch, bevor der Storch kommt? Aus Hollywoodfilmen kennt man die Geschichte ja eigentlich zur Genüge: (Attraktiver) Mann und (attraktive) Frau lernen sich kennen, meist durch einen «Zufall» – Zusammenstoss mit Büchern oder Kaffeebechern – es folgt peinliches Gestammel, eine unabsichtliche Berührung, tiefer Blickkontakt. Sie sehen sich wieder, auf ein Abendessen mit Kerzenlicht, und dann endlich der erste Kuss. Happy End.

Und was kommt danach? Gut, in den moderneren Filmen landen die beiden Hauptdarsteller*innen auch schon mal frühzeitig im Bett, gezeigt wird das flirtende Vorspiel, vielleicht hier und da ein bisschen nackte Haut überspielt mit fesselnder Musik. Dann Schnitt und wir sehen, wie sich die Darsteller*innen erschöpft in die Kopfkissen fallen lassen.

Was ist mit den peinlichen Momenten der Unsicherheit und Ungewissheit beim Akt? Wann oder wie wird gefragt, ob es für beide (wirklich) gut ist? Kurz gesagt: Wo bleibt das Zwischendrin? Das trügerische, viel zu einseitige Bild von Geschlechtsverkehr, das wohl in den meisten Köpfen unserer Gesellschaft existiert, ist eingebrannt, geprägt durch traditionelle gesellschaftliche Normen, oberflächlichen Sexual­kunde­unterricht und unehrliche Filmszenen.

Sexualkunde ist nicht obligatorisch

Der neu eingeführte Lehrplan 21 (LP21) beschreibt sich als neutral in Bezug auf Politik, Religionen und Konfessionen. Gleichzeitig soll ihm zufolge die Grundhaltung der Volksschule von christlichen, humanistischen und demokratischen Wertvorstellungen ausgehen.

Die Auseinandersetzung ist mit restlos eher negativen Stichworten umrahmt.

Gilt in westeuropäischen Ländern «christlich» folglich als «neutral»? Widerspricht sich diese Beschreibung nicht selbst? An der PH Bern ist die Auseinandersetzung mit Inhalten und der Didaktik der Sexualkunde ein Wahlfach, der Besuch also nicht obligatorisch und somit keine Voraussetzung für den Studienabschluss. Trotzdem fällt es einer Klassenlehrperson auf der Oberstufe mindestens einmal alle drei Jahre zu, die Schüler*innen in diesem Thema zu unterrichten.

Zu wenig Sexpositiv?

Eine angehende Lehrperson findet im Abschnitt des LP21 zu Beziehungen und Sexualität sehr formale, offene Beschreibungen der Kompetenzen. Schüler*innen sollen lernen, «Sexualität mit Partnerschaft, Liebe, Respekt, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung zu verbinden» und «sexuelle Orientierungen nichtdiskriminierend benennen zu können», wozu lediglich «Hetero- und Homosexuell» als Optionen genannt werden.

Natürlich steht es der Lehrperson frei, sich ausführlicher mit den Themen zu beschäftigen und weitere Aspekte zu behandeln. Der Lehrplan scheint jedoch nicht auf dem neuesten Stand der Sexualforschung zu sein und wichtige Aspekte wie die Vielfalt der Geschlechteridentitäten und sexuellen Orientierungen auszublenden.

«Verhaltensweisen und ihre Auswirkungen im Bereich Sexualität kritisch beurteilen können» wird erst als letzte Kompetenz genannt. Sie kann im Unterrichtsplan also später erarbeitet werden. Hinzu kommt, dass die Stichwörter unter dieser Kompetenz ausschliesslich negativ behaftet sind: Risiken, Übergriffe, Missbrauch, Pornographie, Promiskuität, Prostitution. Diese Beschreibung vermittelt, dass es nicht um die positiven Aspekte und Erlebnisse des Sexuallebens gehen soll, sondern um die Gefahren und gesellschaftlichen Tabus.

Gefährliches Halbwissen

Eine Enthemmung gegenüber dem Thema passiere heute aber bereits öfter durch die Jugendlichen selbst, welche offener Fragen zu Homosexualität, Lust oder Schwangerschaftsabbruch stellen würden als früher, erklärt Dorette Fischer, langjährige Oberstufen­lehrerin. «Bei den Mädchen stelle ich fest, dass sie über Verhütungsmittel besser informiert sind.

Es ist aber nach wie vor viel Halbwissen im Umlauf», meint sie weiter. Gerade dieses Halbwissen sei gefährlich, weshalb der Sexualkundeunterricht ihrer Meinung nach nicht allein den Familien überlassen werden darf. Fischer bildet sich selbstständig weiter, um den Unterricht auf dem neusten Stand zu halten. Letztens habe sie von einem 3D-Vulva-Modell erfahren, dies wolle sie sicher für die Schule bestellen.

Obligatorisch ist der Sexualkundeunterricht jedoch noch immer nicht. Dispensation ist möglich, dies stigmatisiere diese Jugendlichen in der Klasse und ebendiese würden dann in der Regel auch zu Hause nicht aufgeklärt. Einzig von der Gesundheitsförderung, welche die Aufklärung zur Aids-Prävention beinhaltet, können die Jugendlichen nicht dispensiert werden. «Juristisch gesehen darf man sein Kind nicht davor bewahren, sich vor einer tödlichen Krankheit zu schützen», so Fischer.

In einer Onlineumfrage der bärner studizytig wurde die Gehemmtheit im Sexualkundeunterricht stark bemängelt. Von den 117 teilnehmenden Personen gaben rund 55% an, sich von der Sexualkunde in der Schule zu wenig auf ihr erstes Mal vorbereitet gefühlt zu haben. Die meisten (73%) gaben an, dass sie weitere Informationen zum Thema vor allem von gleichaltrigen Freunden oder aus Zeitschriften (60%) bekamen.

Sogar der berühmt berüchtigte «Dr. Sommer» ergatterte in der Umfrage seine Creditpoints. Die nächste Ansprechperson war dann die eigene Mutter oder der eigene Vater. Dass sexuelle Aufklärung auch als Erziehungsaufgabe der Eltern angesehen werden kann, ist ein verständliches Argument, doch es widerspricht der Chancengleichheit und dem Recht auf ausführliche Information.

Dass ungefähr ein Viertel «Spielfilme» und nicht weniger als ein Fünftel der Befragten «Pornos» als Haupt­informationsquelle angaben, widerspiegelt die ernüchternde Qualität des Aufklärungsunterrichts der Befragten. Schliesslich entsprechen diese Produkte kaum je der Wahrheit, sind meist komplett überzeichnet, und wecken oft falsche Erwartungen.

Befragte wünschen mehr Austausch

Die Umfrage ergab ebenfalls, dass sich fast 80% der Befragten auch heute noch über die Themen Sex und Sexualität informieren, und einige wenige (4.3%) zugaben, sich eigentlich mehr informieren zu wollen.

Als Antwort auf die Frage: «Welche Inputs, Hilfestellungen, zwischenmenschliche Gespräche würdest du dir wünschen, um über Sexualität zu reden?» gab es sehr ausführliche Reaktionen. Eine Befragte stellte dabei die Idee in den Raum, sich gerne in einem Safe-Space auszutauschen, nicht notwendigerweise mit Expert*innen, aber gerne mit fremden Menschen, zu welchen man genug Distanz hat.

Distanz kann folglich wohl hemmend als auch enthemmend wirken. Ob die Lehrperson, welche in der nächsten Stunde den Französischtest verteilt, die jeweils richtige Distanz bietet, ist fragwürdig. Sollte der Sexualkundeunterricht vielleicht besser aus der Verantwortung der Lehrpersonen gestrichen werden?

Achtung Liebe

«Achtung Liebe», eine Non-Profit-­Organisation von Studierenden, bietet den Lehrpersonen mit einem Aufklärungs-Workshopangebot die Möglichkeit, fachlich informierte, auswärtige Personen, meistens Medizinstudierende, zu engagieren. Die Organisation strebt eine zeitgemässe und altersgerechte Sexualaufklärung an, die neben den harten Fakten auch die zwischenmenschlichen Aspekte (z. B. Emotionen, Beziehung, Kommunikation) von Sexualität diskutieren will.

Eines der Hauptargumente der Organisation ist die altersbedingte Nähe zu den Jugendlichen. Dadurch können sie eine andere Vertrauens­ebene erreichen. Eine Aufklärerin von «Achtung Liebe» erklärte der bärner studizytig, dass sich das Vorwissen spürbar je nach Schulstandort unterscheidet: «So ist eine Klasse im Langzeitgymnasium grundverschieden von einer 3. Sek C in einer ländlichen Gemeinde mit einer gesamthaft konservativen oder besonders orthodoxen Bevölkerung.

«Es gibt einen Röstigraben in Sachen Aufklärung.»

Auch wenn die Oberthemen (z. B. Anatomie, Verhütung, sexuelle Identität und Orientierung) meist dieselben sind, muss man an ganz anderen Punkten ansetzen.» Dies hinge schlussendlich auch mit den Gemeinden, Schulen oder gar einzelnen Lehrpersonen zusammen, die konkret über die Handhabung der Sexualaufklärung entscheiden.

Eine zweite Workshopleiterin meint weiter: «Es gibt auch einen klaren Röstigraben der Sexualaufklärung: Während in der Romandie die Einladung einer Fachperson fest in der Ausbildung verankert ist, entscheidet in der Deutschschweiz jede Schule – eigentlich jede Lehrperson – selbst, in welcher Form Sexualaufklärung stattfinden soll.» Es fehle also eine einheitliche Strategie und die Unterschiede seien entsprechend gross. «Dabei ist es leider noch immer so, dass viele Lehrpersonen zu wenig sensibilisiert sind, was Themen wie Geschlechteridentität und Sexualität an sich angeht», bedauert die Workshopleiterin. Oft scheitere es noch an der Sprache und dem Umgang mit vielen Alltagsthemen.

Auf der Seite der Schüler*innen sieht es da schon anders aus. «Oft stellen wir fest, dass rund um den Regenbogen schon sehr viel Wissen vorhanden ist», kommentiert Sara von «Achtung Liebe» gegenüber der bärner studizytig. Das Internet habe hier ebenfalls seine Vorbildfunktion als breite Informationsquelle erfüllt, wodurch kaum noch Kinder komplett ohne Vorwissen anzutreffen sind.

Gleichzeitig könne die breite Masse an möglichen Informationsquellen aber auch überwältigend und überfordernd sein. Schliesslich sei das Interesse in den Workshops jeweils beim «praktischen» Alltagswissen besonders gross. Ein Glück, findet sich im «Achtung-Liebe-Koffer» nebst ca. einem Kilo Plastikbananen und Femidomen auch eine Klitoris aus Silikon in Echtgrösse.

Schamlos!

Echtgrössen gab es auch vergangenen Juni auf der Leinwand im Frauenraum und im Kino der Reithalle Bern zu beobachten. An diesem queer-feministischen Pornographiefestival wurden Filme rund um das Thema Sexualität, Körper und Geschlecht gezeigt. Zwischen den Filmen gab es Workshops und Gespräche mit dem Publikum.

Als persönlichen Beweggrund für die Mitorganisation dieses Festival erzählt Kollektivmitglied Elena: «Ich habe den Sexualkundeunterricht so in Erinnerungen, das ich gelernt habe, wie das männliche und das weibliche Geschlechtsteil funktioniert und wie die Einzelteile heissen und wie ich als Frau oder Mann verhüten kann. Darüber gab es dann einen Test.» Die Motivation rührte dann auch daher, dem Missstand entgegenzutreten, dass es in Bern so etwas noch überhaupt nicht gab, während in Lausanne (Fête du slip) und Zürich (Porny Days) schon länger Filmevents zum Thema Lust Platz fanden.

Schülerinnen und Schüler der Oberstufe in der Diskussion über Körper und Geschlechterrollen. Foto: zvg

«Schamlos! sollte aber noch spezifischer sein und fernab von heteronormativer Pornographie. Normen spalten, Porno neu definieren und zeigen, was eigentlich schön ist», so Elena. Die Pornos in einem öffentlichen Raum zu zeigen, weit weg vom eigenen Sofa oder Schlafzimmer, soll Besucher*innen anregen, sich über Sexualität auszutauschen, darüber zu reden, was einem dabei wichtig ist, und neue Kommunikations(platt)-formen dafür zu schaffen. Konkret stellt sich das Kollektiv folgender Herausforderung: «Wie können wir Lust und Sexualitäten, Körper und Kommunikation neu verhandeln, damit wir uns darin wiederfinden und sich unser Publikum wohlfühlt?».

Kein Penetrationssex

Die weitere Absicht des Festivals ist es, mit der klassischen Porno-Spannungskurve zu brechen. Der Kurzfilm-Block «Beyond» zeigte, dass Orgasmen vielseitig sein können, oder gar nicht passieren müssen, um Lust zu (er-)leben. «Wir wollen zeigen, dass es auch schön und okay sein kann, wenn es nicht um einen linearen Ablauf geht – Vorspiel – Penetration – Orgasmus, sondern der Orgasmus in einem Film zuerst kommt oder nur Berührungen und Körper gezeigt werden. Teasing und Spielen, diese Zwischenräume versuchen wir zu zeigen und zu füllen», fasst Elena dies zusammen.

Mit dem Festival will das Kollektiv Anstösse liefern, um zu lernen, wie mit anderen Menschen gemeinsam oder mit Partner*innen über Sexualitäten, über Lüste und Unlüste kommuniziert werden kann.

Sexualkunde mit Statuen

Um unter Lust und Unlust etwas verstehen zu können, muss sich Mensch jedoch gewollt mit der eigenen Sexualität und sexuellen Wahrheit und Bedürfnissen auseinandersetzen.
Vielleicht erscheint dieses Fazit vielen als logisch, doch einfach zu erreichen ist es deshalb noch lange nicht.

Eine der befragten Personen in der Umfrage der bärner studizytig erzählte, dass ihr Sexualkundeunterricht daraus bestand, Bilder von Statuen zu betrachten, «da uns echte Abbildungen oder Zeichnungen zu sehr hätten verstören können». Damit sei schon von Anfang an vermittelt worden, dass alles, was mit Sexualität zu tun hat, verboten und toxisch sei.

Fast alle Befragten wünschen sich besonders Offenheit von ihren Sexualpartner*innen. Doch was bedeutet Offenheit? Sich auf Neues und Unbekanntes einzulassen? Dazu braucht es aber auch erst einmal die Idee, was dieses Neue denn sein könnte. Um auf solche Ideen zu kommen, muss man sich aktiv mit den Möglichkeiten auseinandersetzen, die einem selbst gefallen könnten, konkret: Die eigene Lust kennen. Aus dem meist eher technischen Sexualkundeunterricht weiss man vielleicht knapp, dass dieses Wort etwas mit Geschlechtsverkehr zu tun hat.

Wie zentral es jedoch für das positive Erlebnis dieses eigentlich natürlichen Akts ist, wird meist verschwiegen. Es ist privat, unschicklich, darüber zu sprechen, und ohnehin nicht generalisierbar. Doch was es genau ist, findet nicht heraus, wer nicht sucht. Oder in anderen Worten: Wer nicht wagt, der* nicht gewinnt! ⬩

1 1 vote
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich zu:
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments